Wilhelm Heinse und das Anastasia-Matt

von ChessBase
23.06.2003 – Viele Musterwendungen im Schach sind mit Geschichten und Personen verbunden, wie z.B. das Dilaram-Matt oder das Seekadetten-Matt. An manchen hängt gleich ein ganzer Roman. Gestern vor 200 Jahren starb Wilhelm Heinse, nach dessen Werk "Anastasia und das Schachspiel. Briefe aus Italien vom Verfasser des Ardinghello" das Anastasia-Matt benannt ist (Weiß: Kg1, Tc5, Th5, Sd5; Schwarz: Kg8, Tf8, h7, g7, f7; 1.Se7+ Kh8 2. Txh7+ Kxh7 3.Th5#). Das Jahr 2003 wird in den drei eng mit Heinses Leben verbundenen Städten Langewiesen, Mainz und Aschaffenburg als Heinse-Jahr gefeiert werden. Gerald Schendel berichtet. Über Wilhelm Heinse...

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Vor 200 Jahren, also im Jahre 1803, erschien in Frankfurt/Main das Werk "Anastasia und das Schachspiel. Briefe aus Italien vom Verfasser des Ardinghello". Der Verfasser war [Johann Jakob] Wilhelm Heinse. Er wurde geboren am 15. Februar 1746 in Langewiesen (Thüringen) und starb am 22. Juni 1803 in Aschaffenburg. Der 200. Todestag des Schriftstellers und Schachfreundes Wilhelm Heinse ist Anlass zu zahlreichen Aktivitäten in drei eng mit Heinses Leben verbundenen Städten: Langewiesen, Mainz und Aschaffenburg. Einer der Höhepunkte im Wilhelm-Heinse-Jahr 2003 wird ein von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz veranstaltetes internationales Symposium sein (25.-27. September 2003).

In Deutschland und in Frankreich ist nach Heinses Werk das so genannte "Anastasia-Matt" benannt

(Weiß: Kg1, Tc5, Th5, Sd5; Schwarz: Kg8, Tf8, h7, g7, f7; 1.Se7+ Kh8 2. Txh7+ Kxh7 3.Th5#).


 

Anastasia und das Schachspiel

[Johann Jakob] Wilhelm Heinses Eltern hießen Hein(t)ze. Der deutsche Dichter Friedrich Hölderlin (1770-1843) widmete ihm das Gedicht Brod und Wein ("An Heinze"), was kein Schreibfehler war, weil Wilhelm Heinse sich später für eine neue Schreibweise seines Namens entschied.

Wilhelms Vater war Organist, Stadtschreiber und später Bürgermeister in Langewiesen. Nach dem Besuch der heute
nach ihm benannten Volksschule in Langewiesen ging Wilhelm 1760-1766 in die Gymnasien in Arnstadt und Schleusingen. Danach studierte er in Jena und Erfurt auf Wunsch des Vaters Jura. In Erfurt traf Wilhelm Heinse auf den Schriftsteller und Professor Christoph Martin Wieland (1733-1813).

Die Universität Erfurt gehörte damals zum kurmainzischen Staat und kümmerte vor sich hin. Mit der Berufung des Freigeists Wieland 1769 stieg die Zahl der Studenten steil an. Wieland hielt Vorlesungen zur Geschichte, Philosophie, Staatstheorie und über griechische und römische Literatur. Obwohl wir heute diese Periode als "Zeitalter der Aufklärung" bezeichnen, gab es damals noch einflußreiche, keineswegs "aufgeklärte" obskure Gestalten: Anfang 1770 wurde ein Erfurter Student unter dem Hinweis verhaftet, er besuche nur Veranstaltungen von Wieland! Wieland gründete einen privaten Zirkel, zu dem als sein bedeutendster Schüler Wilhelm Heinse gehörte.

Wieland war befreundet mit dem anakreontisch-lebensfrohen Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803), der als Domsekretär und Kanonikus in Halberstadt lebte. "Vater Gleim" förderte Freunde und junge Dichtertalente.

Mehr Infos zu Gleim bei
http://www.gleimhaus.de und beim Projekt Gutenberg

Heinse wandte sich von der Rechtswissenschaft ab und widmete sich seiner literarischen Neigung. Er schrieb Sinngedichte im Geiste Wielands. Da sich kein Verleger finden ließ und Wieland sich selbst schon nach anderen Wirkungsorten umsah, empfahl Wieland dem in gesicherten Verhältnissen lebenden Freund Gleim seinen Schützling Heinse. In einem Brief an Gleim (18.11.1770) übersandte Heinse das Manuskript seiner Sinngedichte und stellte sich, Rousseau reflektierend, vor: "Ich bin noch ein Wilder, der vor dem Glanze schüchtern zurückbebt." Mit Unterstützung Gleims erschienen die Sinngedichte 1771 in Halberstadt.

