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Für seinen neuen Roman "Da kann man nichts machen" (Verlag C. H. Beck, München 2001) hat der Berliner Schriftsteller Ingomar von Kieseritzky umfangreiche Recherchen angestellt. Diejenigen Quellen, die sich auf den berühmten Vorfahren des Familienclans 'Kieseritzky' beziehen, den Schachspieler Lionel Kieseritzky nämlich, werden in dem Roman ausdrücklich genannt - sie fallen freilich nur demjenigen auf, der sich in der Materie etwas auskennt.
Im Text selbst wird ein Mal Bezug genommen auf
das ChessBase Magazin (S. 192) und mehrfach auf die Baltischen
Schachblätter.
Baltische Schachblätter - das war eine Schachzeitschrift, die in acht
Heften zwischen 1889 und 1901 von dem baltischen Altmeister Friedrich Amelung
(1842-1909) herausgegeben wurde (vergl. die Einleitung zum Turnierbuch Kemeri
1937 [Riga 1938], S. 4 f.). In Heft 2 (Verlag von Julius Springer, Berlin, 1890)
beschäftigte sich Amelung mit dem "berühmtesten baltischen Schachspieler und
zugleich einem der größten Schachmeister aller Zeiten" (Amelung): Lionel
Kieseritzky.
Kieseritzky im Pariser Schachcafé "La Régence"
Als Amelung über Lionel Kieseritzky (künftig: K.) schrieb,
hatte dieser bereits einen Ruf, der ihm bis heute anhängt. K. galt und gilt als
Inbegriff des gescheiterten Schachprofis. Die Wiener Schachzeitung schrieb nach
seinem Tode über K., er sei in Paris gestorben "arm und verlassen, wie er gelebt
hatte, von wenigen gekannt und von niemandem betrauert" (zitiert nach H.v.
Gottschall, Adolf Anderssen, Leipzig 1912, S. 101), nur ein Kellner des
Schachcafés sei dem Leichenzug gefolgt. Die K.-Legende wurde als warnendes
Beispiel genannt, als der Weltschachbund FIDE 1931 einen Hilfsfonds für Not
leidende Schachmeister schuf (Silbermann/Unzicker, Geschichte des Schachs,
München 1975/77, S. 144). K. - ein Symbol des ewigen Verlierers!
Dabei müsste schon das Schicksal derjenigen Partie, mit der K. als Verlierer in
unzählige Schachlehrbücher einging ("die unsterbliche Partie" Anderssen-K.,
London 1851, 1-0 nach 23 Zügen), zur Vorsicht im Umgang mit K.'s Biographie
mahnen. Diese Partie wurde nämlich in verfälschter Form überliefert!
Am Rande des ersten internationalen Schachturniers 1851 in London spielten der
spätere Turniersieger Anderssen und K. insgesamt 15 freie Partien, von denen K.
die meisten gewann. Sein Resultat: +8 -5 =2 (Deutsche Schachzeitung [DSZ],
7/1941, S. 102). Eine dieser Partien, gespielt am 21. Juni 1851, veröffentlichte
K. selbst (La Régence, Paris, Juli 1851) - Gambit Bryan: 1.e4 e5 2.f4 exf4
3.Lc4 Dh4+ 4.Kf1 b5 5.Lxb5 Sf6 6.Sf3 Dh6 7.d3 Sh5 8.Sh4 Dg5 (GM Robert
Hübner hob an dieser Stelle in "Abfall Nr.4" [ChessBase Magazin Mai/Juni 1989,
S.96] die "vornehme und sachliche Einstellung" K.'s hervor, der wir die
Erhaltung der Partie verdanken). 9.Sf5 c6 10.g4 Sf6 11.Tg1 cxb5 12.h4 Dg6
13.h5 Dg5 14.Df3 Sg8 15.Lxf4 Df6 16.Sc3 Lc5 17.Sd5 Dxb2 18.Ld6 Lxg1 19.e5 Dxa1+
20.Ke2 Schluss! Schwarz gab auf. K. merkte am Ende der Partie an: "Cette
partie a été conduite par M. Anderssen avec un remarquable talent." (zitiert
nach dem Faksimile der Urquelle in Tomasz Lissowski/Bartlomiej Macieja, Zagadka
Kieseritzky´ego, Warschau 1996, S. 20)
In der von Ernest Falkbeer redigierten "Wiener Schach-Zeitung" war im Januar
1855 unter der Überschrift 'Eine unsterbliche Partie' zu lesen: "Dieselbe Partie
findet sich in der zweiten Auflage des von Bilguerschen Handbuches, S. 353, Nr.
