Hochspannung vor dem Finale in Sofia
Von Dagobert Kohlmeyer
Bei der Schach-WM kann heute die
Entscheidung über den Titel fallen. Auch wenn man als Reporter nach zwölf Tagen
in Sofia nun wieder im heimatlichen Berlin ist, verfolgt man die Partien auf der
Bühne des Militärklubs mit der gleichen Spannung wie vor Ort. Man hat auch mehr
Muße dazu als im dortigen Pressezentrum, wo es jetzt natürlich wie in einem
Bienenschwarm zugeht.
Neben der offiziellen WM-Turnierseite gibt
es eine ganze Anzahl von Portalen im Internet, auf denen sich unzählige
Schachfans einklicken und die Live-Kommentare von unterschiedlich qualifizierten
Leuten verfolgen. Die Großmeister Klaus Bischoff auf dem ChessBase-Server und
Sergej Schipow auf einer russischen Webseite machen ihren Job für meine Begriffe
sehr ordentlich. Sie reden nicht über die Köpfe des Schachvolkes hinweg, ihre
launigen Erklärungen sind für Amateure und Klubspieler gleichermaßen
verständlich.
Prophet Artur Jussupow
Die Zeitung „Neues Deutschland“ hat mit
Artur Jussupow einen hochkarätigen WM-Kommentator gewonnen, der heute schreibt:
„In der 12. Partie hat Topalow Weiß, aber ich glaube kaum, dass er deshalb
‚Alles oder Nichts‘ spielen wird. Vermutlich wählt er die kontrollierte
Offensive. Er muss versuchen, einen starken Aufschlag zu bringen. Doch wenn
Anand ihm eine Eröffnungsüberraschung präsentiert, dann darf Topalow nicht alles
riskieren. Wir wissen, dass der Bulgare an guten Tagen jeden schlagen kann. Die
Frage ist, ob er die Gelegenheit dazu bekommt.“
Nimmt Topalow zu viel Risiko, wird auch
Anand seine Chancen erhalten, räumt Artur Jussupow ein. Er findet das Niveau
dieses WM-Duells beachtlich hoch und ist der Ansicht, dass diese beiden Spieler
keine Sofia-Regeln brauchen. „Sie haben bisher jede Partie ausgekämpft und
können auch remisverdächtige Stellungen spannend machen.“ So geschehen im 11.
Spiel. Der ehemalige WM-Kandidat tippt auf ein Unentschieden auch in der letzten
Partie, wenn Anand seine Aufgabe im defensiven Bereich erfolgreich löst. Die
beiden Spieler seien ungefähr gleich stark und ein Remis daher am
wahrscheinlichsten.
Die Statistik gibt meinem Schachfreund Artur
nicht 100%ig recht. Wenn man zum Beispiel die epischen WM-Matches zwischen
Karpow und Kasparow nimmt, dann hat Letzterer auch schon durch einen Sieg in der
Schlusspartie den Titel aus dem Feuer gerissen. Am eindrucksvollsten geschah das
in Sevilla 1987, als Kasparow im Rückstand liegend das 24. Spiel unbedingt
gewinnen musste. Er entschied sich - wie zuletzt Anand - auch für Englisch und
konnte Karpow am Ende mit sehr viel Glück in dem hochdramatischen Duell
bezwingen. Ein 12:12 reichte ihm damals laut Reglement zur Titelverteidigung.
Das am Dienstag in Sofia mögliche 6:6 würde
dem amtierenden Weltmeister Anand hingegen nicht genügen. In diesem Fall gibt es
einen Tiebreak. Kommt es zum Stechen, dann werden entsprechend dem WM-Reglement
erst einmal vier Schnellpartien gespielt. Jeder Akteur hat dann 25 Minuten
Bedenkzeit pro Spiel. Steht danach immer noch kein Sieger fest, gibt es
Blitzpartien, bis der Champion ermittelt ist. Aber so weit sind wir noch nicht.
In einem Punkt hat sich Artur Jussupow als
wahrer Prophet erwiesen. Schon ab der zweiten Partie in Sofia betonte er: Anand
agiert in diesem Match genau wie Kramnik. Er kopiert sehr erfolgreich dessen
Spielweise und lässt dem Gegner keine Initiative. Damit meinte er vor allem
Katalanisch. Später kamen noch andere Eröffnungen hinzu, in denen Anand seinen
Stil durchsetzte. Kaum waren Arturs Gedanken im ND veröffentlicht, sprangen
andere Schach-Schreiberlinge auf den Kramnik-Zug auf.
