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Von Jon Speelman
Ich möchte hier einen Blick in die Zukunft werfen und die Frage erörtern, welche Chancen Karjakin beim Weltmeisterschaftskampf gegen Carlsen hat, der im November in New York stattfinden soll. Doch vorher gestatten Sie mir bitte einen Exkurs über das, was Weltmeisterschaftskämpfe für die Spieler bedeuten.
Ich war bei zwei Weltmeisterschaften als Sekundant dabei und stand in vier Kandidatenwettkämpfen selber im Rampenlicht. Zugegeben, das ist schon lange her, aber ich erinnere mich noch gut an die allgegenwärtige und manchmal überwältigende Anspannung, das Chaos der Gefühle, das man versuchen muss, im Griff zu behalten und die schiere physische Belastung, die solche Wettkämpfe mit sich bringen.
Diese Wettkämpfe (und das betrifft auch die Kandidatenwettkämpfe) schlagen alles in ihren Bann, diktieren das eigene Leben schon Monate im Voraus, hämmern auf Körper und Geist ein, während man sie spielt, und haben Nachwirkungen, die Jahre oder Jahrzehnte andauern können.
Ein Beispiel liefert eine der berühmtesten Schlussstellungen der Schachgeschichte:
Als David Bronstein und Mikhail Botvinnik 1951 in Moskau um die Weltmeisterschaft spielten, lag Bronstein nach 22(!) und zwei Partien vor Schluss mit einem Punkt in Führung. In der 24. und letzten Partie des Wettkampfs hatte er Weiß, und wenn er die 23. Partie heil überstehen würde, dann hatte er sehr gute Chancen, Weltmeister zu werden.
Botvinnik war 1948 Weltmeister geworden, aber drei Jahre später hätte er den Titel fast wieder verloren.
Nach einem Bauernopfer Botvinniks kam es zu einem Endspiel, in dem Botvinnik mit seinem Läuferpaar gegen das gegnerische Springerpaar kämpfte. Dann begann der "Patriarch" des Sowjetschachs Bronstein zu "patriarchilisieren", so wie Carlsen seine Gegner heute einer "Magnus-Massage" unterzieht. Nach Wiederaufnahme der Hängepartie konnte Botvinnik seinen Vorteil weiter ausbauen und führte schließlich mit 57.Lg5 eine Zugzwangstellung herbei. In dieser Stellung dachte Bronstein 40 Minuten nach, dann gab er auf.
Die letzte Partie machte Botvinnik problemlos Remis, denn Bronstein
war durch die 23. Partie demoralisiert. Sie verfolgte ihn sein ganzes
Leben und noch drei oder vier Jahrzehnte später kam er in Unterhaltungen
immer wieder auf diese Partie zurück.
Vom Weltmeisterschaftskampf 1951 machen wir einen Sprung zur letzten Partie des vierten Wettkampfs zwischen Garry Kasparov und Anatoly Karpov. Im zweiten Wettkampf zwischen den beiden war Kasparov Weltmeister geworden, doch die letzte Partie des vierten Wettkampfs musste er gewinnen, um seinen Titel zu behalten. Er hielt die Spannung in der Partie aufrecht, indem er mit einem langsamen Reti-Aufbau eröffnete. Im weiteren Verlauf gewann er dann einen Bauern und die Partie wurde in der Diagrammstellung abgebrochen. Er verwandelte seinen Mehrbauern in einen Sieg und verteidigte den Titel. Die vielleicht interessanteste Lehre aus dieser Partie betrifft die Wahl der Eröffnung: Zurückhaltung kann den Gegner oft stärker unter Druck setzen als der Versuch, ihn im Hurrastil zu überrennen.
Hier wurde die Partie unterbrochen und Kasparov spielte den Abgabzug 42.Kg2.
Live-Aufnahme der Phase vor und während Kasparov seinen Abgabezug macht.
Die Wettkämpfe erfordern eine umfangreiche Vorbereitung, die schon Monate vorher beginnt und während des Wettkampfs immer weiter geht. Manchmal kommt es während der Partien zu kritischen Momenten, andere wiederum ereignen sich während der Planungen und Vorbereitungen.