II, entbehrt jedoch (...) dort aller weiteren Glossen über die interessanten
Variationen, zu deren Erforschung das fürchterliche materielle Uebergewicht von
Schwarz, besonders nach dem neunzehnten Zuge aufzufordern scheint. Wir haben nun
(...) die, vorzüglich im 20. Zuge möglichen Vertheidigungsarten von Schwarz
untersucht (...)" (zitiert nach Lissowski/Macieja, aaO. S.22). Nun - K. war
schon verstorben - wird die Partie fortgeführt mit 20... Sa6, dem Diagramm der
jetzt erreichten Position und dem Hinweis: "Weiss bietet in 3 Zügen Matt." 20...
Sa6 21.Sxg7+ Kd8 22.Df6+ Sxf6 23.Le7 matt.
Seither, so erklärte v. Gottschall in seiner Anderssen-Biographie, erhielt die
Partie den Namen "die unsterbliche Partie": "Die Deutsche Schachzeitung
veröffentlichte sie wunderbarerweise erst im Jahre 1880 nach dem Tode Anderssens,
um die deutsche Schachwelt daran zu erinnern, was sie mit dem Heimgang ihres
Nationalhelden verloren hat." (H.v. Gottschall, aaO. S. 99).
K. als Steigbügelhalter für den Ruhm eines deutschen Nationalhelden - aus dieser
Instrumentalisierung K.'s lassen sich vielleicht die Verzerrungen in
biographischen Abbildungen K.'s erklären.
So wurde K. als Franzose bezeichnet oder - wie in den Aljechin zugeschriebenen
Artikeln über 'Jüdisches und arisches Schach' (1941) - als "polnischer Jude" (vergl.
DSZ 4/1941, S. 50).
Tatsächlich war der Deutschbalte Lionel Adalbert Bagration Felix Kieseritzky
geboren am 20. Dezember 1805 (das Kalenderdatum alten Stiles entspricht dem 1.
Januar 1806 neuen Stiles) in Dorpat/Livland (heute Tartu/Estland) als Sohn des
dortigen Advokaten Otto Wilhelm K. (1755-1814) und dessen Ehefrau Felicitas
Catharina, geborene von Hoffmann (1765-1837). Das baltische Livland gehörte
damals zum russischen Zarenreich.
Amelung war die Herkunft der Familie 'Kieseritzky' nicht ganz klar. Vorsichtig
formulierte er: "Lionel Kieseritzky stammt aus einer um die Mitte des 18.
Jahrhunderts von Polen nach Livland eingewanderten Familie, welche in der
Gegenwart bei uns noch recht zahlreich vertreten und blühend ist. Der Ursprung
seiner Familie lässt sich, soweit uns bekannt geworden, nur bis auf den Anfang
des 18. Jahrhunderts in Polen zurückverfolgen. Wenn auch der Vater und
Grossvater unseres Schachmeisters sich in Livland mit deutschen Frauen
verheirathet hatten, so scheint es doch, das sich das in seinen Adern rollende
polnische Blut bei ihm nicht verläugnete." (Baltische Schachblätter, 2/1890,
S. 56).
Polnisches Blut? Der in Warschau lebende (Schach-) Historiker Tomasz Lissowski
ist der Frage in einer detaillierten, wissenschaftlich fundierten Biographie
nachgegangen und fand keine Beweise dafür, dass irgendjemand in Kieseritzky's
Familie polnischen Ursprungs war. Eine englische Rezension der vorbildlichen, in
polnischer Sprache geschriebenen Biographie von Lissowski/Macieja (Zagadka
Kieseritzky´ego, Warschau 1996) findet sich im Internet bei
http://www.chesscafe.com.
Ingomar von Kieseritzky erwähnt übrigens in seinem Roman "Da kann man nichts
machen" die Biographie seines Vorfahren (S. 158 f.): "ein Buch von einem
gewissen Lissowski, leider in polnischer Sprache, mit dem schönen Titel
Zagadka Lionel K. ego, also Rätsel oder Geheimnis K., und ich müsse nur noch
Polnisch lernen, um dem großen Thema gerecht zu werden." Vor der
Veröffentlichung des Romans haben der Berliner Schriftsteller und der Warschauer
Historiker miteinander korrespondiert.