Aus finanziellen Gründen brach Heinse sein rechtswissenschaftliches Studium ab und wurde Reisebegleiter der früheren Offiziere v. Liebenstein und v. Schmettau, die, durch Süddeutschland und am Rhein reisend, von betrügerischen Lotteriespielen lebten. Heinse ließ sich ferner von diesen Leuten dazu überreden, einen vermeintlichen Bestseller zu schreiben, nämliche eine deutsche Übersetzung des Satyricon von Petron, also Petronius Arbiter (gest. 66 n. Chr.), der den Sittenverfall zur Zeit des römischen Kaisers Nero beschrieb. Der Reiz dieses Buches bestand darin, dass bislang nur "gesäuberte" französische Übersetzungen des anstößigen lateinischen Originals existierten. Heinse sollte diese Vereinbarung schon sehr bald bereuen. In einem Brief vom 18. Februar 1772 schrieb er an Gleim: "Der Petron ist leider! schon beinahe fertig..." In Begebenheiten des Enkolp. Aus dem Satyricon des Petron übersetzt (1772/73) ließ sich Heinse überdies dazu hinreißen, in kritischen Anmerkungen zur Gegenwart Stellung zu nehmen. Seine Zeitgenossen waren jedoch trotz aller Verklärung der Antike nicht bereit, altrömische Frivolitäten zu tolerieren. Das Buch hatte einen Skandal zur Folge, der Heinses öffentliche Existenz (beinahe) vernichtete.


Wieland distanzierte sich öffentlich von seinem Schüler. Gleim legte Wilhelm Heinse nahe, das Pseudonym "Rost" anzunehmen, und verschaffte ihm unter diesem Namen 1772 eine Hauslehrer-, also Privatlehrer-Stelle im Hause der Familie v. Massow in Quedlinburg.

Der Fauxpas Heinses wurde nicht schnell vergessen. Ende 1777 schrieb der Schriftsteller Johann Gottfried v. Herder in dem von der bayrischen Akademie der Wissenschaften preisgekrönten Text Über die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten zu Heinses Übersetzung (ohne dessen Namen zu nennen): "Die deutsche Übersetzung Petrons wird also Stellen, Noten und dem Geiste des Buchs nach trotz ihrer Kunst ein Flecken unserer Sprache bleiben."

In Petrons Satyricon übrigens gibt es beim "Gastmahl des Trimalchio" eine spielgeschichtlich interessante Passage (33; 2-3): "Darauf erschien ein Sklave mit einem Spielbrett aus Terebinthenholz und Würfeln aus Kristall, und als Allerapartestes fiel mir auf, er hatte statt weißer und schwarzer Steine Gold- und Silbermünzen. Derweilen er beim Spiel alle Kraftausdrücke und Witze von Weberknechten erzählte und wir noch beim Horsd'oeuvre waren, (...)" [Übersetzung: W. Krenkel]. Bei diesem Brettspiel handelt es sich möglicherweise um latrunculi, jedenfalls nicht um Schach!

Nachdem Heinse zwei Jahre "untergetaucht" war, kehrte er zu "Vater Gleim" nach Halberstadt zurück, wo er sich mit dem Dichter Johann Georg Jacobi (1740-1814) und dessen als Philosoph und Schriftsteller wirkenden Bruder Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) anfreundete.

1774 veröffentlichte Heinse (ursprünglich anonym) einen in der griechischen Antike spielenden Roman. Goethe schrieb begeistert in einem Brief am 1. Juni 1774: "Heinse, den Sie aus der Übersetzung des Petron kennen, hat ein Ding herausgegeben, des Titels Laidion oder die Eleusinischen Geheimnisse. Es ist mit der glühendsten Schwärmerei der geilen Grazien geschrieben...". In einem anderen Brief lobte Goethe: "... es ist so vieles darin, das nicht anders ist, als ob ich's selbst geschrieben hätte".

