Weltklasse-Turnier in New York

von André Schulz
04.05.2020 – Endlich! Nach vielen Jahren gibt es in New York wieder ein Weltklasse-Schachturnier. Mit Raul Capablanca ist der Weltmeister am Start, ebenso sein Vorgänger Emanuel Lasker. Hinzu kommen neun weitere Weltklassespieler, darunter Alexander Aljechin. Das Turnier wird im Hotel Alamac gespielt.

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New York, New York

New York ist eine bemerkenswerte Stadt. Die US-Metropole an der Ostküste ist im Begriff, London den Rang als größte Stadt der Welt - nach Einwohnern gerechnet - den Rang abzulaufen. An die 6 Mio. Menschen leben hier schon, so schätzt man. Fast so viele wie in London und dreimal so viele wie in Berlin. Auch die USA werden im Weltgeschehen in Zukunft sicher eine größere Rolle spielen

Der imposante Eindruck, den die Stadt New York beim Besucher hinterlässt, wird vor allem durch seine ständig anwachsende Zahl von Wolkenkratzern, durch die "Skyscraper", hervor gerufen. Die meisten dieser Hochhäuser entstehen in Manhattan, dem Geschäftszentrum der Stadt New York. Bis 1890 war der Turm der Trinity Church mit seinen 87 Metern das höchste Gebäude der Stadt. Dann wurde das World Building mit einer Höhe von 106 Metern errichtet. Es steht am Park Row. 1910 entwarf der Architekt Cass Gilbert das Woolworth Building, 233 Broadway. 1913 wurde der Bau abgeschlossen. Mit 241 Metern ist es das derzeit das höchste Gebäude der Welt.

Das Woolworth Building

Noch höhere Gebäude sind geplant, hört man. Auftraggeber für das nach ihm benannte Gebäude war war der Unternehmer Frank Winfield Woolworth, Inhaber einer Kaufhaus-Kette. Der Bau hat ihn seinerzeit 13,5 Mio. US-Dollar gekostet. Woolworth hat die Rechnung in bar (!) beglichen.

Die ganzen Vereinigten Staaten, New York besonders, befinden sich jetzt, sechs Jahre nach dem großen Krieg in einem gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung. Unter ihrem Präsidenten Calvin Coolidge, ursprünglich Rechtsanwalt, herrscht die Politik des wirtschaftlichen Laissez-faire. Wer gute Ideen hat, wie er Gewinn machen kann, wird von der Politik dabei nicht behindert.

Nachdem die Motorisierung des Landes lang vernachlässigte wurde, hat sich dies durch die Erfahrungen im Krieg nun geändert. Besonders die Entwicklung von Nutzfahrzeugen wird nun gefördert, aber auch der Bau von Pleasure Cars, Privatautomobile, erlebt einen Aufschwung. Seit 1914 produziert die Firma Ford Automobile in Serie mit vorgefertigten Teilen. Der Preis sank deutlich, von über 800 Dollar auf 350 Dollar, aber alle Fahrzeuge sind schwarz. Bunte Automobile werden von Ford nicht angefertigt. Es gab auch Versuche, die Fahrzeuge mit Dampf, Gas und Elektrizität anzutreiben. Jetzt fahren sie zumeist mit Benzin, das durch raffinieren aus Öl gewonnen wird. Man kann sich aber kaum vorstellen, dass das umständlich aus der Erde geholte Benzin lange reichen wird, wenn sich immer mehr Menschen ein Automobil kaufen und damit sinnlos in der Gegend herumfahren. 1916 wurde auch die erste durchgehende Straße von der Ost- bis zur Westküste gebaut, der Lincoln Highway.

Zu den expandierenden Wirtschaftszweigen in den USA gehört zudem die Filmindustrie. Zentrum dieses neuen Industriezweigs war New York, bis im Jahr 1910 der Regisseur und Produzent D.W. Griffith mit seiner Schauspieltruppe an der Westküste in der Nähe von Los Angelos Außenaufnahmen für mehrere Filme anfertigte. Inzwischen ist komplette Filmindustrie von New York nach Hollywood, ein Dorf bei Los Angelos umgezogen. Die Studios flüchteten zum Einen vor dem Zugriff der New Yorker Motion Picture Patents Company. Zum Anderen waren Klima und Lichtverhältnisse an der Westküste viel besser für Filmaufnahmen geeignet. 

Gedreht werden historische Filme, Dramen und Romanzen. Beliebt sind auch die so genannten Slapstickfilme, in denen Filmsterne wie Charlie Chaplin, Harold Lloyd oder Buster Keaton halsbrecherische Stunts vollführen - ohne sich dabei den Hals zu brechen.

Noch handelt es sich bei diesen Filmkomödien um Stummfilme, doch es wird schon intensiv daran gearbeitet, die übliche Musikbegleitung durch gesprochene Tonspuren zu ersetzen. Doch das ist Zukunftsmusik.