Von Lionels Bruder Guido (1803-1862), einem Mathematiker, sind durch Hofrat Dr.
v. Guttceit Mitteilungen überliefert, die Familienforscher vor ein Rätsel
stellten: "Lionel Adalbert Bagration Felix Kieseritzky (von Rechtswegen
eigentlich des heil. röm. Reichs Freiherr von Koseritz und polnischer Graf
Kizericki) ward geboren" etc. (Deutsche Schachzeitung 1855, zitiert nach DSZ
7/1941, S. 102 Anm.). Der Genealoge E. Seuberlich (Stammtafeln
deutsch-baltischer Geschlechter; 1924) fand keine Anhaltspunkte dafür: "Ein
Zusammenhang der Kieseritzkys mit der sächsisch-anhältischen Familie von
Koseritz, die ein Wappen mit einem silbernem Stierkopf in blauem Felde führt,
ließ sich bisher nicht nachweisen."
Der russische Zweig der Familie Kieseritzky wurde 1864 in St. Petersburg in den
russischen Adelsstand erhoben. Um so merkwürdiger ist es, dass es der aus
russischem Adel stammende Alexander Aljechin gewesen sein soll, der 1941 in den
berüchtigten Artikeln über 'Jüdisches und arisches Schach' Lionel Kieseritzky
als "polnischen Juden" bezeichnet hat.
Diese familiengeschichtlichen Fragen sind nicht zuletzt deshalb von Bedeutung,
weil zu den fragwürdigen Artikeln (zunächst 1941 in der "Pariser Zeitung"
erschienen, dann in der "Deutsche Zeitung in den Niederlanden", danach - gekürzt
- in der "Deutschen Schachzeitung" [DSZ] und in einer Übersetzung der gekürzten
Version in der englischen Zeitschrift "Chess") in der DSZ seinerzeit eine
öffentliche Diskussion nur zu einem Thema stattfand: Kieseritzky!
Schon zu Beginn des Nachdrucks in der DSZ fragte DSZ-Herausgeber Max Blümich:
"War Kieseritzky wirklich Jude?" (DSZ 4/1941, S. 50 Anm. 1) Die Fortsetzung des
Nachdrucks in der Mai-Ausgabe der DSZ leitete Blümich mit der Feststellung ein:
"Kieseritzky ist übrigens, wie wir schon vermuteten, nicht Jude gewesen. G.
Jirikoff (der ähnlich wie H. Kühne und M. Karstedt sich um die Aufklärung
bemüht), weist darauf hin, dass schon die Tatsache, dass K. am 1.1.1806 in
Dorpat (Livland, nicht Polen!) geboren ist, das zeigt. Dorpat gehörte zu den
Städten Rußlands, in denen keine Juden leben durften." (DSZ 5/1941, S. 65) Nach
Abschluß des Nachdrucks in der DSZ wurde in der Juli-Ausgabe der DSZ ausführlich
aus einem Leserbrief von Superintendent Dr. Artur Rhode in Posen zitiert, der
nicht nur die "arische" Abstammung Kieseritzkys betonte, sondern sich
insbesondere auch gegen den "Vorwurf" wandte, dass K. von Anderssen
"zerschmettert" worden sei, indem er auf das Gesamtresultat der freien Partien
zwischen den beiden Spielern in London 1851 hinwies. Ohne weiteren Kommentar ist
in diesem Zusammenhang in einer separaten Anmerkung die von Dr.v. Guttceit 1855
überlieferte ominöse Mitteilung von K.'s Bruder Guido angefügt.
Nach den Forschungen des Genealogen Seuberlich fällt die Einwanderung der
Kieseritzkys nach Livland spätestens in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts.
Als ältesten Namensträger ermittelte er Jürgen Kieseritzky, der Schneidermeister
in Wolmar war und dort 1688 ein Haus in der Nähe des Rathauses besaß, also in
der besten Lage der Stadt. Die bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts auftretenden
Kieseritzkys sind fast alle Gutsverwalter auf Gütern um Dorpat und Fellin.
Lionels Vater studierte als erster der Familie. Juristen in Dorpat wurden auch
Lionels Brüder Felix (1784-1849) und Artemius (1795-1881). Lionels Bruder Edmund
(1785-1847) wurde russischer Generalmajor, der ihm vom Alter her am nächsten
stehende Bruder Guido arbeitete als Privatlehrer der Mathematik. Lionel war als
14. Kind das Nesthäkchen der Familie; außer zu Guido hatte er enge Beziehungen
zu seiner Schwester Lydia, die erst im Jahre 1882 "hochbetagt" (Amelung)
verstarb.
