Die Weltmeister und das Remis: Eine Betrachtung
Von Johannes Fischer
Sucht man nach den schönsten und aufregendsten Partien des
Jahres 2004, ist die 14. Partie aus dem WM-Kampf zwischen Kramnik und Leko
sicher ein Kandidat auf einen Spitzenplatz. Sie entschied nicht nur über die
Weltmeisterschaft, sondern zeigte auch, wie brillant Kramnik unter Druck spielen
kann. In einer Partie, die er unbedingt gewinnen musste, um seinen Titel zu
verteidigen, tauschte Kramnik früh die Damen, entwickelte dann kontinuierlich
Druck und krönte all das schließlich mit einem Mattangriff mit reduziertem
Material. Aber trotz dieses furiosen Finales waren viele Schachfans von dem
WM-Kampf enttäuscht. Bemängelt wurde vor allem die hohe Zahl der kurzen Remis.
Denn nicht weniger als sechs von vierzehn Partien endeten nach 23 oder weniger
Zügen mit Remis.
In Interviews, die Kramnik nach dem WM-Kampf gab, forderte er
das Publikum auf, die Dinge positiver zu sehen, seine Rolle als Experte, der
weiß, was er tut, anzuerkennen, und verglich sich mit einem Künstler, der auch
nicht auf Bestellung Meisterwerke liefern könnte. (Siehe z.B. das Interview mit
Dirk Poldauf in Schach 12/04, S.49-54 und das Interview mit Dirk Jan ten
Geuzendam in New in Chess 8/2004, S.68-74).
Kramnik-Interviews zu lesen macht Vergnügen. Sie sind klar,
durchdacht, intelligent und bestechen durch Sachlichkeit. Aber überzeugen kann
diese Argumentation nicht. Denn niemand erwartet von Kramnik, dass er
Glanzpartien am Fließband abliefert. Man wünscht sich einfach nur etwas mehr
Kampfgeist, nicht zuletzt im Interesse des Schachs. Denn attraktive Turniere mit
guten Preis- und Antrittsgeldern gibt es nur, wenn sich genügend Leute für
Schach interessieren – und saftlose Remis will eben niemand sehen.
Zu seiner Verteidigung wies Kramnik u.a. darauf hin, dass
andere Weltmeister wie Petrosian und Spassky gelegentlichen Kurzremis auch nicht
abgeneigt waren. Die folgende Tabelle versucht deshalb die Frage zu beantworten,
wie es die bisherigen vierzehn Weltmeister im klassischen Schach mit dem Remis
halten bzw. hielten. Sie beruht auf der Big Datenbank 2005 in ChessBase 9, aus
der Simultan-, Blitz- und Schnellschachpartien gefiltert wurden, um nur
ernsthafte Turnier- und Wettkampfpartien zu berücksichtigen. Erfasst wurden nur
Partien bis Ende 2003.
Name |
Zahl der gespielten Partien |
Zahl der Siege (dahinter die Gewinnquote in %) |
Zahl der Remis (dahinter die Remisquote) |
Zahl der Niederlagen (dahinter die Verlustquote) |
Durchschnittliche Länge der Partien |
Durchschnittliche Länge der Remispartien |
Zahl der Remispartien, die 20 Züge oder weniger dauerten |
Gesamtzahl der Partien geteilt durch Zahl der Kurzremis (gerundet) |
Steinitz |
618 |
342-55 |
125-21 |
151-24 |
39 |
42 |
6 |
103 |
Lasker |
549 |
303-55 |
173-32 |
73-13 |
42 |
41 |
13 |
42 |
Capablanca |
642 |
337-52 |
261-42 |
44-6 |
39 |
35 |
29 |
22 |
Alekhine |
1240 |
719-58 |
390-32 |
130-10 |
41 |
41 |
35 |
35 |
Euwe |
1384 |
657-47 |
502-37 |
221-16 |
37 |
35 |
49 |
28 |
Botvinnik |
977 |
461-47 |
400-42 |
116-11 |
41 |
39 |
49 |
20 |
Smyslov |
2699 |
923-34 |
1450-55 |
295-11 |
37 |
33 |
393 |
7 |
Tal |
2456 |
982-40 |
1202-49 |
270-11 |
35 |
30 |
396 |
6 |
Petrosian |
2087 |
766-36 |
1155-57 |
165-7 |
35 |
29 |
389 |
5 |
Spassky |
2291 |
749-32 |
1329-59 |
212-9 |
34 |
29 |
450 |
5 |
Fischer |
733 |
407-55 |
241-34 |
85-11 |
41 |
42 |
19 |
39 |
Karpov |
2164 |
822-37 |
1167-55 |
175-8 |
40 |
36 |
265 |
8 |
Kasparov |
1265 |
540-42 |
627-51 |
98-7 |
37 |
34 |
103 |
12 |
Kramnik |
867 |
314-36 |
484-57 |
69-7 |
36 |
31 |
139 |
6 |
Neben der großen Friedfertigkeit der
sowjetischen Spieler nach Botvinnik fällt sofort ins Auge, dass die alten
Meister insgesamt kämpferischer gewesen zu sein scheinen, allen voran Steinitz,
der die niedrigste Remisquote aller Weltmeister aufweist – allerdings auch die
höchste Quote an Verlustpartien.
