„Wo sind die Großmeister?“

von Hartmut Metz
13.08.2019 – Prominentester Teilnehmer bei den Deutschen Meisterschaften im Chess 960 war Vlastimil Hort. Er unterlag aber in der Schlussrunden Frederik Stobbe und kam nicht in die Preisränge. Hartmut Metz berichtet. | Fotos: Hartmut Metz und Eric van Reem

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Jonas Rosner macht Doppelschlag bei der Chess960-DM in Wiesbaden perfekt

„Wo sind die Großmeister?“ Der verblüffte Ausruf entfuhr Organisator Hans-Walter Schmitt bei der Siegerehrung zur Deutschen Meisterschaft (DM) im Chess960.

Schiedsrichter Hans-Dieter Post (Mitte) gibt den Startschuss.

Im vereinseigenen Schachtempel des traditionsreichen Wiesbadener SV von 1885 scharten sich fünf Amateure um den gewaltigen Pokal für den Sieger statt der vier favorisierten Großmeister, die mit den unter 960 Möglichkeiten ausgelosten Startstellungen offenbar ihre liebe Not hatten.

Neuer Deutscher Meister im Chess960: Jonas Rosner stemmt den riesigen Pokal.

In Händen hielt diesen überdimensionierten Cup Jonas Rosner. Der IM vom badischen Oberligisten Ettlingen marschierte souverän durch das Feld. In der fünften Runde schlug der 28-Jährige den letztlich zweitplatzierten Ilja Schneider (HSK Lister Turm). Mit einem Erfolg über IM Johannes Carow (Heidenheim) bewahrte Rosner seine weiße Weste und lag auf der Zielgeraden einen vollen Zähler vor den Verfolgern.

Die Auslosung bescherte ihm nun auch noch Hartmut Metz. Der Spieler des Veranstalters Chess Tigers war äußerst friedlich gestimmt – schließlich hatten er und Rosner tags zuvor in Hofheim zusammen das erste Schach-Tischtennis-Turnier haushoch gewonnen.

Kurzes Spitzenspiel in der letzten Runde: Hartmut Metz (links) ebnet seinem Tischtennis-Doppelpartner Jonas Rosner nach wenigen Zügen mit einem Remis den Weg zum souveränen Sieg.

Daher fackelte Metz nicht lange mit dem Remisangebot und gönnte seinem Doppelpartner mit den 6,5/7 den Doppelschlag in Hofheim und Wiesbaden. Seine 5,5 Punkte brachten ihm den fünften Platz ein. Zwischen ihn und Schneider (6/7) schoben sich Patrick Chandler und Josef Gheng (SK Wernau/5,5). Letzterer zählte mit einer Elo von 2229 nicht gerade zum engen Favoritenkreis, kann aber immerhin den ersten DM-Sieg im Chess960 anno 2012 in Waldbronn (bei Karlsruhe) vorweisen. Chandlers dritter Rang mit sechs Punkten war dagegen eine Sensation. Entsprechend ballte der krasse Außenseiter mit einer Elo von 2087 die Faust, als Carow in hoffnungsloser Stellung aufgab. „Taktisch lief es gut. Wenn ich ordentlich aus der Eröffnung komme, habe ich auch meine Chancen“, befand Chandler und verwies darauf, dass „ich schließlich auch schon seit 1982 Schach spiele“.

Turniersensation Patrick Chandler (rechts) überrollt am Schluss auch Johannes Carow.

