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Pressebericht, 14.9.2009, Stichwörter: Wissenschaftspreis – Schach –
Einstellungseffekt – Frauen und Schach – Psychologie – Bilalić
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Wissenschaftspreis Schach verliehen
Der zweite Wissenschaftspreis Schach geht an den Psychologen Dr. Merim
Bilalić aus Tübingen für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Expertise- und
Gedächtnisforschung in der Domäne Schach.
Mit dem Wissenschaftspreis der Karpow-Schachakademie Rhein-Neckar wurde
2008/2009 zum zweiten Mal ein Wissenschaftspreis ausgelobt, der aus der
Fülle an wissenschaftlich fundierten Arbeiten zum Thema Schach aus allen
Fachgebieten eine Arbeit besonders herausstellt. Ein Preis, der sich nicht
nur auf ein Wissenschaftsgebiet beschränkt, sondern umfassend ist.
Entsprechend setzte sich das Auswahlgremium aus Schach spielenden
Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen zusammen. Der Preis ist mit
1.000 EUR dotiert und wird im neuen Jahr feierlich überreicht.
Elf Arbeiten aus den Jahren 2005 bis 2008, in der Regel Magister-, Diplom-
und Doktorarbeiten, aber auch wissenschaftliche Veröffentlichungen aus
Deutschland, Ungarn und Großbritannien gingen bei der Karpow-Schachakademie
ein. Die Arbeiten stammten aus so unterschiedlichen Gebieten wie
Betriebswirtschaftslehre, Militärwissenschaften,
Kommunikationswissenschaften, Historik, Kunst, Mathematik,
Wirtschaftsinformatik und Psychologie.
Merim Bilalić hat mit seiner Arbeit an der Oxford University (Oxford,
England) promoviert und ist zurzeit an der Universität Tübingen tätig. Seine
Arbeit wurde mehrfach publiziert, auch in populärwissenschaftlichen und
allgemeinen Magazinen wie Psychology Today, New Scientist, The Telegraph
oder Spiegel.
Nach Dr. Markus Keller, Geschäftsführer der Schachakademie „zeichnet sich
die Arbeit Bilalićs durch hohe Originalität aus. Die Arbeit genügt höchsten
wissenschaftlichen Ansprüchen und ist auch international konkurrenzfähig.“
Besonders hervorzuheben ist dabei die Arbeit zum Einstellungseffekt („Why
good thoughts block better ones?“), die kürzlich von der British Psychology
Society gewürdigt wurde. Bilalićs Dissertation trägt den Titel: „Acquisition
of chess skill“. In jüngster Zeit hat der Bosnier eine beeindruckende Arbeit
zum Thema „Schach und Frauen“ veröffentlicht, die eine überzeugende
statistische Begründung dafür liefert, dass der scheinbar erhebliche
Geschlechtsunterschied in der Spielstärke von Männern und Frauen lediglich
ein Artefakt unterschiedlicher Teilnahmeraten ist. Diese jüngste Arbeit wird
die weitere Diskussion über Geschlechtsunterschiede im Bereich Schach
nachhaltig beeinflussen. Gleichzeitig wirft seine Arbeit ein Licht auf die
gleichartigen Verhältnisse bzgl. Frauen in der Naturwissenschaft oder im
Ingenieurwesen, bei denen die Zahl von herausragenden Frauen ebenfalls sehr
gering ist, die Gesamtzahl der Frauen gering. Eine „angeborene“ oder
kulturell erworbene Schwäche in Wissenschaft, Ingenieurwesen oder im Schach
scheint somit fraglich.
Keller: „Nach seinem Studium der Psychologie in Sarajevo von 1998 bis 2002
hat Merim Bilalić mit der jetzt preisgekrönten Arbeit 2006 an der Oxford
University bei Dr. Peter McLeod promoviert. Nach dem Studium hat er mit
Professor Peter Frensch an der Humboldt-Universität Berlin und mit Professor
Fernand Gobet an der Brunel University in London gearbeitet. Zusammen mit
Gobet und McLeod hat er seine Arbeiten auch publiziert. In ihnen setzt
Bilalić eine lange Tradition psychologischer Untersuchungen zum Schachspiel
fort, die zumindest bis 1894 zurückreicht, als Alfred Binet - der Autor des
ersten Intelligenztests - eine Untersuchung über Blindschachspieler
veröffentlichte, von deren Leistungen sich Binet stark beeindruckt zeigte.
