World Cup – Vincent in Runde 3

von Thorsten Cmiel
07.11.2025 – Auftaktrunden bei Turnieren sind für Schachspieler aller Spielstärken schwierig. Man weiß nicht wie man mit den Spielbedingungen zurecht kommt und wie das Denken in dem neuen Umfeld funktioniert an dem Tag. Vincent begann stark. Auch wenn er selbst nicht zufrieden ist wie es zum Schluss lief. Zuschauer sahen eine grandiose Partie. | Foto: Michal Walusza. FIDE World Cup in Goa

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Der folgende Beitrag erschien bei chessecosystems.com. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung. 

World Cup – Vincent in Runde 3

Der Gegner von Vincent in der zweiten Runde des diesjährigen World-Cup in Goa (Indien) – zur ersten Runde mussten Spieler in der Vincent-Klasse nicht ran – hieß Vladislav Kovalev. Dieser tritt unter FIDE-Flagge an und stammt ursprünglich aus Belarus. Seine beste Elozahl erreichte Vladislav im Jahr 2019 mit 2703, aber danach ging es stetig bergab. Über die Ursachen ist wenig bekannt, er soll in Batumi leben. Seine letzte Elo-gewertete hatte Kovalev jedenfalls lange Zeit vorher gespielt, bei der Europameisterschaft 2024 in Petrovac, fast ein Jahr zuvor.

Schnelldurchlauf

Bevor man eine komplexe Partie wie diese ausführlich analysiert sollte man die Partie mehrfach durchspielen. Das automatische Vorspielen mit einem Diagramm (GIF) ist ein nettes Tool. Wer etwas lernen will, der versucht bei diesen Durchgängen schon mögliche Kipppunkte in der Bewertung zu identifizieren. Das gelingt mit etwas Erfahrung ganz gut, aber natürlich nur rudimentär. Im nächsten Schritt geht man die Partie durch und zieht in manchen Momenten die Maschine zu Rate, um sich besser zurecht zu finden. Das sollte allerdings nicht dazu führen eine unsachliche Bewertung des Spiels der Matadoren – ich bin gerade in Spanien – vorzunehmen.

Partie unkommentiert zum Nachspielen im eigenen Tempo (ein Wunsch eines Nutzers aus Aachen).

„Die Reaktionen der Leute bei ihrem ersten Opernbesuch sind immer sehr extrem. Entweder man liebt es oder man hasst es. Wer es liebt, der wird es immer lieben. Wer es nicht mag, wird es vielleicht lernen zu schätzen, aber es wird nie ein Teil seiner Seele werden.“

Richard Gere als Edward Lewis in der berühmten Opern-Szene im Film „Pretty Women“ (1990) zu Julia Roberts als Vivian Ward.

In Abwandlung des obigen weltberühmten Zitates, das in der deutschen Filmversion nach meiner Erinnerung etwas anders lautete, sei mein folgender Hinweis verstanden: Wer diese Partie nur mit der Maschine anschaut und danach Kritik an Vincents Spiel äußert, der liebt das Spiel, seine Komplexität und seine Dynamik nicht wirklich. Der einzige, der das schwarze Spiel und das Auf und Ab am Schluss kritisieren sollte und es auch darf, das sind die Spieler selbst.

Analyse in Abschnitten

Ich halte es für Analysezwecke bei längeren und vor allem komplexen Turnierpartien für eine gute Idee, die Partie in mehreren Abschnitten zu analysieren. Das sind oft Phasen wie Eröffnung und frühes Mittelspiel, dann bis zur ersten Zeitkontrolle und je nach weiterem Verlauf folgen oft mehrere weitere Phasen. Drei oder vier Phasen insgesamt reichen oft aus, aber manchmal sind es auch mehr.

Anmerkung der Redaktion: Thorsten Cmiel hat in seinem Original-Beitrag die Partie in mehrere Schlüsselstellungen aufgeteilt und mit Testfragen verbunden. In diesem Nachdruck wurden die Diagramme mit den Testfragen gekürzt.

Abschnitt 1

Abschnitt 2

Abschnitt 3

Abschnitt 4

Mein Fazit zur ersten Partie

Die Partie dauerte insgesamt etwa fünf Stunden. Nach anspruchsvoller Eröffnungsphase und kreativem Spiel vor allem von Vincent kam es im frühen Mittelspiel zu einer asymmetrischen Materialverteilung, die Vincent etwas materiell bevorteilte. In der folgenden Spielphase des späten Mittelspiels und frühen Endspiels tauschte Kovalev einen Läufer falsch und er befand sich zunehmend auf verlorenem Posten. Danach vergrößerte Vincent seinen Vorteil stetig und eroberte durch kreatives Spiel gegen den gegnerischen Springer auf a7 zwei Bauern am Damenflügel. Erst in der letzten Spielphase, die zunehmend durch Zeitnot geprägt war, entglitt Vincent die Partie, da er wenige Entscheidungen nicht pragmatisch genug anging. Insgesamt war die Partie eine grandiose kreative Leistung gegen einen starken Großmeister, die Hoffnung auf ein erfolgreiches Abschneiden im World Cup macht.

Wer die gesamte Partie mit den Reaktionen beider Spieler am Brett beobachten möchte für den hält die FIDE einen eigenen Stream bereit. Vor allem die entscheidende Phase nach fünf Stunden ist interessant zu beobachten.

   


   

Transkript des Kurzinterviews mit Charlize van Zyl

Charlize: Ich bin hier mit Vincent Keymer, der gerade seine Partie nach einem Wechselbad der Gefühle gewonnen hat. Sie haben zunächst einen schönen Vorteil, dann ist die Partie ausgeglichen, und dann spielen Sie diesen schönen Zug f7-f6, woraufhin Ihr Gegner einen Fehler macht. Erzählen Sie uns Ihre Gedanken zu dieser Partie.

