Wie Datenanalyse die NBA und das Spitzenschach verändert haben

von Roger Lorenz
25.04.2024 – Angeregt durch eine Datenanalyse der Spielweise im Amerikanischen Basketball hat Roger Lorenz eine solche Analyse auch für das Spitzenschach durchgeführt. Tatsächlich gibt es signifikante Veränderungen im Laufe der letzten Jahrzehnte. Nicht unbedingt positive.

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Wie Datenanalyse die NBA und das Spitzenschach verändert haben

Vor kurzen bin ich auf X (vormals Twitter) auf einen Kommentar von Großmeister und Weltmeister Coach Peter Heine Nielson gestoßen. In diesem verweist er auf das Buch [Goldsberry 2024], das im Mai 2024 erscheinen wird. Der Autor bewirbt das Buch auf X mit der obigen Abbildung. Sie zeigt die Änderungen der Schussauswahl in der NBA von der Saison 2023/2004 bis zur Saison 2023/ 2024 (Quelle: [Goldsberyy 2024])

Für diejenigen Leser, die sich mit Basketball und NBA nicht so auskennen, ein paar Vormerkungen. Die National Basketball Association (kurz: NBA) gilt als die mit Abstand stärkste und populärste Basketball-Liga der Welt. Derzeit besteht die NBA aus 30 Mannschaften aus den USA und Kanada. Die folgende Abbildung zeigt das Basketball Spielfeld.

Abbildung 2: Das Basketballspielfeld (Quelle:  Wikipedia)

Erfolgreiche Würfe jenseits der Dreipunkte-Linie (Three-Point-Line) bringen 3 Punkte, Würfe innerhalb der Linie 2 Punkte. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schütze einen Wurf erfolgreich verwandelt, nimmt mit zunehmender Distanz zum Korb (Basket) ab. Daher ist es nicht verwunderlich, dass 3 Punktwürfe nahe der Baseline immer schon populär waren, da dort der Abstand zwischen Dreipunkte-Line etwas kürzer ist als in der Mitte des Spielfelds (6,60m vs. 7,24m).

Die Abbildung 1 zeigt eine große Änderung im Spiel der NBA-Mannschaften. Während früher (2003/2024, linke Seite der Abbildung) die Schützen auch den Zweipunktebereich gut ausnutzen, konzentrieren sie sich heute (2023/2024, rechte Seite der Abbildung) auf Dreipunktwürfe und Würfe nahe dem Korb. Schüsse aus der Mitteldistanz gibt es kaum noch. Auch gibt es jetzt vermehrt die Tendenz, Dreipunktwürfe auch ein oder zwei Schritte hinter der Dreipunkte-Linie zu nehmen.

Wer sich in letzter Zeit ein NBA-Spiel angeschaut hat (z.B. auf YouTube), kann das bestätigen. Während kleinere Spieler wie Stephen Curry (1,88m groß) jetzt auch vermehrt aggressiv zum Korb ziehen, können größere Spieler wie Nikola Jokić (2,11m groß) jetzt auch sehr gut Dreipunkte erzielen. Und bei Luka Dončić hat man manchmal den Eindruck, dass er schon knapp hinter Mittellinie seine Dreipunkte Würfe nimmt.

Abbildung 3: Aktuelle Top-Shooter in der NBA Stephen Curry, Nikola Jokić und Luka Dončić (Quelle:  Wikipedia)

Diese Veränderungen im Spiel sind bestimmt kein Zufall. Alle NBA-Mannschaften haben mittlerweile ein Team von Datenanalysten, die die Trainer beraten. Bei diesen Analysen wird herausgekommen sein, dass sich ein Dreipunktwurf mehr lohnt als ein Zweipunktwurf aus der Mitteldistanz. Diese Erkenntnis wird sich dann auf die Verpflichtung neuer Spieler ausgewirkt haben, so dass es nun z.B. mehr Spieler gibt, die gut Dreipunktewürfe können oder sich gute Schusspositionen nahe dem Korb erarbeiten können. Das Ganze wird sich im Training fortsetzen, wo man solche Schüsse und das Herausspielen solcher Schüsse vermehrt trainieren wird.

Traditionelle Basketballfans in den USA sind über diese Entwicklung nicht glücklich. So gibt es dort aktuell Diskussionen, die Dreipunkte-Linie weiter nach hinten zu verlegen und die Dreipunktelinie nahe der Baseline ganz abzuschaffen. Aber kurzfristig wird es da sicherlich keine Änderungen geben.

Wie sieht es beim Schach aus?

Ich habe den Eindruck, dass wir im Schach eine ähnliche Entwicklung sehen. Nun werfen wir Schachspieler nicht mit dem Ball auf einen Korb. Aber wir wählen mit Bedacht unsere Eröffnungen aus. Und ich denke, dass wir im Spitzenschach heutzutage deutlich weniger unterschiedliche Eröffnungen sehen als früher.

Daher habe ich analysiert, ob mein Eindruck richtig ist oder ich mich täusche. Dazu habe ich analysiert, welche Eröffnungen die Spitzenspieler früher (hier habe ich das Jahr 1990 ausgewählt, damals waren noch Kasparov, Karpow und Kortchnoi aktiv)) und heutzutage (hier habe ich 2019 ausgewählt, um Verzerrungen durch die vielen Onlineturniere während Covid zu vermeiden) spielen. Den Begriff Spitzenspieler habe ich definiert als TOP100-Spieler.

Die Definition Spitzenspieler brachte das erste Problem mit sich. Die ELO-Zahlen der Spitzenspieler haben sich in den letzten Jahren deutlich nach oben verändert, Reichte 1990 noch eine ELO-Zahl von 2540 dafür in den TOP100 zu sein, so lag diese Messlatte im Jahr 2019 schon bei 2654.