Bilalić legt in seiner bisherigen Arbeit einen Schwerpunkt darauf, mit
Schach als Untersuchungsgebiet wichtige und teilweise kontrovers diskutierte
Felder der Psychologie zu beleuchten.
Zum einen können individuelle Unterschiede der Spieler selbst untersucht
werden, z.B. Persönlichkeit oder Intelligenz. Zum anderen bietet Schach mit
seinem etablierten Wertungszahlen-System (DWZ, ELO) eine gelungene und
quantifizierbare Einstufung der Leistungsstärke jedes Schach-Spielers. So
können Felder wie Denkprozesse, Gedächtnis, Problemlösung,
Entscheidungsfindung oder Auffassungskraft quantitativ und qualitativ
betrachtet werden.
Eine wesentliche, neue Erkenntnis fand Bilalić bei Versuchen an
Schachspielern unterschiedlicher Spielstärke: „Nachdem wir gelernt haben,
ein Problem auf eine Weise zu lösen, sind wir blind für effizientere
Lösungsmethoden. Selbst wenn wir denken, dass wir einen anderen Lösungsweg
einschlagen, ist unsere Aufmerksamkeit weiterhin beim gewöhnlichen. Diesen
Effekt nennen wir Einstellungseffekt.“, so Bilalić einleitend.
Seinen Probanden, Schachspieler bis zur oberen Meisterklasse, gab er eine
Stellung vor, in der sie das kürzeste Matt finden sollten. Danach bat er
sie, zu schauen, ob es einen kürzeren Lösungsweg gibt. Sowohl
Durchschnittsspieler als auch Experten fanden die kürzere Lösung nicht. Sie
waren blind für diese kürzere, bessere Lösung. Wenn es jedoch nur diese eine
Lösung gab, so wurde sie gefunden.
Wie Bilalić durch Analyse der Augenbewegungen der Probanden feststellte,
dachten diese zwar, sie suchten nach einer weiteren Lösung, die Augen
folgten aber der ersten Lösung und betrachteten nur für diese relevante
Felder des Schachbretts.
Ausgesprochene Meister, z.B. Großmeister, finden den besseren Lösungsweg
dagegen zumindest auf den 2. Blick. Bilalićs Arbeit zeichnet besonders aus,
dass er erstmals die Frage dieser Inflexibilität bei Experten verschiedener
Spielstärke betrachtete. Historisch sprechen Psychologen bei Schach schon
von Experten, wenn deren Spielstärke zwei bis drei Standardabweichungen
(entsprechend 400 bis 600 ELO-Punkte) über dem Mittelwert aller
Schachspieler (ca. 1500 ELO) liegt. Im Schach gibt es Meisterspieler, die
deutlich besser sind. In diesem Bereich gibt es allerdings wenige
Feldversuche. Bilalić konnte nun zeigen, dass die früher gefundene
Unbeweglichkeit im Denken von Schach-Experten nicht mehr bei „besseren“
Schach-Meistern mit einer Spielstärke von vier oder mehr
Standardabweichungen oberhalb der Durchschnittsspielstärke zutrifft. Diese
überwinden den schädlichen Einstellungseffekt!
Der Einstellungseffekt wird also von den besten Könnern überwunden, die
optimale Lösung gefunden. Die bisherige wissenschaftliche Definition von
Experten muss hier revidiert werden. Die Übertragbarkeit der Ergebnisse von
Schach auf andere Gebiete ist wahrscheinlich.
Es zeichnet die breit angelegte Arbeit von Merim Bilalić aus, dass er neben
verschiedenen Aspekten der kognitiven Leistungsfähigkeit von Schachspielern
auch deren Persönlichkeitsstruktur untersucht hat.
Bei einer Untersuchung an 250 englischen Schulkindern zeigte sich, dass
Kinder, die auf andere eingehen und Konflikte vermeiden, eher kein Schach
als Hobby annehmen. Da Frauen allgemein zu mehr Verträglichkeit neigen, mag
dies ein Grund dafür sein, warum mehr Jungen als Mädchen mit Schach
anfangen.
