Viktor Kortschnoj gehörte für Jahrzehnte zu den besten Spielern der Welt und hat mit seinem Kampfgeist Generationen von Schachspielern inspiriert. Auf dieser DVD spricht er über sein Leben und stellt interessante und wichtige Partien seiner Karriere vor.
Korchnoi und Sosonko kannten sich gut. Beide stammen aus Leningrad, Korchnoi wurde 1931 geboren, Sosonko 1943, das erste Mal begegnet sind sie sich 1956, bei einem Simultan. Anfang der 1970er Jahre wurde Sosonko Korchnois Trainer, aber bevor Sosonko die Sowjetunion 1972 verließ, beendete er die Zusammenarbeit mit Korchnoi, um ihn politisch nicht zu belasten.
1976 kehrte Korchnoi der Sowjetunion selbst den Rücken und beantragte nach einem Turnier in Holland in Amsterdam politisches Asyl. Die beiden Exilanten trafen sich oft und hatten regen Kontakt, aber einfach war die Beziehung nicht, dafür sorgte Korchnois schwieriger Charakter:
Er akzeptierte keine Kompromisse und konnte die Freunde von gestern problemlos als Feinde von heute sehen. Im Prinzip war der Grund dafür immer der gleiche – irgendwann wurden sie in Korchnois Augen eine Hürde, die ihn auf seinem Weg zum Gewinn des Weltmeistertitels behinderte. ... Es fällt schwer, im Kreise seiner Familie, Freunde oder Kollegen jemanden zu nennen, mit dem er nie Streitigkeiten hatte. Nur Großmeister, die nur sehr kurz mit ihm zusammengearbeitet haben, entgingen diesem Schicksal. (S. 109-111)
Korchnois Sohn Igor sagt über seinen Vater: "Wenn es verschiedene Möglichkeiten gab, mit einer bestimmten Situation umzugehen, dann wählte mein Vater immer den Weg des größten Konflikts." (S. 225)
Doch trotz aller Streitereien hielt die enge Verbindung von Sosonko und Korchnoi bis zu Korchnois Tod. So schreibt Sosonko in der Einleitung des Buches:
Viktor hat mir mehr als einmal gesagt: 'Du bist mein Testamentsvollstrecker.’ Ich weiß nicht genau, welche Bedeutung er diesen Worten beimaß, aber ich betrachte es als meine Pflicht, mich an alles zu erinnern, was ich vom diesen bemerkenswerten Menschen weiß. Vor allem das, was nur ich weiß. (S. 12)
Doch Sosonko will keine klassische Biographie schreiben, wie er mit einem Verweis auf Sigmund Freud erklärt. Freud hatte in einem Brief an den mit ihm befreundeten deutschen Schriftsteller Arnold Zweig einmal Vorbehalte gegenüber Biographien geäußert: „Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge, zur Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei und selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu brauchen.“ (Sigmund Freud, Briefe an Arnold Zweig, Herausgegeben von Ernst und Lucie Freud, Frankfurt am Main: S. Fischer 1968, S. 137)
Genna Sosonko, Evil-Doer: Half a Century with Viktor Korchnoi, Elk and Ruby Verlag 2018
Sosonko schreibt: "Ich habe nicht versucht, Korchnois Biographie zu schreiben. Dies ist vielmehr eine Sammlung von Erinnerungen oder, um noch genauer zu sein: eine Sammlung erklärender Notizen und Interpretationen der unverständlichen oder missverstandenen Ereignisse aus dem komplexen Leben eines Mannes, den ich fast ein halbes Jahrhundert lang kannte. .... Ich wünsche mir, dass diese Erinnerungen nicht nur die Motive hinter seinen widersprüchlichen Handlungen deutlich machen, sondern auch Licht auf seine Einstellung zum Schach, seine Persönlichkeit und sein Verhalten im Alltag werfen. ... In meinen Reflektionen über diesen großen Spieler wollte ich ihn ungeschminkt zeigen, mit all seinen Fehlern und Schwächen." (S. 12-13)
Sosonko schreibt zwar keine typische Biographie, aber er spannt in seinen Erinnerungen doch einen Bogen von der Kindheit Korchnois bis zu dessen Tod.