Der berühmte Doppelfehler aus dem zweiten Weltmeisterschaftskampf zwischen Carlsen und Anand ist ein Beispiel für verpasste Chancen während der Partien. Nach Carlsens 26.Kd2?? dachte Anand eine Minute nach, und spielte dann 26...a4? und übersah 26...Sxe5!, was Carlsen gezwungen hätte, sich mit Zähnen und Klauen gegen die Niederlage zu wehren. Nach der Partiefortsetzung kam Carlsen jedoch später zu seinem zweiten Sieg im Wettkampf.
Im Video sieht man, wie Carlsen beim Aufschreiben seines Zugs zögert, als er seinen Fehler bemerkt hatte.
Wenn man eine Reihe von Partien gegen den gleichen Gegner spielt, dann spielt das Timing eine wichtige Rolle, wie sich sehr gut anhand eines Wettkampfs zeigen lässt, bei dem ich Sekundant war: dem WM-Kampf zwischen Kasparov und Anand in New York 1995.
Nach einer langen Serie von Remispartien gelang Anand in der neunten Partie schließlich ein Sieg; es war der fünfte Scheveninger, den sie auf dem Brett hatten, und der mit Zugumstellung aus der Najdorf-Variante hervorgegangen war (die Partien begannen mit den Zügen 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6 6.Le2 e6).
In seinen Weiß-Partien hatte es Kasparov erst mit Nimzo-Indisch, dann mit Reti versucht, um in Partie sechs festzustellen, dass Anand den Offenen Spanier spielt, woraufhin Kasparov in Partie acht kurz zu Schottisch überging. Anand musste in der zehnten Partie entscheiden, ob er den Offenen Spanier wiederholen oder zu seiner Überraschungswaffe greifen sollte: Skandinavisch.
1995 spielte Anand gegen Kasparov seinen ersten WM-Kampf
Anand griff noch einmal zum Offenen Spanier, aber lief in eine sehr gut vorbereitete theoretische Variante und wurde vernichtet. Mit perfektem Timing wechselte Kasparov in der nächsten Partie, in der er Schwarz hatte, dann von Najdorf zum Drachen und erwischte Anand ein zweites Mal auf dem falschen Fuß und gewann auch diese Partie.
In der 12. Partie spielte Anand dann einen anderen Spanier und machte Remis, aber dann verlor er mit Weiß noch einmal gegen den Drachen. In Partie 14 spielte er dann endlich Skandinavisch und bekam auch eine gute Stellung, die er dann aber ebenfalls verlor.
Hier kam alles auf das Timing an und hätte Anand Kasparov in der zehnten Partie mit Skandinavisch ausgebremst, dann wäre die Schachgeschichte vielleicht anders verlaufen.
Kasparov vs Anand, New York 1995, Partie 10. Nach 13.bxc3 Dd3 überraschte Kasparov
seinen Gegner mit der überraschenden Neuerung 14.Lc2!!
Kehren wir nach diesem langen Exkurs wieder zu Carlsen gegen Karjakin zurück. Im Internet habe ich eine Diskussion gesehen, in der Karjakin kaum Chancen eingeräumt wurden, aber in Moskau hat er ein phantastisches Turnier gespielt, und allein die Qualifikation in diesem Turnier wird ihn besser und stärker gemacht haben.
Er hat jetzt etwa sieben Monate Zeit, um sich vorzubereiten. (Mindestens) drei Bereiche sind dabei von absolut entscheidender Bedeutung.
Der erste liegt auf der Hand und betrifft die Wahl der Eröffnungen, die er spielen und auf sehr hohem Niveau vorbereiten will. Das macht er genau wie alle anderen Spieler im Zeitalter des Computers sowieso jeden Tag, aber die Anforderungen einer Weltmeisterschaft, in der er sich sechs Mal mit Schwarz verteidigen muss, sind qualitativ höher als bei jedem anderen Turnier oder jedem anderen Wettkampf.
Der zweite Punkt betrifft körperliche Fitness. Ein solcher Wettkampf verlangt Körper und Geist sehr viel ab und ich hatte während einer meiner Kandidatenwettkämpfe einmal den Eindruck, dass mein Gegner in knapp zwei Wochen fast sechs Kilo abgenommen hat. Karjakin ist noch jung und muss schon ziemlich fit sein, aber wenn er gegen Magnus antritt, dann muss er definitiv dafür sorgen, dass er seiner Top-Form so nahe ist, wie es nur geht.