Im gleichen Jahr 1774 übernahm Heinse mit J. G. Jacobi in Düsseldorf die Redaktion der Iris (bis 1776), einer Vierteljahrsschrift "für Frauenzimmer". Iris war eine Zeitschrift mit hohem Anspruch; sie wollte erzieherisch wirken (Heinse, Erziehung der Töchter, 1-3, 1774, S. 3-14). 13 Texte Goethes erschienen erstmals in Iris. Die Zeitschrift enthielt neben literarischen Beiträgen Theaterkritiken, Rezensionen und politische Berichte. Heinse lebte im Hause Jacobi, begegnete dort den Protagonisten derjenigen literarischen Bewegung, die nach dem Titel eines 1776 erschienenen Dramas von Friedrich Maximilian Klinger (1752-1831) später als "Sturm und Drang" bezeichnet wurde, und freundete sich mit Klinger an. Die Beziehung zu J. G. Jacobi war nicht problemfrei. In einem Brief an Gleim schrieb Heinse (3. Mai 1776): "Jacobi muß mir nothwendig itzt den Rest vom ersten Jahre bezahlen...". Friedrich Heinrich ("Fritz") Jacobi stand Heinse näher - er war auch sein Partner im Schachspiel. "In Fritzen und mich ist der Schachspielgeist wieder gefahren, wir sitzen oft darüber wie stumm und taub", schrieb Heinse am 14. September 1779 an Gleim.

Buchdrucker, Schriftgießer und Buchhändler feierten am 24./25. Juni 1840 in Frankfurt/Main die Erfindung der Buchdruckerkunst. Als Festgabe publizierten sie danach Erinnerungsblätter aus dem geistigen Leben der Vergangenheit (1756-1833). Dieses Gedenkbuch enthielt einen Briefwechsel zwischen Heinse und Klinger über das Schachspiel. Darin schreibt Wilhelm Heinse in Düsseldorf im Dezember 1777 an Klinger in Mainz:

"(...) Kann einer nicht der größte Schachspieler seyn, und in manchen anderen Sachen keinen Hund aus dem Ofen locken, wie zum Exempel die Bauernjungen aus Ströpke ? Lieber Bruder bedenk das einmahl und untersuch´ es mit der fürtrefflichen Donna und dem scharfsinnigen Seiler, und leg´ Dich darüber schlafen. Hernach schreib´ mir euer Urtheil ; denn ich will etwas darüber in dem Merkur [Publikation von Wieland - GSch] drucken lassen, und dabei eine Vergleichung mit dem edlen Billard anstellen (...)"

Klinger schrieb umgehend an den lieben "Bruder Rost":

"(...) Ich sag´ Dir nun, daß die Helden Griechenlands sich auch mit diesen königlichen Spiel belustigen, wie Vater Homer in der Odyssee sagt. Ich denk das soll tiefer Sporn in die Seiten Deines Herzens seyn (...)"

In seinem nächsten Brief fragte Heinse provozierend weiter:

"(...) Sieh, lieber Bruder, und bekenne Deiner Geschicklichkeit zu Ehren die Wahrheit ! so viel Willkür gestattet das Schachspiel. Wenn ein Paar Stümper spielen, o ja ! da giebt´s der willkürlichen Züge die Menge; aber wenn zwey ausgelernte Meister daran kommen, so gewinnt der, welcher anfängt. Und läßt das dem angegriffenen nach aller Logik nur einen einzigen willkürlichen Zug zu ? (...) Frage den größten Schachspieler, welcher itzt existiert (bekanntermaaßen der Musicus Philidor in Frankreich, der mit vier großen Meistern zugleich spielt, und jedem das Spiel abgewinnt, wenn sie ihn anfangen lassen, und dazwischen noch eine Aria komponiert, womit Madam Brochard vielleicht in Maynz den Sieg über die Hellmuth davon tragen könnte), er wird Dir das nehmliche sagen. (...) Thust Du doch, Brüderchen, bey Deiner Persiflage, als ob´s Dein völliger Ernst wäre. Daß Du hierbey noch einen Ausfall auf die guten Weiber thust, und ihnen die Fähigkeit absprichst, es weit darin zu bringen, hat Dir die Verzweiflung eingegeben. (...) Kann dieß nun nicht auswendig gelernt werden ? Und kann es der zweyte, dritte und vierte Zug nicht ebenso ? Warum denn nicht ? Aber ich ziehe so und so. Meinetwegen : aber dann verlierst Du das Spiel, ohne daß ich mich darum bekümmere. Das wäre der Teufel ! Nicht anders. Es heißt hier : lerne was so kannst Du was. Und wenn Du´s kannst, so hat der Spaß ein Ende. Das ganze Schachspiel ist weiter nichts als ein Burzelbaum in der Idee : es geht einmal krumm und einmal zwerch, aber immer überein. (...)"