Eine große Tageszeitung zitierte Jussupows Lob über Anands spielerische
Qualitäten im Wortlaut, ohne die Quelle „Neues Deutschland“ zu nennen. Eine Provinzzeitung übernahm eine (unveränderte) dpa-Korrespondenz zwar mit
dem Namen des Autors, nannte jedoch die Agentur nicht. Es war aber kein eigener
Beitrag des Blatts. Redlichkeit sieht anders aus. Auf weitere Peinlichkeiten,
die sich mancher Berichterstatter bei dieser WM geleistet hat, wollen wir hier
nicht näher eingehen.
Der schwarze Vorhang
In Sofia hängt wie auch 2008 in Bonn beim
WM-Duell zwischen Vishy Anand und Wladimir Kramnik ein schwarzer Vorhang auf der
Bühne. Er soll Spieler und Zuschauer im Saal zuverlässig voneinander trennen.
Nachdem die Fotografen zu Partiebeginn fünf Minuten lang ihre Aufnahmen gemacht
haben, wird der Vorhang zugezogen. Die Maßnahme hat sich schon vor zwei Jahren
in Deutschland bewährt, um jegliche äußere Einflussnahme auf die Spieler
während der Partie zu unterbinden. Die Bundeskunsthalle hatte ihren schwarzen
Gobelin seinerzeit von der Bonner Oper ausgeliehen. Der dichte Stoff wurde so
angestrahlt, dass er die Sicht des Publikums auf die beiden Spieler ermöglichte.
Das funktionierte aber nur in einer Richtung, weil der Zuschauerraum dunkler war
als die Spielfläche. Das Licht auf der Bühne muss grob aus der Richtung des
Publikums kommen, erklären die Techniker der Kunsthalle. Umgekehrt hatten Anand
und Kramnik keinerlei Möglichkeit, von ihrem Schachtisch aus in den
Zuschauerraum zu sehen. Die Vorsichtsmaßnahme war eine Konsequenz aus dem
unschönen Toilettenkrieg beim WM-Match Kramnik-Topalow 2006 in Elista.
In Sofia wird ein ähnlicher Gaze-Vorhang
verwendet, er ist nur etwas durchlässiger und nennt sich Erbstüll.
Die deutsche Herstellerfirma ist die
gleiche, die auch den Stoff für Bonn gefertigt hat. Das Unternehmen in
Baden-Württemberg stellt nach Auskunft von Firmenchef Hannes Gerriets jährlich
einige Hunderttausend Quadratmeter dieses Tülls her. Bei der Sofioter Variante
handelt es sich nicht um einen Gobelin, sondern um einen dünneren Soff, eben den
Erbstüll. Mit dem Ergebnis, dass die Spieler diesmal von der Bühne aus die
ersten beiden Sitzreihen im Saal des Militärklubs sehen können. „Macht überhaupt
nichts“, winken die WM-Organisatoren ab, „wir haben noch andere Sicherheiten
eingebaut.“
Der feinere Vorhang kostete übrigens 2.500
Euro, hinzu kamen noch 800 Euro für den Transport, erfuhren wir vom Präsidenten
des bulgarischen Schachverbandes, Dr. Stefan Sergiew.
Dr. Stefan Sergiew.
Die Gastgeber wollen ihn nach dem jetzigen
Duell um die Krone gut aufheben.
Im Unterschied zur Schach-WM in Bonn wurden
die Sicherheitsmaßnahmen in Sofia noch weiter verschärft. Alle Zuschauer und
Journalisten müssen am Eingang zum Spielsaal eine Schleuse wie an Flughäfen
passieren, ihr Gepäck sowie die Kameras der Fotoreporter und TV-Teams werden
zusätzlich durchleuchtet. Es besteht absolutes Handyverbot. WM-Schiedsrichter
Werner Stubenvoll aus Österreich vertraute uns noch dieses pikante Detail an:
„Sollte es doch jemandem gelingen, irgendein Gerät zur Datenübertragung in den
Spielsaal zu schmuggeln, würden dessen Funksignale durch einen Störsender außer
Kraft gesetzt.
Werner Stubenvoll
Den hat man uns aus dem militärischen
Bereich für die Schach-WM zur Verfügung gestellt.“ Nähere Angaben konnte Werner
aus verständlichen Gründen nicht machen.
Stunde der Sekundanten
Am Ruhetag vor der 12. Partie hatten die
Sekundanten beider Spieler noch eine Menge Arbeit zu verrichten. Ist doch, wie
wir alle wissen, in der heutigen Zeit die theoretische Vorbereitung oft das
Zünglein auf der Waage. Wenn Wesselin Topalow zur letzten regulären WM-Partie
gegen Vishy Anand aufschlägt, folgt er bei der Eröffnungswahl vielleicht wieder
einer Eingebung seines Cheftrainers Iwan Cheparinow. Der hatte ihm schon früher
und auch bei diesem Match so manchen genialen Zug ins Ohr geflüstert.