Eine merkwürdige Sache ist die Prohibition. Mitte des letzten Jahrzehnts gewann eine Enthaltsamkeitsbewegung in den USA großen Einfluss. Unter dem Druck dieser Kampagne hat die US-Regierung 1919 in allen Staaten ein Gesetz zum Verbot von Handel und Genuss von Alkohol erlassen. Allerdings gibt es große Schwierigkeiten, das Gesetz auch durchzusetzen. Überall haben sich illegale "Flüsterkneipen" gebildet. In New York soll es davon an die 20.000 geben.

Die Prohibition steht in seltsamen Kontrast zur Lebensfreude, die besonders von jungen Frauen ausgestrahlt wird, den so genannten Flapper, und die sich unter anderem in wilden Tänzen Bahn bricht, den Charleston zum Beispiel. Inzwischen verbreiten sich New Yorker Musik und Tänze schon über die ganze Welt.

Der Shimmy ist inzwischen wegen Unsittlichkeit an manchen Orten sogar verboten.

Mit F. Scott Fitzgerald besitzt New York einen jungen, sehr talentierten und schon berühmten Autor. Sein Roman "This Side of Paradise" ist ein absoluter Bestseller. Zusammen mit seiner Frau Zelda, die beiden heirateten vor drei Jahren, liefert er den für die Klatschspalten der Gezetten reichlich Stoff. Die beiden pflegen einen exzessiven Lebenswandel. Allerdings, so heißt es, plane das Paar einen Umzug nach Paris. F. Scott Fitzgerald soll einen Roman begonnen haben, der von New Yorker Dekadenz und einem geheimnisvollen Millionär handele. Das Werk will er in Frankreich beenden.

Ein anderer auch in New York erfolgreicher Künstler ist Karl Gustav Vollmöller. Es wurde in Stuttgart geboren und hat sich schon auf zahlreichen Gebieten versucht. Der 46-Jährige war im Laufe seines als Archäologe, Philologe, Schriftsteller, Lyriker und Dramatiker, Drehbuchautor, Übersetzer, Rennfahrer, Flugzeugkonstrukteur, und Filmpionier, Unternehmer und zeitweise sogar als Politiker tätig. Vollmöller stammt aus reichem Hause, ist Kosmopolit und Dandy. Zumeist hält er sich in Berlin auf, wo er viel mit Max Reinhardt zusammenarbeitet.

Karl Gustav Vollmöller

Sein Stück "Das Mirakel/The Miracle", 1911 in London uraufgeführt, 1912 verfilmt, wird hier am Broadway seit Anfang des Jahres jeden Tag im Century Theatre gezeigt und ist zumeist ausverkauft. Das Besondere an dem Stück: Es hat keinen gesprochenen Text, bietet aber Musik und Tanz. Die Musik stammt von Engelbert Humperdinck. Vollmöller betätigt sich aber auch als Kulturmanager und Agent für Künstler und hat am Broadway im Überraschungsstück "Shuffle along" ein Chorus Girl entdeckt - abgeschleppt, meinen manche - die er nun zu Auftritten in Berlin und Paris vermitteln will. Sie heißt Josephine Baker. Die kleine Tänzerin wird man sicher bald vergessen, aber den Namen von Karl Gustav Vollmöller sollte man sich merken.

Josephine Baker

Ein anderer großer Künstler der Stadt ist der Pianist und Komponist George Gershwin. Er ist 26 Jahre alt, Sohn russisch-jüdischer Einwanderer. Eigentlich heißt er Gershowitz. Am 24. Februar wurde in New York in der Aolian Hall sein Werk "Rhapsody in Blue" aufgeführt. Das Werk verbindet modernen Jazz mit konzertanter Sinfonik. Das Publikum war hingerissen und die Aufführung wurde wurde als Jahrhundertereignis gefeiert.

Im Herzen von New York, in Manhattan, gibt es nicht nur viele Hochhäuser. Es gibt auch den legendären Manhattan Chess Club, gegründet 1877, bald 50 Jahre alt. Von 1908 bis zum letzten Jahr hatte der Klub seinen Sitz im Sherman Square Hotel. Nun residiert er im Beacon Hotel. Der Klub zählt mehrer Schachweltmeister zu seinen regelmäßigen Besuchern und/oder Mitgliedern. Raul Capablanca, seit 1921 der Schach-Weltmeister, trat schon als 17-Jähriger 1905 in den Klub ein. 1918 wurde er auch Klubmeister des Manhattan Chess Clubs.