Abbildung 4: Entwicklung der ELO-Zahlen für Spitzenspieler seit 1990 (Auswertung des Autors basierend auf den FIDE ELO Listen vom Juli eines Jahres)

Als Datenquelle habe ich die Mega2023 Datenbank von Chessbase verwendet. Diese Datenbank habe ich zunächst im PGN-Format gespeichert. Danach habe ich dann folgende Daten pro Partie extrahiert:

  • Event
  • Datum
  • ELO White
  • ELO Black
  • Ergebnis
  • ECO-Code

Im nächsten Schritt habe ich die Daten dann wie folgt bearbeitet:

  • Berücksichtigung aller Partien von 1990, wenn beide Spieler eine ELO-Zahl >= 2540 hatten
  • Berücksichtigung aller Partien von 2019, wenn beide Spieler eine ELO-Zahl >= 2654 hatten
  • Herausfiltern aller Partien ohne Ergebnis oder ohne ECO-Code (damit sollten dann auch alle Chess960-Partien entfallen)
  • Versuch Rapid- und Blitzpartie herauszufiltern. Dazu habe ich Partien herausgenommen die im Eventfeld Muster wie “Blitz”, “Rapid”, “5’” oder “Titled Tuesday” enthalten. Damit habe ich sicherlich nicht alle Rapid- und Blitzpartien erwischt, aber hoffentlich genug, um eine Verzerrung durch solche Partien zu vermeiden.
  • Entfernen von Dubletten

Auf dieser Datenbasis habe ich dann für 2019 und 1990 die 30 häufigsten ECO-Codes und ihre Häufigkeit bestimmt. Diese sind in der folgenden Abbildung aufgelistet:

Abbildung 5: Die 30 häufigsten Eröffnungen (identifiziert durch den ECO-Code) 2019 und 1990. Grün markierte Einträge sind in beiden Listen zu finden

Die Abbildung zeigt zwei Dinge. Zum einen hat sich die Auswahl der Eröffnungen geändert. Nur 7 der TOP-30-Eröffnungen aus 1990 sind 2019 noch in der TOP-30-Liste zu finden. Keine Eröffnung in den Top-10 aus 1990 ist noch in der Top-10 in 2019. Eröffnungen wie Französisch, Pirc, Holländisch oder Königsindisch sind komplett aus der Liste der 30 meistgespielten Eröffnungen herausgefallen. Stattdessen dominieren nun Italienisch, Berliner Verteidigung und Russisch. 

Auch hat sich die Häufigkeit, mit der die TOP-Eröffnungen gespielt werden, deutlich verändert. Im Jahr 2019 sind die 30 häufigsten ECO-Codes für über 50% der Partien verantwortlich. Im Jahr 1990 hat man noch 57 ECO-Codes benötigt, um die 50% zu erreichen.

Warum ist das so? Dazu habe ich noch die folgende Statistik erzeugt.

Abbildung 6: Entwicklung der Remis Quote in TOP-Partien seit 1990

Die Abbildung zeigt, dass die Remis Quote in Partien zwischen Spitzenspielern seit 1990 stark gestiegen ist. Betrug diese Quote 1990 noch ca. 57%, so ist diese Quote 2019 bereits auf fast 65% gestiegen.

Alles in allem komme ich zu dem Ergebnis, dass insbesondere die Schwarzspieler versuchen, ihr Risiko durch die Wahl der Eröffnungen zu verringern. Sie werden durch eine höhere Remis Quote belohnt. Riskante Eröffnungen wie Französisch, Pirc, Holländisch oder Königsindisch werden von den Spitzenspielern nur noch als Überraschungswaffe eingesetzt.

Aus schwarzer Sicht eine echte Erfolgsgeschichte. Daher ist nicht davon auszugehen, dass sich dieses in Zukunft ändern wird.

Schlussbemerkungen

Die gezeigten Statistiken zeigen, dass mein Gefühl richtig war. Im Spitzenschach konzentriert man sich auf wenige Eröffnungen. Eröffnungen, die insbesondere für Schwarz ein höheres Risiko darstellen, sieht man kaum noch.

Ähnlich wie die traditionellen Basketball Fans in den USA bin ich mit dieser Entwicklung nicht glücklich. Ich finde es auch schade, dass sich dadurch eine Kluft zwischen dem Spitzenschach und dem Rest auftut. Früher haben viele (ich eingeschlossen) versucht, es in der Eröffnung den Spitzenspielern gleich zu tun. Wenn Garry Najdorf oder Königsindisch spielte, dann waren das Eröffnungen, denen man auch in den unteren Spielklassen begegnete. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass ich in den letzten 20 Jahren die Berliner Verteidigung in einem Mannschaftsturnier oder auf einem Amateurturnier gesehen habe.

Ich vermute aber, dass ich mich damit abfinden muss. Lösungen wie z.B. die Dreipunkte-Linie zu verlegen, gibt es im Schach leider nicht.

Quellverzeichnis

[Goldsberry 2024]: Kirk Goldsberry, Hoop Atlas: Mapping the Remarkable Transformation of the Modern NBA, Mariner Verlag


Roger Lorenz studierte Informatik in Bonn in den 1980ern und arbeitete später viele Jahre als Projektmanager und Berater. Im Ruhestand hat er nun mehr Zeit für seine Hobbies wie Schachspielen, Schachgeschichte und Schachengines. Er ist Mitglied des Schachklubs Bonn-Beuel und der Chess History and Literature Society. Kontaktieren kann man ihn über seine Homepage.