Klinger erwiderte:

"(...) Der Stoff der Unterhaltung für Ehre und Geist, die Mannichfaltigkeit des Spiels, ist beydes reicher und größer als Du merken willst. Wie viel tausend Veränderungen glaubst Du, daß das Spiel hat ? Multiplicire die Felder immer unter sich und gegen einander, so wirst Du eine ungeheure Zahl kriegen. Die Willkührlichkeit zu leugnen ist ungerecht. Ich spiel´ nie ohne zwey Plans, nächst den falschen Attaquen, und hab´ ich´s mit einem Kriegsheld zu thun, so ruinirt er mein Projekt auf den Augenblick, durch jeden Zug, und ich habe zu thun und zu schaffen, wieder meinem Plan auszuhelfen, zu cachiren ec. Welche Mannichfaltigkeit und große Willkührlichkeit, wenn ich´s trotz allen Gegen-Manoevres dahinbringe, wohin ich´s wollte ! Aus- wendig lernen ist platterdings unmöglich, da jeder Zug eine neue Defension, neue Attaquen und oft ein neues Projekt hervorbringt, vide : die Multiplication. (...) Wer sagt Dir, daß die Bauern in Ströpke nicht mehr als Bauern in Ströpke seyen, wenn sie diese Attention und Fleiß auf etwas anders gewendet hätten ! Nun die Parallele ! Ich hab´ die dümmsten Klötze Billard spielen sehen, die Dich und Deine Meister übertreffen, und kein dummer Kerl hat´s weit im Schach gebracht ! Das Billard erfordert hauptsächlich Uebung, und es ist dann damit, wie mit dem Exerciren des Soldaten und dem Schießen eines Schützen. Aber was erfordert das Schach nicht alles ? Daß man etwas gescheiteres thun könne, geb´ ich zu. Aber wo ist der Kerl, der immer was gescheitres thut und thun kann ? Ich kenne ihn nicht und möchte ihn nicht kennen, noch weniger in seiner Gesellschaft seyn. Mich däucht´, Bruder, Du bist mit dem Schach anfangs zu hitzig gewesen und hast Dir gleich Anfangs den Kopf angestoßen, daß Dir die Geduld ausgieng. Es gieng mir auch so. Ich verfluche es hundertmal und fing doch von neuem an, bis mir´s ganz helle ward. Noch eins, ich kenne bis dato kein Weib, die es weit im Schachspiel gebracht hätte, ich will nicht sagen bringen könnte. Du wirst mir mit Herz, Phantasie und dergleichen antworten, aber das ist hier nicht anzuwenden, Sehen, Verstehen, Berechnen, zu rechter Zeit wagen, hier Verliehren um dort mit mehrem Profit weiter zu kommen, das ist die Sache.
Ich gehe den Krieg im Merkur mit Dir ein.
Den Merkur hab´ ich noch nicht kriegen können. Ich hatte längst Lust, den Krieg anzufangen, hab´ aber noch keinen gefunden, der auf Leben und Tod angehen kann. (...)"

Offensichtlich handelt es sich hier um ein Scheingefecht. Ob es zu dem von Klinger angestrebten literarischen Schau-Duell noch gekommen ist, ist fraglich. Die von Klinger literarisch versorgte Schauspieltruppe hatte keinen Erfolg, sodass er sich im Bayerischen Erbfolgekrieg zum Militär anwerben ließ. Danach (ab 1780) machte Klinger eine Militärkarriere in Russland. Als Begleiter des russischen Thronfolgers Großfürst Paul bei dessen Europa-Reise 1781-82 traf Klinger seinen Schachfreund Heinse in Rom.

Fritz Jacobi und Gleim ermöglichten Heinse eine Italienreise (21. Juni 1780 bis 18. September 1783). Gelegentlich nahm er eine Postkutsche oder ein Schiff, doch größtenteils war er zu Fuß unterwegs. Die über drei Jahre dauernde Reise wurde zu einem Höhepunkt seines Lebens. Leider sind Heinses Tagebücher und Notizen zu einem großen Teil
verschollen. Bereits während seiner Tätigkeit für Iris hatte sich Heinse mit den italienischen Renaissance-Dichtern Ludovico Ariosto (1474-1533; Der rasende Roland) und Torquato Tasso (1544-1595; Das befreite Jerusalem [1575]) beschäftigt. Auszüge seiner Übersetzungen von Das befreyte Jerusalem, bzw. Roland der Wüthende erschienen in den Jahren 1774-76 in Iris.

