01.10.2019 – Gleich vor der Wiener Museumsmeile befindet der Platz der Menschenrechte. Hier bringt die Schachaktivistin Kineke Mulder jeden Freitag Menschen beim Schach zusammen. Manchmal müssen die Schachspieler sich ihren Platz erobern, wie gerade bei einer Wahlveranstaltung der "NEOS". | Fotos: Kineke Mulder
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Wiens derzeit angesagtester Schachtreff ist jeden Freitag zwischen 17 Uhr und Mitternacht am Platz der Menschenrechte. Vergangenen Freitag aber fand genau dort die abschließende Wahlkundgebung der NEOS statt. Die Schachspieler mussten sich ihre Plätze erst nach und nach zurückerobern.
Seit knapp fünf Jahren ist Wiens beliebteste Einkaufsmeile, die Mariahilfer Straße, Fußgängerzone. Die Verkehrsfläche an ihrem unteren Ende neben dem Museumsquartier wurde damals in Platz der Menschenrechte umbenannt.
Voriges Jahr kam dort ein langer, gekachelter Tisch hin, den die belgische Künstlerin Francoise Schein gestaltet hat. In Siebdruck und Handbemalung serviert sie die Menschenrechte in deutscher und englischer Fassung auf Tellern.
Tatsachen
Der Schachtisch
Genau der richtige Ort, um im öffentlichen Raum Schach zu spielen, fand Kineke Mulder. Die aus der Niederlande stammende Webdesignerin sorgt in Wien seit vier Jahren dafür, dass Menschen beim Schachspiel zusammenfinden. Mit Schachtischen im damals von Flüchtlingen überlaufenen Hauptbahnhof fing es an. Schach ist für Mulder eine universelle Sprache und damit ein ideales Instrument sozialer Integration. Ihr Projekt nannte sie „Chess Unlimited“.
Neben Schachtreffs organisiert sie gelegentlich auch Turniere. Einmal wurde sie dabei von Funktionären genötigt, mehrere Spieler abzuweisen, die keine FIDE-Registrierung hatten, schließlich sei sonst keine Auswertung möglich. Für Mulder war es das Gegenteil von Integration. Sie machte sich endlos Vorwürfe, als sie die teilnahmewilligen Männer wegschickte. Nun lässt sie die Finger von FIDE-ausgewerteten Turnieren.
Nachtblitz
Inzwischen haben zahlreiche Medien über ihre Arbeit berichtet. Der Lokalsender Okto hat gerade einen Bericht über den Schachtreff am Platz der Menschenrechte gedreht.
Blitznacht
Im Laufe eines Freitagabends rücken dort fünfzig, sechzig, manchmal auch siebzig Spieler die Figuren. Kiebitze nicht mitgerechnet. Am vorigen Freitag aber war erstmal gar kein Platz, um die Bretter aufzubauen.
Alle Plätze waren von Schaulustigen belegt, die der NEOS-Spitzenkandidatin Beate Meinl-Reisinger lauschten, oder vielmehr dem, was von ihrer Stimme noch übrig war. Wahlkämpfer in Einhornkostümen wuselten herum. Ein paar Meter nebenan tobten sich Bobokinder auf einer Hüpfburg aus.
Alles ein bisschen "überdrüber", aber irgendwie auch lustig, sagte sich Mulder. Es war nicht das erste Mal, dass der Schachtreff am Platz der Menschenrechte inmitten einer anderen Veranstaltung losging. Einmal waren sie von veganen Imbiss- und Infoständen umgeben. Ein anderes Mal stand ein Konzertflügel da, und ein Chor trat auf.
Nach und nach übernahmen die eingetrudelten Schachspieler die Plätze am Tisch von den NEOS, die sich übrigens bei der Nationalratswahl am Sonntag von sechs auf acht Prozent der Stimmen verbessert haben, was aber nicht für eine Zweierkoalition mit der siegreichen ÖVP reicht.
Dass Mulder an diesem Abend ein paar mehr Fotos als sonst machte, lag aber nicht nur am Tete-a-tete mit der Politik. Seit dem vorigen Schachtreff hatte ein Sprayer den Tisch ver(un)ziert. Wenigstens nicht ganz respektlos, denn er setzte seine Tags genau auf die weißen Flächen zwischen den Tellern mit den Texten der Menschenrechte. Als Schachtrefforganisatorin fühlt sich Mulder für den Tisch mitverantwortlich. Für kommenden Freitag hat sie sich vorgenommen, Lappen und Reinigungsbenzin einzupacken und schon früher hinzugehen. Vielleicht kann ja vorher jemand der Stadtreinigung Bescheid geben.
Guter Durchblick
Bis Ende Oktober will Mulder die Schachfreitage am Platz der Menschenrechte noch durchhalten. Vorher, am Samstag den 12. Oktober von 12 bis 14.30 Uhr, werden dort, als Wiener Beitrag zum Global Chess Day, vom Erasmus-Projekt 8x8 neue Spiele auf acht mal acht Feldern vorgestellt. Beim Schachtreff am 18. Oktober ist ab 18 Uhr ein kleines (nicht zur FIDE-Auswertung vorgesehenes) Turnier geplant (wobei im Fall von Schlechtwetter ein Café zur Verfügung steht). Weil die Außensaison dem Ende zugeht, stellt Mulder den bisher monatlichen Schachtreff in der Wiener Hauptbibliothek auf 14tägig um. Und am 30. November wird sie bei der London Chess Conference über „Urban Chess“ berichten und hoffentlich viele inspirieren.
Stefan LöfflerStefan Löffler schreibt die freitägliche Schachkolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ist in Nachfolge von Arno Nickel Herausgeber des Schachkalender. Für ChessBase berichtet der Internationale Meister aus seiner Wahlheimat Portugal.
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