Korchnoi wurde am 23. März 1931 in Leningrad als Sohn einer jüdischen Familie geboren. Korchnois Eltern trennten sich früh und Korchnoi wuchs bei seiner Stiefmutter auf, der neuen Frau seines Vaters. Sie half ihm auch, die Blockade Leningrads im Zweiten Weltkrieg zu überleben, bei der die deutsche Wehrmacht die Stadt belagerte, um die Bewohner auszuhungern. Die Blockade dauerte von September 1941 bis Januar 1944 und kostete etwa 1,1 Millionen Leningradern das Leben – die meisten davon waren verhungert.
Das Schach entdeckt Korchnoi nach dem Krieg, im Pionierpalast, wo ihn Vladimir Zak unter seine Fittiche nimmt. Ein anderer berühmter Schüler Zaks ist Boris Spassky, mit dem Korchnoi eine lebenslange Rivalität verbindet. Korchnoi fehlt das Talent Spasskys, aber er arbeitet wie ein Besessener und erzielt bald erste Erfolge. Später sagt er: „I wollte jedes Hindernis mit brutaler Kraft überwinden. Ich war so von mir überzeugt, dass es schon albern war.“ (S.19)
1947 gewinnt Korchnoi die sowjetischen Jugendmeisterschaften. Viele Jahre später schaut er sich die Partien, die er bei dieser Jugendmeisterschaft gespielt hat, noch einmal an, und kommt zu dem Schluss: „Absolut kein Talent! Ich hätte diesen jungen Mann nie in meinen Schachklub gelassen.“ (S. 19)
Doch Korchnois harte Arbeit, seine Energie und sein Siegeswillen zahlen sich aus und er entwickelt sich allmählich zu einem der besten Spieler der Sowjetunion und damit der Welt. 1956 wird er Großmeister, 1962 qualifiziert er sich für das Kandidatenturnier in Curacao. 1968 spielt er im Finale der Kandidatenwettkämpfe gegen Spassky, aber verliert. 1971 scheitert er im Halbfinale der Kandidatenwettkämpfe an Tigran Petrosian, 1974 schafft er es wieder ins Finale des Kandidatenturniers, aber unterliegt dort knapp gegen Anatoly Karpov.
Korchnoi 1962 bei einem Mannschaftskampf UdSSR-Niederlande. Tigran Petrosian und Jan Hein Donner schauen zu. | Foto: Harry Pot / Anefo [CC0], via Wikimedia Commons
Anschließend gibt Korchnoi der jugoslawischen Zeitschrift Politika ein Interview, in dem er, so Sosonko, „nur wenig Schmeichelhaftes über den Wettkampfsieger zu sagen hat, und vor allem andeutet, dass seine Niederlage durch Druck ‚von oben’ zustande kam“. (S. 63) Das macht dieses Interview zum Politikum und Korchnoi wird daraufhin in der sowjetischen Schachpresse scharf angegriffen, vor allem von Tigran Petrosjan. Korchnoi befürchtet, dass der sowjetische Schachverband ihn sanktionieren könnte und beantragt im Juli 1976 nach einem Turnier politisches Asyl in Amsterdam, um ungehindert Schach spielen zu können.
Korchnoi in der ersten Runde des IBM-Turniers 1976 | Foto: Rob Bogaerts / Anefo [CC0], via Wikimedia Commons
Korchnois Flucht in den Westen ist eine politische Blamage und ein Affront für die Sowjetfunktionäre und sie schlagen mit aller Macht zurück, um den „Übeltäter“ zu bestrafen. Korchnois Name wird in sowjetischen Zeitschriften nicht mehr erwähnt, sowjetische Spieler boykottieren Turniere, bei denen Korchnoi dabei ist, seine Frau und sein Sohn, die er in der Sowjetunion zurückgelassen hat, werden unter Druck gesetzt.
Doch das scheint Korchnoi nur noch mehr motiviert zu haben. Er gewinnt die folgenden Kandidatenwettkämpfe und spielt 1978, da war er bereits 47 Jahre alt, in Baguio City auf den Philippinen gegen Anatoly Karpov um die Weltmeisterschaft. Der erbittert und mit vielen schmutzigen Tricks geführte Weltmeisterschaftskampf endet nach 32 Partien mit einem knappen 6-5 Sieg von Karpov – Remispartien wurden nicht gewertet.