Tasso wurde in Deutschland damals noch gelesen. Goethe berichtete in Wilhelm Meisters Lehrjahre (1. Buch, 7. Kapitel): "Das befreite Jerusalem, davon mir Koppens Uebersetzung in die Hände fiel, gab meinen herumschweifenden Gedanken endlich eine bestimmte Richtung." Goethes Vater hatte eine besondere Vorliebe für Tasso und besaß dessen Gesamtwerk. Von Kindheit an las Goethe sämtliche Tasso-Bände seines Vaters. Die Übersetzung von J. F. Koppe Versuch einer poetischen Übersetzung des Tassoischen Heldengedichts genannt: Gottfried oder das Befreyte Jerusalem erschien in Leipzig 1744.

Heinses Prosaübersetzung von Das befreyte Jerusalem wurde berühmt. Noch bevor sie als Buch veröffentlicht wurde, erhielt Heinse dafür 1779 den Übersetzer-Preis der Mannheimer Deutschen Gesellschaft. Das Buch erschien - ursprünglich anonym - in Mannheim 1781, also während Heinses Aufenthalt in Italien. Goethe begann mit ersten Vorarbeiten zu seinem Schauspiel Torquato Tasso (1790) im Herbst des Jahres 1780.

Ebenfalls während Heinses Italienaufenthalt erschien 1782-83 im Verlag der Helwingschen Hofbuchhandlung Hannover - nicht anonym! - Roland der Wüthende, ein Heldengedicht von Ludwig Ariost dem Göttlichen. Aus dem Italiänischen aufs neue übersetzt durch Wilhelm Heinse. 1783 erschien - wieder anonym! - Geheime Geschichte des römischen Hofs unter der Regierung des Kaisers Nero / aus dem Lateinischen des Petron übersezt mit einigen Anmerkungen. Dieses Werk war lediglich ein Nachdruck der Begebenheiten des Enkolp von 1773, also die Petronius-Übersetzung von Wilhelm Heinse. Wieder war fälschlich "Rom" als Erscheinungsort angegeben. Experten fanden heraus, dass das Werk in Wirklichkeit von Johann Gottlieb Mizler in Schwabach gedruckt worden war. Bei der Auswahl fiktiver Publikationsorte demonstrierte Mizler öfter geographische Phantasie: Ein Aufgefangenes Sendschreiben des Candidaten Sturmius etc. von Johann Friedrich Herel wurde angeblich 1773 in "Fez und Marokko" gedruckt. Im Archiv Gleims übrigens existiert ein Brief von J. F. Herel vom 15. Juni 1770!

Nach seiner Italienreise kehrte Wilhelm Heinse nach Düsseldorf zurück (bis 1786). 1786 erhielt er eine Berufung als Vorleser (Lektor) und Bibliothekar bei Kurfürst Karl Joseph Freiherr von Erthal in Mainz. Die Verbindung zum Kurfürsten bedeutete für den mittlerweile 40 Jahre alten Heinse die Sicherung seiner Existenz. In Mainz freundete er sich mit dem berühmten Mediziner und Naturforscher Samuel Thomas Sömmerring (1755-1830) sowie mit dem in Mainz als Universitätsbibliothekar tätigen Forscher (ab 1788) und Jakobiner (1792) Georg Forster (1754-1794) an. In Mainz entstand Heinses Musikroman Hildegard von Hohenthal, dessen erster Band - ursprünglich anonym - 1795 im Verlag der Vossischen Buchhandlung Berlin erschien (kommentierte Neuausgabe im
Olms-Verlag 2002).


Eine Reise nach Holland 1784 konnte Heinses Fernweh, seine Sehnsucht nach Italien nicht vertreiben. Er arbeitete an einem Roman, der als "erster Künstlerroman" in die Literaturgeschichte eingehen sollte. Das 1785 fertiggestellte Hauptwerk Heinses erschien - ursprünglich anonym - 1787:
Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Eine Italiänische Geschichte aus dem sechszehnten Jahrhundert. Im letzten Teil des Romans gründen Ardinghello und seine Gefährten auf den fast unbewohnten Inseln Paros und Naxos eine italienische Kolonie. "Das alte Athen unter dem Perikles schien wieder aufzuleben." Eine neue Religion wurde entwickelt, eine Staatsverfassung, in der Frauen Stimmrecht besaßen, in der freie Liebe möglich war, Gütergemeinschaft herrschte... Ein "Idealstaat der Wollust" (Ernst Bloch)? Eine "scheinbare Utopie" (Hans Mayer)? Zwei Jahre vor der Französischen Revolution!
 