Das hatte in Runde sechs zudem Thorsten Michael Haub als einer der gescheiterten Großmeister zu spüren bekommen. „Gegen ihn opferte ich die Qualität“, berichtete der Bronzemedaillen-Gewinner vom SC Nied und gestand, „eigentlich wollte ich nur den Ratingpreis bis 2200 Elo gewinnen …“

„Wo sind die Großmeister?“ Auf Rang acht findet sich der erste: Alexander Donchenko. Der Deizisauer Bundesligaspieler zeigte bis kurz vor Schluss der fünften Runde eine souveräne Vorstellung. Carow hatte der Topfavorit (2625 Elo) dank eines Qualitätsopfers völlig überspielt. Durch hübsche Springermanöver zog der Heidenheimer IM zunächst den Kopf aus der Schlinge. Und als Donchenko mit zwei Figuren für Turm auf Gewinn stand, brach ihm die Zeitnot das Genick. Einmal hatte er mit nur einer Sekunde auf der Uhr seinen Zug noch ausgeführt. Die fünf Sekunden Zugabe zu den 20 Minuten Grundbedenkzeit beruhigten sein Spiel nicht mehr. Carow setzte ihn mit seinen zwei Türmen matt. Und in der letzten Runde unterlief dem Chess960-Meister von 2017 „ein grober Bock. 

Alexander Donchenko (links) unterläuft gegen Ilja Schneider ein „kapitaler Bock“.

Danach war es in der eigentlich symmetrischen Stellung ohne Damen aus“, ließ Schneider das wahre Spitzenspiel nach dem schnellen Remis an Brett 1 Revue passieren. Bauer um Bauer schraubte der IM, dem immer noch eine Norm zum GM-Titel fehlt, aus der schwarzen Stellung. Am Ende waren es vier mehr, bevor Donchenko sichtlich deprimiert aufgab.

„Wo sind die Großmeister?“ Auf Position 14 kam Leonid Milov ein. Der Nürnberger hatte gegen Metz schon in Runde drei Glück, dass dieser ein Remis ablehnte und ein Turmendspiel mit Mehrbauer sogar in den Verlust überzog. Am Schluss hielt ihn jedoch Gheng von den Preisrängen ab und brachte Milov (4,5) die zweite Schlappe bei.

„Wo sind die Großmeister?“ Haub hatte im einzigen Großmeister-Duell des Tages in Runde fünf Milov ausgebremst. Danach lief es für den Plettenberger aber überhaupt nicht mehr. Nach Chandler zog ihm auch der Heusenstammer Arvid von Rahden (2181 Elo) das Fell über die Ohren. Platz 24 unter 87 Teilnehmern mit kargen vier Zählern war die Folge.

„Wo sind die Großmeister?“ Vlastimil Hort wurde ebenfalls ein Opfer von Gheng. Vor allem jedoch  kostete die Niederlage am Ende des Turniers gegen Frederik Stobbe, der lediglich 1891 DWZ aufweist und mit 5/7 den Ratingpreis bis 1900 eroberte, einen Top-Ten-Platz. Den Spaß ließ sich Hort als glühender Chess960-Verfechter dennoch nicht nehmen. „Die Grundstellung mit Schwarz war vielleicht schon schlechter, obwohl nur der Königsspringer und die Dame die Plätze getauscht hatten“, analysierte der ehemalige Weltklassespieler die Startposition, die der traditionellen bei dem Turnier in Wiesbaden am nächsten kam. Er erinnerte auch gerne an den ersten großen Fürsprecher der deshalb auch anfangs Fischer Random Chess genannten Schach-Abart: „Bobby hatte eine Tabelle, in der er notierte, welche Stellungen schlechter sind für Schwarz“, erzählte  Hort von seinem einstigen Rivalen und Freund Bobby Fischer.