Der
Spieler mit der höchsten Quote an Gewinnpartien ist Aljechin (58%), gefolgt von
Fischer und Lasker (beide 55% Gewinnpartien). Dass dies nicht von ungefähr
kommt, zeigt ein Blick auf die Länge der Remispartien. Auch hier liegen Fischer
und Steinitz mit 42 Zügen im Schnitt knapp vor Lasker und Aljechin, deren
Remispartien im Schnitt 41 Züge dauerten. Auch bei der Häufigkeit der
Remispartien unter 20 Zügen zeichnen sich diese vier besonders aus. Während
Aljechin im Schnitt jede 35. Partie unter zwanzig Zügen Remis machte, geschah
dies bei Fischer nur in einmal in 39 Partien und bei Lasker in einer von 42
Partien. Fast gar keine Kurzremisen gab es bei Steinitz. Die Chance, als
Zuschauer von Steinitz mit einem kurzen Remis abgespeist zu werden, betrug nicht
einmal 1%.
So scheinen Steinitz, Lasker, Aljechin und
Fischer die Weltmeister mit dem größten Kampfgeist zu sein. Sie haben prozentual
mehr Gewinnpartien aufzuweisen als ihre Kollegen, ihre Remispartien dauern
länger und die Zahl ihrer Kurzremisen ist niedrig.
Am anderen Ende der Skala stehen Smyslov,
Petrosian, Spassky, Karpov und Kramnik, die häufiger Remis machen als alle
anderen Weltmeister. Die Friedenstaube flattert hier zu Spassky, der mit einer
Remisrate von 59% glänzt, dicht gefolgt von Petrosian und Kramnik mit 57%. Die
durchschnittliche Länge der Remis, die deutlich kürzer ausfallen als bei
Steinitz, Lasker, Aljechin und Fischer, sowie die Häufigkeit kurzzügiger
Friedensschlüsse bestätigen den Eindruck der Friedfertigkeit dieser Weltmeister.
Bei Petrosian und Spasski dauern Remispartien im Schnitt nur 29 Züge, bei
Kramnik immerhin 31. Und im Schnitt einigten sich Petrosjan und Spasski in jeder
fünften Partie mit ihrem jeweiligen Gegner nach spätestens 20 Zügen auf Remis.
Kramnik zeigt hier etwas mehr Einsatz und gibt nur jede sechste Partie so
schnell Remis.
So gesehen hat Kramnik Recht: Petrosian und
Spassky haben noch häufiger und noch schneller Remis gespielt als er, ohne dass
dies ihrem Nimbus geschadet hätte. Aber die oben angeführten Zahlen beziehen
sich auf die gesamte Laufbahn der Weltmeister. Der am 25. Juni 1975 geborene
Kramnik hingegen ist noch nicht einmal dreißig. Und schaut man sich an, wie
häufig die "friedfertigen" Weltmeister bis zum Alter von dreißig Remis gemacht
haben, ergibt sich ein etwas anderes Bild:
Name |
Zahl der gespielten Partien |
Zahl der Siege (dahinter die Gewinnquote in %) |
Zahl der Remis (dahinter die Remisquote) |
Zahl der Niederlagen (dahinter die Verlustquote |
Durchschnittliche Länge der Partien |
Durchschnittliche Länge der Remispartien |
Zahl der Remispartien, die 20 Züge oder weniger dauerten |
Gesamtzahl der Partien geteilt durch Zahl der Kurzremis (gerundet) |
Smyslow 1921-1951 |
395 |
178-45 |
161-41 |
56-10 |
43 |
43 |
20 |
20 |
Petrosian
1929-1959 |
725 |
304-41 |
344-49 |
77-10 |
37 |
32 |
81 |
9 |
Spassky
1937-1967 |
777 |
322-41 |
386-51 |
69-8 |
37 |
33 |
89 |
9 |
Karpov
1951-1981 |
864 |
386-44 |
429-51 |
49-5 |
36 |
34 |
113 |
8 |
Kramnik
1975-2003 |
867 |
314-36 |
484-57 |
69-7 |
36 |
31 |
139 |
6 |
Hier zeigt sich, dass kein anderer
Weltmeister in jungen Jahren so oft und so schnell Remis gespielt hat wie
Kramnik. Er weist die niedrigste Gewinnquote und die höchste Remisquote auf,
seine Remispartien sind im Schnitt kürzer als die seiner Rivalen um den Titel
des Friedenskönigs und er ist derjenige mit der höchsten Zahl an Kurzremis.
Aber sehen wir es positiv. Schließlich hat
Kramnik noch Zeit, diese Statistik kämpferischer zu gestalten. Vielleicht fehlt
ihm nur eine Herausforderung, ein WM-Kampf gegen Kasparov oder Anand
beispielsweise.