Nur eine Woche nach dem Wettkampf gegen Karpov auf den Philippinen spielt Korchnoi bei der Schacholympiade 1978 in Buenos Aires am ersten Brett für die Schweiz. Er holt 9 Punkte aus 11 Partien und erzielt das beste Ergebnis an Brett eins.
1981 spielte Korchnoi in Meran zum zweiten Mal gegen Karpov um die Weltmeisterschaft, doch anders als drei Jahre zuvor kann er Karpov dieses Mal nicht gefährlich werden und verliert den Wettkampf klar mit 7-11. Korchnois Traum Weltmeister zu werden, scheint damit endgültig ausgeträumt, aber er gehört immer noch zu den besten Spielern der Welt.
Korchnoi vor Beginn der ersten Partie des WM-Kampfs in Meran | Foto: Isabel Hund (Isabel Hund) [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons
1983 trifft er im Halbfinale des Kandidatenturniers auf den jungen Garry Kasparov, doch der Wettkampf zwischen den beiden kommt zunächst nicht zustande, weil sich die FIDE und der Sowjetische Schachverband nicht auf einen Austragungsort einigen können. Die FIDE erklärt Korchnoi daraufhin kampflos zum Sieger. Doch drei Monate später findet der Kampf doch noch statt. Die FIDE und der Sowjetische Schachverband hatten sich geeinigt und auch Korchnoi hatte sich bereit erklärt, gegen Kasparov zu spielen – im Gegenzug dafür endete der Turnierboykott der sowjetischen Spieler gegen ihn. Doch Korchnoi konnte dem aufstrebenden Kasparov nur wenig entgegen setzen und verlor den Wettkampf mit 4-7. Zwei Jahre später war Kasparov Schachweltmeister, der jüngste der Schachgeschichte.
Korchnoi beim Hoogovens Turnier 1985 | Foto: Rob Croes / Anefo
Seinen letzten Kandidatenwettkampf spielte Korchnoi 1991, im Alter von 60 Jahren. Er unterlag Jan Timman im Viertelfinale der Kandidatenwettkämpfe mit 2,5-4,5.
Korchnoi musste dem Alter Tribut zollen, auch wenn seine Schachleidenschaft grenzenlos war. Sosonko schreibt: „Er spielte es mit Leidenschaft, wie in einem Rausch, und für niemanden, den ich im Laufe meiner Schachkarriere getroffen habe, war Schach wichtiger als für ihn. Und ich habe eine Menge Leute getroffen.“ (S. 252)
Mit zunehmendem Alter und nachlassender Spielstärke wurde diese Leidenschaft zu einer Obsession. Früher war Korchnoi begeisterter Skifahrer gewesen, konnte Nächte durchtanzen, spielte gerne Karten, interessierte sich für Geschichte, Politik, Literatur, doch im Alter kannte er nur noch das Schach.
Zwar erzielte Korchnoi weiterhin bemerkenswerte Erfolge – z.B. wurde er 2006 Seniorenweltmeister und 2011 gewann er beim Open in Gibraltar gegen Fabiano Caruana – aber er war einfach nicht mehr so gut wie früher, auch wenn kaum ein Spieler der Schachgeschichte im Alter so stark gewesen ist wie Korchnoi.