Der Literaturhistoriker Hans Mayer konstatierte für den Ardinghello ein "... Auseinanderfallen von öffentlicher und heimlicher Wirkung. Heinses scheinbar immoralischer Renaissanceroman wird gierig konsumiert, doch öffentlich geleugnet, wenn nicht geschmäht. (...) Einstige Anhänger des 'Sturm und Drang' waren verstört. Friedrich Leopold Graf Stolberg las das 'böse' Buch mit 'Ärgernis und mit wahrer Betrübnis über den Genius unserer Zeit'. (...) Die Damen in Weimar freilich waren ... angetan vom jungen Ardinghello, seinen Liebes- und Mordtaten..." (Hans Mayer, Das unglückliche Bewußtsein. Zur deutschen Literaturgeschichte von Lessing bis Heine, Suhrkamp 1986, S. 208 f.).

Was den "Genius der Zeit" und Heinses Position hierzu anbelangte: Wenige Jahre zuvor befand sich Heinse in einer Situation, in der er selbst mit dem Gedanken spielte, eine Kolonie zu gründen. Im Sommer 1772 hatte ein Großbrand seinen Heimatort Langewiesen verwüstet. Das Haus seines Vaters war verbrannt, das seiner Schwester und noch einige Häuser seiner Verwandten. Am 7. August 1772 schrieb er an Gleim:

"Unmöglich kann ich lange in dieser Gegend bleiben: der Schmerz über das Elend meiner Nebenmenschen wird mir täglich unausstehlicher, da ich ihnen mit nichts als Trost und Rath helfen kann. Alles ist in Verzweiflung ! Wenn ich Neigung hätte, ein kleiner Theseus zu werden, so dürfte ich mich nur an die Spitze einer Colonie von tausend Jünglingen und Männern stellen und sie nach Ungarn führen, wo wir willkommen sein, und von Joseph Land und Wohnung bekommen würden. Die meisten darunter verstehn die Musik, und können auf ein Haar mit ihrem Schießgewehr treffen. Beinahe glaube ich auch, daß ich ihnen eine bessere Religion und ein feineres Gefühl ins Herz lehren wollte. Sie folgten mir bis ans schwarze Meer, wenn ich ihr Anführer zu werden mich entschlösse. Sie fangen an, bei den entsetzlichen Drangsalen, das Recht der Menschheit zu fühlen. Ich brauchte kein Orpheus zu sein, um den ganzen Thüringer Wald nach mir zu ziehen."

Heinse war weder Orpheus noch Theseus. 1794 erschien die zweite, "rechtmässige, verbesserte Auflage" des Ardinghello. Man lebte nun bereits in der Mitte der französischen Revolutionsentwicklung. Wer die Grundgedanken des Ardinghello als Vorwegnahme französischer Zustände empfand, konnte durch die Realität zu der Ansicht veranlaßt werden, es sei ratsam, sich von derlei Gedankengut zu distanzieren. Im Ardinghello hieß es:

"Kurz, wir kamen beieinander, so verschieden auch mancher vorher dachte, in folgenden Grundbegriffen überein: Kraft zu genießen, oder, welches einerlei ist, Bedürfnis, gibt jedem Dinge sein Recht, und Stärke und Verstand, Glück und Schönheit den Besitz. Deswegen ist der Stand der Natur ein Stand des Krieges."

Friedrich Schiller (1759-1805) distanzierte sich von Heinse, ohne dessen Namen zu nennen, in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96). Zum Maßstab für "jeden Dichter, der sich etwas gegen den Anstand herausnimmt" machte Schiller das Bestreben des Dichters, sein Publikum "auf der andern Seite wieder zu allem, was groß und schön und erhaben menschlich ist, empor zu tragen". Sein Produkt sei "schön, edel und ohne Rücksicht auf alle Einwendungen einer frostigen Dezenz beifallswürdig, sobald es naiv ist und Geist und Herz verbindet". Das "Herz" vermißte Schiller im Ardinghello:

"Mit Herz: denn die bloße sinnliche Glut des Gemäldes und die üppige Fülle der Einbildungskraft machen es noch lange nicht aus. Daher bleibt 'Ardinghello' bei aller sinnlichen Energie und allem Feuer des Kolorits immer nur eine sinnliche Karikatur ohne Wahrheit und ohne ästhetische Würde. Doch wird diese seltsame Produktion immer als ein Beispiel des beinahe poetischen Schwungs, den die bloße Begier zu nehmen fähig war, merkwürdig bleiben."

Der Literaturhistoriker Hans Mayer zu Schillers Urteil:

"Die Formel ist immer wieder von späteren Kritikern repetiert worden. Sie hat die Leser niemals daran gehindert, insgeheim dem hinreißenden Immoralismus des Buches sich zu öffnen."