Wie eng K.'s Beziehung zu seiner Schwester Lydia war, ist unklar. In einem Roman
darf man ihn des Inzests verdächtigen (vergl. Ingomar von Kieseritzky, Da kann
man nichts machen), Amelung beschränkte sich 1890 auf die Mitteilung, dass K. in
einem Beleidigungsprozess als Kläger eingetreten war: "Die Prozessakten sind
noch vorhanden, es soll hier nur soviel daraus mitgetheilt sein, dass er den
Prozess gewann, doch drohte ihm jederzeit wiederum dieser Prozess möglicher
Weise nochmals aufzuleben und infolge dessen entschloss der ehrgeizige Mann sich
schweren Herzens, Livland ganz zu verlassen." (Baltische Schachblätter, 2/1890,
S. 64)
Kurz vor seiner Abreise, am 5. Mai 1839, arrangierte er noch eine 'lebende
Partie', dann verliess K. seine Vaterstadt Dorpat, was er - laut Amelung - immer
für ein Unglück ansah. Er war damals Privatlehrer, erteilte Unterricht in der
Mathematik und war bei den Bürgern von Dorpat ein "sehr gesuchter und beliebter
Lehrer" (Amelung). An der Universität hatte er zunächst Philologie studiert,
dann Jura - er beschäftigte sich aber vorwiegend mit der Mathematik. Amelung:
"Im Jahre 1829 verliess er die Universität und liess sich nach stattgehabter
Prüfung als Mathematiklehrer in seiner Vaterstadt nieder. Nachdem er als solcher
vom Curator der Universität bestätigt worden, ertheilte er Privatunterricht" etc
(Baltische Schachblätter, 2/1890, S. 60).
Es trifft also nicht zu, was heute noch gelegentlich in Schachzeitschriften zu
lesen ist, nämlich dass K. als "verbummelter Student" 1839 seine Heimat
verlassen haben und in die Schachmetropole Paris gereist sein soll, um in einem
Schachcafé seiner Leidenschaft zu frönen!
Als sich K.'s Leben dem Ende näherte und er am 4. April 1853 in ein Pariser
Krankenhaus kam, wurde in die Akten aufgenommen: "Profession: professeur de
mathématiques" (vergl. Lissowski/Macieja, aaO. S. 288). Es war eine Hemiplegie
diagnostiziert worden, also eine halbseitige Körperlähmung durch einen
Krankheitsherd im Hirnstamm. In diesem Krankenhaus starb K. am 19. Mai 1853.
Die Ansicht, dass K. in Paris in Armut und Elend versunken sei, wies Amelung als
irrig und falsch zurück: "Das Wahre ist, dass er stets unbemittelt blieb und in
bescheidener Weise lebte, ohne jedoch zu irgendeiner Zeit ganz zu verarmen und
etwa anderen Menschen zur Last gefallen zu sein. Im Gegentheil, er konnte sogar
einiges erübrigen und bei seiner eigenen völligen Bedürfnislosigkeit vermochte
er von einem Jahreseinkommen, welches zwischen blos 1500 bis 2000 Francs sich
bewegte, noch an seine Geschwister in Dorpat gelegentlich ganz stattliche
Geldpräsente zu übersenden." (Baltische Schachblätter, 2/1890, S. 65).
In seiner Zeitschrift publizierte Amelung einige Briefe K.'s, die ihm von Dr.med.
Walter Kieseritzky (1853-1912) zur Benutzung überlassen worden waren. Diese
stammten aus der Zeit vor 1850. Amelung kannte K.'s Bruder Guido persönlich und
wusste, dass Briefe K.'s seit 1850 sich noch 1858 im Besitze Guidos befanden. Er
plante damals die Herausgabe der Briefe. Doch Guido K. starb 1862 und die Briefe
gingen verloren. (vergl. Baltische Schachblätter 2/1890, S. 65 Anm.).
Kieseritzkys Unterschrift aus einem Brief.
K. korrespondierte von Paris aus mit Schachgrößen in Deutschland. Es gibt
anscheinend noch Briefe K.'s z.B. an den preußischen Diplomaten und
Schachförderer Baron Tassilo von der Heydebrand und der Lasa (1818-1899).
Möglicherweise werden diese noch unbekannten Dokumente in der (geplanten)
zweiten Auflage der K.-Biographie von Lissowski/Macieja enthalten sein, der eine
deutsche Übersetzung zu wünschen ist.
Gerald Schendel/5.11.2001