Ein Blackout, ein Professor und zwei Remis
Zur Halbzeit der Schach-WM führt Titelträger Anand mit
3,5:2,5
Von Dagobert
Kohlmeyer, Sofia
Im Sofioter
WM-Kampf beginnt am heutigen Montag die zweite Halbzeit. Nach sechs Partien
behauptet Indiens Weltmeister Vishy Anand seinen Vorsprung. Das Wochenende in
Sofia brachte zwei Remis, der bulgarische Herausforderer Wesselin Topalow konnte
seinen Ein-Punkt-Rückstand nicht aufholen. Wie wir wissen, hat sich zuletzt
rings um das Brett einiges mehr ereignet als auf dem Schachtisch.

Schach in Sofa

Das Nationaltheater

Schach im Park
Stromausfall wie bei
Fischer und Petrosjan
Es war
Ereignis und Gesprächsthema zugleich: Der Blackout während der 5. Partie wird
uns als Augenzeugen lange im Gedächtnis bleiben. ZEIT-Redakteur Ulrich Stock hat
es auf seiner Webseite schon plastisch beschrieben. Als Topalow seinen 17. Zug
ausführt, gehen im Saal plötzlich die Lichter aus. Im Pressezentrum auch –
überall. Es ist wie im Kino. Nur mit dem Unterschied, dass nach dem Erlöschen
der Lampen keine bewegten Bilder zu sehen sind. Spieler und Zuschauer sitzen im
Dunklen. Stille ringsum, niemand rührt sich. Auf der Bühne und im Saal bleibt
alles ruhig. Keiner bewegt sich, nach einiger Zeit beginnt das Publikum zu
tuscheln. Die Saalwächter bleiben stehen, als seien sie zu Salzsäulen erstarrt.
Was mögen Anand und Topalow in diesen Minuten in ihrer Dunkelkammer denken? Die
Spieler auf der Bühne tun so, als sei nichts geschehen.

Hinter dem Vorhang, als noch Licht brannte
Nach einer
Ewigkeit geht das Licht wieder an. Was war passiert? Ein Stromausfall hatte an
diesem Nachmittag das halbe Zentrum von Sofia lahmgelegt. „Wir sind hier in
Osteuropa“, sagt mir ein bulgarischer Kollege achselzuckend. Tags darauf folgt
eine schriftliche Entschuldigung des privaten Stromanbieters an die
WM-Organisatoren. Schiedsrichter Werner Stubenvoll aus Österreich ist so nett,
uns später ein Statement zu dem unglaublichen Vorkommnis zu geben: „Die
Unterbrechung dauerte exakt 16 Minuten. Wir mussten noch etwas warten, weil eine
Lampe flackerte. Darum ließen wir sie nochmal aus- und einschalten. Dann war
alles wieder in Ordnung. Ich hatte vorher die Schachuhr angehalten. Die Spieler
bekamen dann als Ausgleich für die Störung jeweils zwei Minuten Zeitgutschrift.
Sie waren damit zufrieden, und die Partie ging weiter.“
Auch wenn
ihnen zeitweilig die Sicht genommen wurde, waren Anand und Topalow an diesem Tag
keineswegs schachblind. Beide hielten die Stellung im Gleichgewicht, sie konnten
ja auch in der Zwangspause über ihre Züge nachdenken.

Der Military Club


Hier gibt es die Eintrittskarten
Im
Pressezentrum fragen wir Schachjournalisten uns, ob schon mal bei einem so
wichtigen Schachevent das Licht ausging. Auf der Suche nach einem analogen Fall
fällt meinem russischen Kollegen Juri Wassiljew aus Moskau ein Ereignis ein, das
fast vierzig Jahre zurückliegt. 1971 gab es das spannende WM-Kandidatenfinale
zwischen Bobby Fischer und Tigran Petrosjan in Buenos Aires, bei dem der
Amerikaner die letzte Hürde auf dem Weg zum historischen Kampf gegen Boris
Spasski nahm. Sie spielten in einem Theater der argentinischen Hauptstadt, und
bei einer Partie ging auch dort das Licht aus. Bobby hatte gezogen und ereiferte
sich fürchterlich, weil Petrosjan durch die Stromsperre eine zusätzliche
Bedenkzeit bekam.
Nun, das
Spiel in Sofia ging ohne Zoff weiter, und die bulgarischen Schachfans erhofften
sich einen Sieg ihres Idols. Doch es wurde nicht daraus. Gegen Ende der Partie
kam Präsident Georgi Parwanow. Er setzte sich neben Silvio Danailow in die erste
Reihe und erlebte mit, dass Topalow die Slawische Verteidigung Anands wieder
nicht knacken konnte. Nach 44 Zügen waren die Zugwiederholungen zu Ende und sie
rauchten die Friedenspfeife. In der Pressekonferenz sagte keiner der beiden
Spieler einen Ton zum Stromausfall. Wir haben sie aber kurioserweise auch nicht
danach gefragt.
In der 6.
Partie gab es erneut keinen Sieger. Bemerkenswert war jedoch, dass Topalow dort
dem Champion zum ersten Mal im Match mit Schwarz standhielt. Hat er jetzt ein
besseres Rezept gegen Katalanisch gefunden? Wenn es nach dem bulgarischen
Großmeister Inkjev geht, dann sollte Weselin am besten Katalanisch gar nicht
mehr zulassen. Man kann doch als Schwarzer vorher abweichen. Anand suchte wieder
das aktive Spiel und präsentierte im 10. Zug mit Lg5 etwas Neues. Topalow hatte
in der Folge das Läuferpaar, Anand zwei muntere Springer. Der Weltmeister setzte
den Herausforderer unter Druck, doch dieser verteidigte sich umsichtig. Mit
wenig Material versuchte der Bulgare dann noch einen Königsangriff. Aber es gab
in dieser Phase nichts mehr zu gewinnen. Zugwiederholung - Remis. Mit Beginn der
2. WM-Hälfte werden jetzt die Farben gewechselt. Anand hat deshalb heute nochmal
Weiß. Wenn Topalow die 7. Partie gut übersteht, ist noch alles möglich. Meist
kommt er ja erst im Laufe eines Turniers in Schwung.