Korchnoi bei der Schacholympiade 2008 in Dresden | Foto: Frank Hoppe, CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons
Seine nachlassende Spielstärke bei einem unvermindert tiefen Spielverständnis führte bei Korchnoi zu der Neigung, jüngere Gegner zu belehren – auch wenn sie gegen ihn gewonnen hatten. Dabei machte Korchnoi auch vor den besten Spielern nicht Halt:
Als Anand in den 90er Jahren in die Weltspitze aufstieg, äußerte sich Korchnoi ziemlich abfällig über das Spiel des jungen Inders. Anand beklagte einmal sogar, dass er zwar bereits ein Dutzend Partien gegen Korchnoi gewonnen hatte ohne eine einzige Niederlage hinnehmen zu müssen, aber Korchnoi ihm dennoch jedes Mal sagen würde, dass er keine Ahnung vom Schach hätte. Doch die Leistungen des Inders in den 2000er Jahren haben Korchnoi gezwungen, am Ende einer der größten Fans von Vishy zu werden. (S. 270)
Auch von Carlsen hielt Korchnoi nicht viel. Nach Carlsens geteiltem ersten Platz beim Turnier in Wijk aan Zee 2008 – Carlsen war damals 17 Jahre alt – meinte Korchnoi: "Ich habe keine hohe Meinung von Carlsen. Er ist ein ungewöhnlich schwacher Spieler, er hat einfach Glück, er versteht nicht viel von Strategie." (S. 264)
Wie widersprüchlich Korchnoi war, zeigt sich daran, dass er später den eigentlichen Grund für seinen Groll gegen Carlsen verriet: "Ich bin neidisch auf Carlsen! ... Um dieses Niveau zu erreichen, musste ich viele Jahre harter Arbeit investieren, aber ihm fällt das leicht." (S. 268)
Es sind solche Anekdoten und Geschichten, die den widersprüchlichen Charakter Korchnois lebendig werden lassen und Sosonkos Buch ist voll davon. Sosonkos Reflektionen, Kommentare, Hintergrundinformationen und sein wohlwollender Blick auf die Stärken und Schwächen Korchnois verbinden diese Geschichten und machen Evil-Doer zu einem sehr gut lesbaren und unterhaltsamen Buch.
Sosonko und Korchnoi in Zürich 2015 | Foto: Evgeny Surov
Am Ende des Buches zitiert Sosonko ein Gespräch, das der kanadische Großmeister Kevin Spraggett mit Korchnois altem Rivalen, Boris Spassky, einmal über Korchnoi führte:
[Spassky] begann damit, die vielen Qualitäten Korchnois aufzuzählen:
- Killerinstinkt (niemand kann sich hier auch nur annähernd mit Viktors ‚Talent’ messen
- Phänomenale Arbeitsfähigkeit (sowohl am Brett als auch abseits des Bretts)
- Nerven wie Drahtseile (auch wenn er nur noch Sekunden auf der Uhr hatte)
- Rechenfähigkeiten (vielleicht war nur Fischer hier besser)
- Zähigkeit und Ausdauer in der Verteidigung (unerreicht)
- Die Fähigkeit zum Gegenangriff (unübertroffen in der Schachgeschichte)”… Tadellose Technik (makellos, sogar besser als die von Capablanca)
- Konzentrationsfähigkeit (unwirklich)
- Unempfindlich für Ablenkungen während der Partie
- Brillantes strategisches Verständnis
- Grandioser Taktiker (nur ein paar wenige Spieler der Schachgeschichte können sich mit Viktor vergleichen)
- Hatte die tiefste Eröffnungsvorbereitung aller Großmeister seiner Generation
- Raffinierter Psychologe
- Übermenschlicher Siegeswille (nur Fischer war ihm ebenbürtig)
- Tiefes Wissen über alle seine Gegner
- Enorme Energie und Selbstdisziplin
Dann machte Boris eine Pause und schaute mich einfach nur an, so als ob er mich auffordern wollte, die Frage zu stellen, die gestellt werden musste …Ich stellte sie: “Aber Boris, was fehlt Viktor, um Weltmeister zu werden?” Boris’ Antwort ... : ‚Er hat kein Schachtalent!’
Und dann schüttelte sich Spassky vor Lachen. (S. 298-299)
Korchnoi starb am 6. Juni 2016 in seinem Schweizer Wohnort Wohlen. Vielleicht hatte er, verglichen mit Spassky, wirklich wenig Schachtalent. Aber sein enormer Siegeswille, seine grenzenlose Liebe zum Schach und nicht zuletzt sein kontroverser Charakter haben Korchnoi zu einem der bedeutendsten und interessantesten Spieler in der Geschichte des Schachs gemacht. Und mit Evil-Doer hat Sosonko dieser vielschichtigen und widersprüchlichen Persönlichkeit ein würdiges Denkmal gesetzt.