Jeder WM-Finalist verfügt in Sofia über
einen großen Beraterstab, dessen Umfang und Zusammensetzung vorher so lange wie
möglich streng geheim gehalten wurde. Weil das gesamte Schachwissen sowie alle
Partien der Spitzenspieler in Datenbanken erfasst sind, würden die Namen der
helfenden Großmeister dem Kontrahenten unweigerlich Auskunft über das
Eröffnungsrepertoire des anderen geben.
Im Laufe der Zeit hat sich das
Tätigkeitsfeld der Sekundanten stark verändert. Früher bestand ihre Hauptaufgabe
vor allem darin, über Nacht Hängepartien zu analysieren und dem Chef am nächsten
Morgen Empfehlungen zu geben, wie er weiterspielen soll. Heute, wo Partien nicht
mehr vertagt werden, geht es vor allem um Überraschungen, die man dem Gegner am
Brett serviert. In Sofia warteten sowohl Titelverteidiger Anand als auch sein
Herausforderer Topalow fast in jeder Partie mit einer Neuerung auf. In manchen
Spielen führte das auch zum Punktgewinn.
Die beiden Teams wohnen aus gutem Grund in
verschiedenen Stadtvierteln von Sofia. Während Anand im entfernteren Hilton
logiert, residiert Topalow im nahen Grand Hotel. Die Sekundanten des Inders, von
denen nur die Großmeister Peter Heine Nielsen (Dänemark) und Rustam
Kasimdschanow (Usbekistan) namentlich bekannt sind, durften ihre Nobelherberge
bisher noch nicht verlassen. Drei von Topalows Trainern, Iwan Cheparinow
(Bulgarien), Jan Smeets und Erwin L’Ami (beide Niederlande), haben dem
Pressezentrum des Militärklubs während der 9. Partie einen Besuch abgestattet.
In den Spielsaal dürfen die Sekundanten nicht hinein.
Die jungen Großmeister unterhielten sich bei
ihrem Ausgang zwanglos mit uns Journalisten und schauten hin und wieder auf den
Bildschirm, um zu sehen, wie es um ihren Boss stand.
Carlos Illardo und Ivan Cheparinov
Nicht besonders gut, aber Toppy rettete sich
bekanntlich an diesem Abend wie durch ein Wunder. Dann posierten die Jungs auf
meine Bitte hin für ein Gruppenfoto auf dem Balkon des schönen Hauses. Sofort
stürzten fünf Kollegen mit ihren Kameras hinterher, um auch mal ein anderes
Motiv vor die Linse zu bekommen als immer nur die beiden Herren A. und T. auf
der Bühne.
Erwin L'Ami, Ivan Cheparinow, Jan Smeets
Bulgariens Nr. 2 Iwan Cheparinow bestätigte
mir dann noch im Vier-Augen-Gespräch, dass Topalows Opferkaskade aus der 7.
Partie auf sein Konto geht. Er verleugnete auch die durchgesickerte Tatsache
nicht, dass Wesselins Team schon seit einiger Zeit das superstarke
Schachprogramm „Rybka 4“ zur Verfügung hat, welches erst nach dieser
Weltmeisterschaft auf den Markt kommt. Sicher ein Vorteil gegenüber der
Anand-Mannschaft. „Wir haben „Rybka 4“ noch nicht“, sagte mir
Computerspezialist Eric van Reem in Sofia. „Die Software ist die eine Seite“,
erwiderte ich. „Ein WM-Titel wurde bisher noch immer am Schachtisch entschieden.
Vishy hat doch noch alle Möglichkeiten, den seinigen zu verteidigen.“ Schaun
wir mal!
Einige Tage weilte auch eine chinesische
Delegation unter Leitung von Schachpräsident Chu Bo in Sofia. Nanjing will im
Herbst wieder ein Grad Slam Turnier ausrichten. Wahrscheinlich im Oktober,
erfuhren wir von den Gästen.
Boris Kutin mit den chinesischen Gästen, darunter
Verbandspräsident Chu Bo (m.)
Wang Yue
P.S. An alle Kollegen, die vorwiegend zu
Hause sitzen und aus zweiter Hand über die Schach-WM berichten: Die bislang
nicht bekannten Fakten sind hiermit zum Abschreiben freigegeben!