Der dritte entscheidende Faktor betrifft die Frage, wie er Carlsen in den ruhigen Stellungen, die der Weltmeister so wunderbar spielt, Paroli bieten will. In einem Wettkampf hat man eine gewisse Kontrolle über die Stellungen, die man bekommt, aber es liegt in der natürlichen Entropie einer Schachpartie, dass sie irgendwann zu einem mehr oder weniger spannenden Endspiel wird, und man kann nicht damit rechnen, solche Endspiele ganz vermeiden zu können.
Als Alexander Aljechin 1927 auf den vermeintlich unbesiegbaren Jose Raoul Capablanca traf und ihn besiegte, nahm er den scheinbar reizlosen Stil seines Gegners an, um ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Karjakin sollte etwas Ähnliches mit Blick auf Carlsen machen. Er könnte zum Beispiel ruhige, aber spannungsgeladene Stellungen gegen einen wirklich guten Gegner spielen. Da Carlsen nicht zur Verfügung steht, wäre Vladimir Kramnik der ideale Kandidat dafür - wenn er zur Verfügung steht. Ansonsten gibt es noch andere technisch sehr gute Spieler und eine Möglichkeit ist sogar (denn Carlsen ist ein Schachmonster), dass Karjakin gegen einen Zentauren zum Sparring antritt - ein Spieler, der stark im Endspiel ist und auf gewisse Computerhilfe zurückgreifen kann - wenn auch nicht auf all die irrsinnigen Varianten, auf die die Maschine verfällt.
Doch wie gut er sich auch auf Carlsen vorbereitet, so muss sich Karjakin doch auf den Anfangsschock einstellen, gegen Carlsen um die Weltmeisterschaft zu spielen. 1963 spielte Tigran Petrosian die Auftaktpartie seines Wettkampfs gegen Botvinnik nach eigener Aussage "ungefähr auf dem Niveau eines Spielers der ersten Kategorie, aber nicht einmal so stark wie ein Meisterkandidat". Nach der Auftaktniederlage und drei Remis in Folge gelang Petrosian in Partie fünf schließlich ein Sieg. Die Partie ist sehr berühmt geworden und am Ende gewann Petrosian den Wettkampf.
Petrosian vs Botvinnik (1963), Stellung bei Abbruch der Partie
Tigran Petrosian (links) und Mikhail Botvinnik (rechts) während des
WM-Kampfes 1963.
Im ersten seiner vielen WM-Kämpfe gegen Anatoly Karpov wurde der junge Garry Kasparov, der noch nicht so stark wie später war, in den ersten Partien vernichtet und erst in der 32. Partie des Moskauer Marathons gelang ihm sein erster Sieg.
So viel Zeit sich an die Atmosphäre zu gewöhnen, hat Karjakin natürlich nicht, da der Wettkampf über zwölf Partien geht. Aber sein Ergebnis gegen Carlsen kann sich absolut sehen lassen und außerdem hat er schon ein paar Mal gegen Carlsen gewonnen. (Lässt man Blind-, Schnell-, und Blitzpartien außer Acht, komme ich auf +6 -5 =17 für Carlsen, aber das müsste noch überprüft werden).
Nach seinem Sieg in Moskau liegt Karjakin auf der inoffiziellen Weltrangliste bei 2779.2 Punkten, und damit immer noch 72 Punkte hinter Carlsen - das entspricht einer Erwartung von 59% - 41% zugunsten von Carlsen.
In Anbetracht von Carlsens Erfahrung bei Weltmeisterschaftskämpfen, würde ich seine Chancen sogar noch etwas höher einschätzen, vielleicht sogar 2-1, aber mehr definitiv nicht und ganz sicher geringer als 3-1.
Über den Autor Jonathan Speelman wurde 1956 geboren und entschied sich 1977 nach einem erfolgreichen Abschluss des Mathematikstudium am Worcester College in Oxford zu einer Laufbahn als Schachprofi. 1977 wurde er Internationaler Meister, 1980 folgte der Großmeistertitel. Von 1980 bis 2006 war er Mitglied der englischen Olympiamannschaft. |