Bei Rosner klappte wirklich alles: Außer beim Chess960 und Schach-Tischtennis hatte er auch genügend Fortune bei „Ganz schön clever“, um seinen Ettlinger Vereinskameraden Timo Fucik mit „250:248 um zwei Punkte zu schlagen“, berichtete der Gewinner der 500 Euro Preisgeld augenzwinkernd vom Sieg selbst beim vorabendlichen Gesellschaftsspiel. Der Vorjahres-Fünfte kam in der hessischen Landeshauptstadt vor allem mit den schwarzen Steinen sehr gut zurecht: „Ich peilte immer asymmetrische Stellungen an. Bei einer weißen Ungenauigkeit kann Schwarz im Chess960 dann oft den Spieß schnell umdrehen. So erlebte Ilja Schneider ein Eröffnungsdesaster. Nach zehn Minuten war schon alles vorbei“, analysierte Rosner den größten Unterschied zum normalen Schach. Als „brisantestes Match“ wertete der IM, der bei der Allianz in Stuttgart im Risikomanagement arbeitet, die Vorschlussrunde mit Carow. Wegen der optimalen Punktesumme war der Sieger auch nicht mehr einzuholen. Rosner, der bisher immer im heimatnahen Waldbronn die Chess960-DM mitgespielt hatte und einmal auch Vizemeister geworden war, freute sich: „So ein Schnellschach-Turnier vor mehreren Großmeistern zu gewinnen, ist schon etwas Besonderes.“ Der 28-Jährige schätzt aber seinen Sieg bei der badischen Meisterschaft 2018, seinen IM-Titel und vor allem Rang fünf bei der diesjährigen Deutschen Meisterschaft  höher ein.

Bergit Brendel unterliegt zwar Fabian Fichter, bleibt aber beste Dame im Feld.

Zum echten Chess960-Experten mutierte Ilja Schneider. Der Hannoveraner wurde im Januar Vater und reduzierte seine regen Turnierteilnahmen deutlich, auch wenn ihm die dritte GM-Norm wichtig ist.

Ilja Schneider (rechts) hält Julius Muckle im Endspiel nieder.

„Wenn ich ein Chess960-Turnier sehe, spiele ich es mit, obwohl ich im Chess960 schlechter bin als im normalen Schach. Das war auch hier so, dass ich nicht gut spielte und mich aus mehreren Stellungen herauswinden musste“, berichtete der IM. Im Vergleich zu den sonstigen vier, fünf Chess960-Events im Jahr hat Schneider bei dem mit 2100 Euro Preisgeld dotierten Wettbewerb der „gute Mix an Stellungen gefallen, die ausgelost wurden. Es machte Spaß mit den interessanten Startpositionen“. 

Einmal mehr Deutscher Meister im Chess960: Der Chess Tigers Schachförderverein.

„Wo sind die Großmeister?“ Wenigstens bei der Siegerehrung der Mannschaften schien ein Großmeister vertreten zu sein: Vlastimil Hort! Sein Team der Chess Tigers siegte mit 18 Einzelzählern einen halben Punkt vor Ettlingen mit Rosner (6,5), Fucik (4), Simon Fromme und Michael Mader (beide 3,5). Rang drei sicherte sich Gastgeber Wiesbadener SV (16,5) in der Besetzung Jens Gottschalk (5), Daniel Wichmann, Ulrich Nehmert (beide 4,5) und Michael Hill (2,5). Doch Metz (5,5), Frauenpreis-Gewinnerin Bergit Brendel (4,5) und Christian Schmitt (4) scharten sich ohne Hort um den ebenfalls gewaltigen DM-Pokal – der Großmeister musste vorher los auf den Zug. Es war wohl der beste Zug der Großmeister bei dieser Chess960-Meisterschaft …

Die Gewinner der Sonderpreise: Bergit Brendel (von links/beste Frau), Berthold Engel (Senior) und  der Hockenheimer Marko Dobrikov (Jugendlicher).

 


Hartmut Metz ist Redakteur bei den Badischen Neuesten Nachrichten (BNN) mit Hauptsitz in Karlsruhe. Er schreibt außerdem unter anderem für die taz, die Frankfurter Rundschau und den Münchner Merkur über Schach und Tischtennis. Zudem verfasst der FM und Deutsche Ü50-Seniorenmeister 2023 von der Rochade Kuppenheim regelmäßig Beiträge für das Schach-Magazin 64, Schach-Aktiv (Österreich) und Chessbase.de.

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