Vincent: Ich dachte, dass es nach der Eröffnung einfach eine komplexe Partie war. Als er irgendwann seinen Springer nach b5 zog, hatte ich das Gefühl, dass er einen Fehler gemacht hatte. Das Endspiel sollte sehr schlecht für ihn sein. Und dann stand ich komplett auf Gewinn. Der einzige Grund, warum ich es beinahe vermasselt habe, ist, dass ich dachte, es gäbe einen einfacheren Weg den Springer gegen nichts zu erobern. Man denkt immer, man könne es hinbekommen, denn wenn man es nicht macht dann ist es sehr peinlich. Also habe ich versucht, einen anderen Gewinnweg zu finden. Es ist dumm ein solches Risiko einzugehen. Ich meine, ich hätte einfach meinen Springer nach e5 ziehen und auf g4 schlagen sollen, und dann hätte ich Technik zeigen müssen. Das ist nicht so schwierig. Ich meine, wir alle kennen die Muster. Dann hätte ich diese Partie leicht gewonnen. So war es wirklich beängstigend. Ich meine, wenn er sein König nach f5 statt den Bauern nach h7 gespielt hätte, wäre es wohl nur ein Unentschieden geworden. Es war ein Schock, dass ich es geschafft habe eine solche Gewinnstellung zu vermasseln. Ich glaube sogar, dass ich irgendwann nach dem Turmzug nach a1 einfach mit dem König hätte zurückgehen können. Es gab also viele einfache Gewinne und ich habe mich für den schwierigen Weg entschieden, der nicht einmal zum Sieg geführt hat. Das ist schlecht, aber ich bin froh, dass ich meine erste Partie mit Schwarz gewonnen habe. Wenn ich morgen eine solide Partie spiele, habe ich gute Chancen, in die nächste Runde zu kommen.

Charlize: Und der Zeitdruck, dein Umgang mit der Zeit ist sogar für Zuschauer sehr stressig. Ich meine, du hast eine Minute. Er hat noch zehn Minuten. Wie bist du mit diesem Stress umgegangen und wirst du dein Zeitmanagement in Zukunft verbessern?

Vincent: Ich denke, in dieser Stellung geht es nicht um den Zeitunterschied, sondern nur um meine Zeit natürlich. Es ist einfach eine dumme Entscheidung, nicht auf Springer e5 zu setzen und diese Stellung zu spielen, weil sie nicht so schwierig ist. Und ich hätte diese Partie wahrscheinlich leicht gewonnen. Es ist einfach eine dumme Entscheidung.

Charlize: Vincent, du hast beim FIDE Grand Swiss so gut gespielt und es dann leider nicht unter die ersten beiden geschafft. Was hast du seitdem mental vorbereitet, um dich in dieser letzten Chance für die Kandidatenrunde zu qualifizieren?

Vincent: So gut wie nichts. Ich muss ehrlich sein, ich finde, dass ich in den letzten Turnieren gut gespielt habe, und ich versuche einfach das beizubehalten. Das Wichtigste ist gut vorbereitet und ausgeruht anzutreten, denn wenn alles gut läuft, haben wir ein sehr langes Turnier vor uns. Außerdem ist es sehr nervenaufreibend ein K.o.-Turnier zu spielen. Es ist nicht dasselbe wie ein normales Turnier, denn normalerweise kann man sich von einem Fehler oder sogar einer Niederlage erholen. Aber hier bedeutet eine Niederlage in einer klassischen Partie normalerweise das Ausscheiden. Man kann sich also wirklich nicht viele Fehler leisten.

Charlize: Letzte Frage. Du trägst diesen schicken Ring, während du spielst. Unsere Zuschauer haben sich darüber gewundert. Ist das dein Glücksbringer? Erzähl uns davon.

Vincent: Er ist nur ein Glücksbringer. Seitdem habe ich viele Wertungszahlen erreicht. Ich habe ihn gekauft als ich bei 2700 war, 2720 im Mai, und jetzt bin ich bei 2773, also denke ich, dass ich ihn anbehalten werde.

Charlize: Vielen Dank, Vincent. Viel Glück für morgen.

Vincent: Danke.

Die zweite Partie

In der zweiten Begegnung dieses Matches versuchte Kovalev früh sein Glück in einem zeitweisen Bauernopfer. Vincent konterte ihn kühl aus und gewann recht überzeugend auch die zweite Partie.

Zufrieden sein dürfte Peter Leko, der nicht nur einen Schützling im Rennen hat, der gut in Form ist. Peter gewann sein eigenes Match gegen den australischen Großmeister Bobby Cheng. Nebenbei erfährt man von dem Foto, dass der Dresscode der FIDE offenbar inzwischen auch Jeanshosen erlaubt.

Ein Hinweis

Ich habe in den nächsten Tagen ein eigenes Turnier in Alicante zu spielen. Aber die grandiose erste Partie von Vincent hat mich motiviert sein Turnier hier ebenfalls ein wenig zu covern und Analysen folgen zu lassen. Im besten Fall qualifiziert sich Vincent ebenfalls für das Kandidatenturnier. Er ist inzwischen ausreichend stark und stabil dort ein wichtige Rolle zu spielen. Da ich vorhabe das Turnier vor Ort zu covern wäre ein zweiter deutscher Spieler im Kandidatenturnier ein tolle Sache.

Fotos: Michal Walusza und Eteri Kublashvili FIDE World Cup Goa 2025.


Thorsten Cmiel ist Fide-Meister lebt in Köln und Milano und arbeitet als freier Finanzjournalist.
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