Andererseits ist unbestritten, dass ein zum erhaben Menschlichen neigender Dichter wie Friedrich Hölderlin (Hyperion) den Ardinghello gelesen und bewundert hat.

1795 floh Heinse vor den französischen Revolutionstruppen mit dem Rest der ihm anvertrauten Mainzer Hofbibliothek nach Aschaffenburg. Im dortigen Schloß betreute und katalogisierte er die Bibliothek. Als französische Truppen Aschaffenburg besetzten, floh er zunächst nach Kassel. Hölderlin war am 10. Juni 1796 als Begleiter der aus Frankfurt geflüchteten Susette Gontard und ihrer Kinder ebenfalls nach Kassel gereist. Gemeinsam erreichte man am 9. August 1796 Bad Driburg und blieb einige Wochen zusammen. Als die Franzosen Frankfurt räumten, reisten Hölderlin und Familie Gontard wieder ab. Hölderlin schrieb in einem Brief an seinen Bruder (datiert "Kassel, d. 8. August 96"):

"Auch Herr Heinse, der berühmte Verfasser des Ardinghello, lebt mit uns hier. Es ist wirklich ein durch und durch trefflicher Mensch. Es ist nichts Schöneres als so ein heitres Alter, wie dieser Mann hat."

Kannte Hölderlin, der Wilhelm Heinse in Brot und Wein seinen Freund nannte, auch Heinses Freimaurer-Roman Laidion oder die Eleusinischen Geheimnisse (vergl.Jacques D'Hondt, Verborgene Quellen des Hegelschen Denkens, Berlin 1972, S. 221)? Es ist eine merkwürdige Konstellation, dass G. W. F. Hegel (1770-1831) im August 1796 ein Gedicht mit dem Titel Eleusis für seinen Freund Hölderlin schrieb. In seinem viele Bände umfassenden Werk erwähnte Hegel Heinse nur ein Mal namentlich (in den Vorlesungen über die Ästhetik als Verfasser der Hildegard von Hohenthal), öfter dagegen die Eleusinischen Mysterien der Ceres und des Bacchus im Zusammenhang mit dem Geheimnis des Essens des Brotes und des Trinkens des Weines als "unterster Schule der Weisheit".

Neben der Arbeit in der Bibliothek in Aschaffenburg betrieb Heinse musiktheoretische, historische und politische sowie naturwissenschaftliche Studien. Sein Freund Sömmerring schrieb im August 1795 in einem
Brief an Kant:

"Heinse und ich hatten große Freude als wir nach einer Trennung durch den Krieg wieder zusammen kamen und fanden daß wir ohne von einander zu wissen für den Satz, das Gehör ist der wichtigste Sinn gearbeitet hatten, Er hatte den Satz aus speculation gefunden und ich konnte ihm den anatomischen Grund dafür geben."

Ende Februar 1796 übersandte Sömmerring Kant mit einem Brief seine Forschungen Über das Organ der Seele:

"Hier Mein Verehrungswürdigster ist das Werk an dessen Werth Sie so vielen Antheil haben.
Auch H. Heinse hat eine innige Freude gehabt, daß sie sich zum Schutz desselben gegen manche Anfechtungen die es wird erleiden müßen, zum voraus so thätig annehmen.
ich arbeite nun an Vollendung der Abbildungen des Hirns mit eben dem Künstler von dem Sie das schöne Pröbchen gesehen haben.
Wir freuen uns hier sämtlich auf die französische Ausgabe Ihres unübertreflichen Werks zum Ewigen Frieden welches Uns hier mehr am Rhein interessiren muß. (...)"

Vielleicht hat Hegel Sömmerring kennengelernt, nachdem ihm sein Freund Hölderlin, Privatlehrer im Hause Gontard in Frankfurt/Main, Ende Oktober 1796 eine Hauslehrerstelle bei der Familie Gogel in Frankfurt/Main vermittelt hat. Sömmerring war Hausarzt der Gontards und gilt auch als Freund Hölderlins. In den Anmerkungen zu §354 seiner Enzyklopädie zitierte Hegel aus Sömmerrings Werk Abbildungen des menschlichen Auges. Dieses Buch Sömmerrings kam 1801 im Verlag Varrentrapp & Wenner in Frankfurt/Main heraus. In dem Verlag, in dem nicht nur Abbildungen des menschlichen Auges, sondern mehrere von Sömmerrings Büchern erschienen, erschien auch - ursprünglich anonym - im Todesjahr Heinses Anastasia und das Schachspiel. Briefe aus Italien vom Verfasser des Ardinghello. Es ist daher zu vermuten, dass Sömmerring bei der Herausgabe der Anastasia behilflich war. Sömmerring hatte nach dem Tod seines Freundes Georg Forster 1794 dessen Nachlaß und die Vormundschaft über dessen Kinder erhalten. Sömmerring erhielt auch von seinem 1803 verstorbenen Freund Wilhelm Heinse dessen bis dahin unveröffentlichte Aufzeichnungen.