Mit dem Besuch von Alexander Aljechin in den USA 1923 war in der Neuen Welt einiges Interesse am Schach entstanden und am Silvesteraband 1923/24 trafen sich Herrmann Helms, Schachspieler und Kolumnist der New York Times, Norbert Lederer vom Manhattan Chess Club, Harry Latz, der Inhaber des Alamac Hotels und Alexander Aljechin, eigentlich, um die Möglichkeiten eines Wettkampfes um die Weltmeisterschaft zu erörtern. Im Verlaufe des Gespräches wurde die Chance, das notwendige Geld zusammen zu bekommen, als zu vage angesehen. Dann kam die Idee eines Weltklasse-Turniers ins Gespräch. Die Kosten dafür würden 10.000 Dollar betragen, schätzte man, eine Summe, die man mit Hilfe der Honoratioren des  Marshall Chess Clubs wohl zusammen bekommen könnte. Dann ging es sehr schnell.

Alexander Aljechin

Harry Latz stellte sofort 2500 Dollar zur Verfügung, außerdem die Gastfreundschaft seines Hotels für alle Teilnehmer und für das Turnier. Bei der Einladung der Spieler aus Europa war Richard Hirschfeld u. Co in Berlin behilflich. Die Zusagen der vorgesehenen Meister kam schnell, Emanuel Lasker eingeschlossen. Unter der Leitung des Präsidenten des Manhattan Chess Clubs Herbert Limburg wurde ein Komitee gebildet und mit der Sammlung von Spenden begonnen.

Innerhalb von zwei Monaten nahm das Turnier Gestalt an und wurde Realität.

Master Class Band 3: Alexander Aljechin

Phantastische Taktik und glasklare Technik. Das waren die Markenzeichen auf Aljechins Weg zum WM-Titel 1927. Das Team Rogozenco, Marin, Reeh und Müller stellt Ihnen den 4. Weltmeister und sein Schaffen vor. Inkl. interaktivem Test zum Mitkombinieren!

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Die europäischen Meister - Efim Bogoljubow, Geza Marozcy, Richard Reti, Savielley Tartakower und Emanuel Lasker - trafen sich am 28. Februar an den Hamburger Landungsbrücken -, um sich dort auf der SS Cleveland Richtung New York einzuschiffen. Frederik Yates stieg in Southampton zu. Aljechin befand sich noch in den USA und gab Simultanvorstellungen. Lasker hatte eine etwas beschwerlich Anreise.

Emanuel Lasker

Der zweite Weltmeister der Schachgeschichte, immerhin schon 56 Jahre alt, befand sich auf einer Schachreise in Finnland und wollte von dort per Fähre nach Hamburg anreisen. Die Fähre blieb aber im Eis der Ostsee stecken. Der alte Mann verließ das Schiff, lief übe das Eis zurück an Land und dort noch viele Kilometer zu Fuß zu einem Bahnhof und schaffte es per Zug gerade noch rechtzeitig vor dem Auslaufen der Cleveland aus dem Hamburger Hafen.

Master Class Band 5: Emanuel Lasker

Auf dieser DVD zeigen unsere Autoren alle Facetten des Spiels von Emanuel Lasker, der von 1884 bis 1921 Weltmeister war, länger als jeder andere vor oder nach ihm: Eröffnungen, Strategie, Taktik und Endspiele!

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In New York angekommen, trafen die Europäer auf die übrigen Teilnehmer des Turniers, die "New Yorker", Raul Capablanca, Frank Marshall, Dawid Janowsky und Edward Lasker. Ein illustres Turnierfeld! Von den weltbesten Spielern fehlen nur Akiba Rubinstein und Aaron Nimzowitsch.

Raul Capablanca

Lange machte man sich allerdings Sorgen um Raul Capablanca, der zuletzt an einer Grippe erkrankt war. Doch inzwischen ist er wieder auf den Beinen und spielt mit. Dass der Weltmeister gut in Form ist, zeigte er beim Blitzturnier, das die Meister mit den Amateuren des Manhattan Chess Clubs spielten. Lasker, Aljechin und Marshall waren als einzige nicht dabei und sparten ihre Kräfte für das Hauptturnier. Capablanca gewann das Blitzturnier.

Das Turnier wird im besagten Alamac Hotel gespielt, 71st Street and Broadway. Als Turniersaal wurde der Japanische Saal hergerichtet, mit den Fahnen aller Teilnehmer. Eine Besonderheit des Turniers besteht darin, die Runden erst 15 Minuten vor Beginn auszulosen, um den Einfluss der immer größer werdenden Vorbereitungen zu mindern.

Als Preisgeld wurden übrigens 1500 Dollar für den ersten Preis ausgelobt. Der Zweite erhält 1000 Dollar, der Dritte 750 Dollar. 4. Preis: 500 Dollar. 5. Preis: 250 Dollar. Zum prächtigen Eröffnungsbankett im Hotel Alamac waren 300 geladene Gäste gekommen. New York wird ein großartiges Schachturnier erleben, von dem man noch in Jahrzehnten sprechen wird.

 


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.

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