Das Grand Hotel. Hier wohnt Topalov

Im Radisson wohnen die FIDE-Leute
„Ich habe mit Bobby Fischer gespielt“
Das zweite
markante Ereignis des Wochenendes in Sofia war der WM-Besuch des kanadischen
Nobelpreisträgers Robert Mundell. Der Professor für Wirtschaftswissenschaften
lehrt an der Columbia Universität in New York und gilt als geistiger Vater des
Euro. Als bekennender Schachfan eröffnete er das „Geisterspiel“ von Anand und
Topalow auf der Bühne und erklärte uns Schachjournalisten anschließend im
Dämmerschein (wir konnten wenigstens die Vorhänge öffnen) die Weltwirtschaft. Er
tat es großartig, immer mit Bezugspunkten zum Schach. Während und nach der
Pressekonferenz war der prominente Mann so liebenswürdig, mir einige spezielle
Fragen zu beantworten.

Ist der Euro die beste Idee ihres Lebens?
Es war
nicht allein meine Erfindung. Das Ganze ist ein langer Prozess gewesen. Schon
seit 1961 habe ich über verschiedene Zonen nachgedacht, in denen man mit der
gleichen Währung bezahlen kann. In den 40 Jahren danach haben sich auch viele
andere Leute mit diesem Thema beschäftigt. Dieser Denkprozess war ein richtiges
Abenteuer. Die wichtigste Schöpfung meines Lebens aber sind meine vier Kinder.
Sehen Sie eine Verbindung zwischen Wirtschaft und Schach?
Auf jeden
Fall. Man muss in der Ökonomie wie im Schach viele Überlegungen anstellen. Jeder
Zug ist eine schwierige Entscheidung. Man kann die richtige treffen oder die
falsche. Das sehen wir in der gegenwärtigen Krise besonders deutlich.
Hat das bankrotte Griechenland ein Schach bekommen, oder ist es
finanziell bereits matt?
Die
Situation ist wie in einer Partie. Jetzt sind die Euroländer im Zugzwang und
müssen helfen, ob sie wollen oder nicht. Sonst verlieren beide Seiten das Spiel.
Noch ist Griechenland nicht matt. Es handelt sich dort in erster Linie um ein
wirtschaftliches Problem und nicht um ein finanzielles. Die Krise in
Griechenland ist kein Problem des Euro als Währung, sondern ein ökonomisches.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn es in Kalifornien ein wirtschaftliches Problem
gibt, dann ist es auch ein Problem für die ganzen USA, doch nicht für den
Dollar.

Es gibt also strategische Parallelen zwischen der Wirtschaft und
Schach?
Genau.
Dreißig Jahre lang gab es viele Auf- und Abschwünge in der Weltwirtschaft. Und
es wurden Fehler gemacht. Die großen Banken, vor allem in Amerika, machten
falsche Züge. Das war sehr schlecht und hat die Krise verursacht. Es wird
höchste Zeit, wieder gute Züge zu tun.
Ist Schach für Sie ein Sport?
Absolut.
Schon der große deutsche Weltmeister Emanuel Lasker von 1894 bis 1921 (Mundell
nannte die Zeitspanne wirklich! – D.K.) bezeichnete Schach als einen Wettkampf.
In der gleichen Weise ist das Leben ein Wettkampf. Wobei der Lebenskampf
natürlich umfassender ist. Schach ist nur ein Teil davon.
Sie sind selbst ein begeisterter Schachspieler. Haben sie den
amerikanischen Weltmeister Bobby Fischer einmal getroffen?
Ich
besuchte ihn ein Jahr vor seinem Tode in Reykjavik. Wir haben dort auch eine
Partie miteinander gespielt. Natürlich hat Fischer gewonnen.
1999 haben Sie in Oslo den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft
bekommen. Im gleichen Jahr erhielt der deutsche Schriftsteller Günter Grass den
Preis für Literatur. Erinnern Sie sich an ihn?
Ja, ich
entsinne mich. Grass ist ein großartiger Mann. Wir feierten gemeinsam in Oslo.
Er tanzte dort ausgelassen. Sein Buch „Die Blechtrommel“ kenne ich natürlich. Es
ist hervorragend. Die Verfilmung des Romans hat ja auch einen Oscar bekommen.
Die meisten Nobelpreisträger schreiben ihre Autobiographie. Wann
tun Sie das?
Bisher
hatte ich keine Zeit dazu.
Wie lange wollen Sie noch an der Columbia Universität
unterrichten?
Mit 77
Jahren fühle ich mich noch nicht zu alt.
Günter Grass ist schon 82. Er arbeitet auch noch weiter.
Na sehen
Sie. Dagegen bin ich ja noch jung.
Wo leben Sie?
Abwechselnd
in New York und Italien.
Danke für ihre klugen Antworten. Es war ein Vergnügen, Sie
kennengelernt zu haben!