Das Titelbild von Johann Konrad Felsing zeigt eine das Schachbrett betrachtende Sphinx. Über den Inhalt des Briefromans Anastasia und das Schachspiel wurde in der Geschichte des Schachs (München 1975/77) von Silbermann/Unzicker sowie in einem Beitrag von Dr. Jacob Silbermann (Düsseldorf) für das Schach-Echo (1-1977) berichtet.

Der Autor lernt in Venedig eine ebenso kluge wie schöne junge Griechin kennen. In Gesellschaft hochgebildeter Schachspieler reift Anastasia zur unbezwingbaren Schachamazone heran. Die Fortbildung Anastasias gibt Heinse Anlaß zu einer eingehenden Darstellung der Partieführung.

Kern des Buches ist eine teilweise Übersetzung des italienischen Werkes von Giambatista Lolli, Osservazioni teorico-pratiche sopra il giuoco degli scacchi ossia il giuoco degli scacchi eposta nel suo miglior lume, Bologna : d'Aquino, 1763 (632 S.). Ein britischer Katalog nennt als Co-Autor des Lolli-Buches Domenico Lorenzo Ponziani, ein französischer Katalog dagegen César-Henri Comte de La Luzerne (1737-1799).

In seiner Einleitung verglich Heinse das Schachspiel mit dem Krieg. Napoleon (1802 zum Ersten Konsul auf Lebenszeit gewählt) und seine Generäle hätten wegen ihrer herausragenden Schachkenntisse manche Schlacht gewonnen. Im Verlauf des Romans wird diese zweifelhafte These analysiert. Heinse unterstrich nach einem Ausflug in die Geschichte die kulturelle Bedeutung des Schachs. Es sei ein Spiel für Menschen mit großer Einbildungskraft. Heinse, überzeugt von der Wichtigkeit der Eröffnung, regte außerdem die Erstellung eines umfassenden eröffnungstheoretischen Nachschlagewerkes an (was es damals noch nicht gab).

1802 konnte das Napoleon-Argument noch plausibel gewirkt haben. Die zweite, unveränderte Auflage der Anastasia erschien jedoch 1815, in dem Jahr, in dem Napoleon endgültig besiegt wurde! Diese zweite Auflage kam nicht mehr im Verlag Varrentrapp & Wenner heraus, sondern bei Boselli, ebenfalls Frankfurt/Main. Der Boselli-Verlag war recht jung; eine seiner ersten Publikationen scheint 1814 gewesen zu sein: Ueber die Rechte der Staatsdiener und Pensionisten bei Staaten-Veränderungen : mit besonderer Rücksicht auf die bei der Abtretung von Tyrol, Voralberg, Würzburg, Aschaffenburg und Hanau geschlossene Staatsverträge. 1815 kam als einzige Publikation des Boselli-Verlages nur Anastasia und das Schachspiel heraus. Der Verlag veröffentlichte auch amtliches Material, z.B. 1820 Deutsche Bundes-Acte, unterzeichnet zu Wien am 8. Juni 1815, und Schluß-Acte der Ministerial-Conferenzen, unterzeichnet zu Wien am 15. Mai 1820 : nach Ordnung der Bundes-Acte vereinigt. Eine 3., unveränderte Auflage von Anastasia und das Schachspiel erschien 1831 ebenfalls im Boselli-Verlag.

Der Tod des Kurfürsten im Juli 1802 traf Heinse sehr. Nach einem ersten Schlaganfall am 27. Juni 1802, der zu einer einseitigen Lähmung führte, erlitt er am 17. Juni 1803 einen weiteren Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholte. Zwei Tage nach seinem Tod am 22. Juni 1803 wurde Wilhelm Heinse in Aschaffenburg bestattet.

Vor 100 Jahren (1903) erschien Anastasia und das Schachspiel im Rahmen der gesammelten Werke Wilhelm Heinses, die der Insel-Verlag 1903-1925 herausgab.

Gerald Schendel / 22.06.2003

 

 

 

 


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