Auch auf die Frage von Intelligenz und Schach geht Bilalić ein. So ist eine
höhere Intelligenz beim Beginn mit Schach spielen von Vorteil. Dies wird
jedoch durch die Praxis (viel spielen, viel trainieren) kompensiert. Zudem
ist leider die Regel, dass sich intelligentere Kinder auf dem einmal
Erlernten ausruhen und ihren Spielstärkevorsprung verlieren.
Schach kann auch das Problem der Spezialisierung in einem Fachgebiet
abbilden. Beispiel: Ein Spieler ist Fachmann in der sizilianischen
Verteidigung, einer in der französischen Verteidigung. Beide sind gleich gut
bei normalen Mittelspielproblemen. Wenn sie nun Probleme aus der jeweils
anderen Spezialeröffnung lösen, so verschlechtert sich ihre Spielstärke um
200 ELO-Punkte (eine Standardabweichung). Im Umkehrschluss heißt das: Zwingt
man einen Spieler, eine ihm nicht gebräuchliche Eröffnung zu spielen, so
spielt er 200 ELO-Punkte schlechter.
Das ist übertragbar auf andere Bereiche, z.B. wenn Akademiker auf einem
anderen akademischen Gebiet Entscheidungen fällen müssen als ihrem eigenen
und dann schlechtere Ergebnisse liefern.
Ein anderes, beeindruckendes Ergebnis zeigt seine kürzliche Arbeit über den
so genannten Geschlechterunterschied im Schach. Bekannt ist, dass es kaum
eine Frau schafft in die absolute Schach-Weltspitze vorzudringen; deutlich
wenigern als es dem Anteil der Frauen von derzeit sechs Prozent entspricht.
Bilalić fand nun, dass die Unterlegenheit der Frauen zu 96%, also fast
ausschließlich, dem entspricht, was rechnerisch alleine aufgrund des
geringeren Frauenanteils erwartet würde. Hierzu nutzte er die statistischen
Daten des DWZ-Systems, dem Spielstärkesystem des Deutschen Schachbundes, das
120.000 Spieler aller Kategorien umfasst und aufgrund seiner umfassenden
Auswertung die individuelle Spielstärke sehr genau trifft.
Für seine Arbeit zum Einstellungseffekt und dessen Einfluss auf Gedächtnis
und Problemlösung bei Schach-Experten, wird Bilalić von der British
Psychology Society mit dem Award for Outstanding Doctoral Research
Contributions to Psychology ausgezeichnet. Laut Professor Judy Ellis,
Vorsitzende des Preiskomitees, gibt Bilalić sehr wichtige Einblicke bzgl.
des Fachwissens und der Rolle des Gedächtnisses bei der Problemlösung.
„Seine neuen Untersuchungsergebnisse haben weit reichende Konsequenzen für
eine große Spanne von kognitiven Phänomenen und verschiedene Gebiete der
psychologischen Forschung. Das Preiskomitee war insbesondere beeindruckt vom
Scharfsinn seiner Forschung in Kombination von gemischt-methodischen
Ansätzen und anspruchsvollen Versuchsanordnungen.“ Diesen Worten schließt
sich die Karpow-Schachakademie gerne an.
Dr. Merim Bilalić hat seine Erkenntnisse zum Einstellungseffekt in einem
Kurzvortrag zusammengetragen, der auf der Homepage
www.schachakademie-hockenheim.de/wip2009 als kostenfreier Download
hinterlegt ist. Hier können auch weitere Informationen gefunden werden.
Der Wissenschaftspreis wird auf einer Schachveranstaltung im kommenden Jahr
überreicht. Ort und Zeitpunkt stehen derzeit noch nicht fest.
Die Karpow-Schachakademie Rhein-Neckar e.V. versteht sich als
Kompetenzzentrum Schach. Ziel der Akademie ist zum einen die
wissenschaftliche Forschung im Themenbereich Schach, zum anderen Training
und Trainingsausbildung. Der dritte Bereich sind Veranstaltungen von
regionalem, nationalem und internationalem Charakter.
(Dr. Markus Keller – Geschäftsführer KSA / Presse, 14.9.2009)
Bilder: Privatfotos