Zeitreise: Cambridge Springs 1904 - Das Turnierbuch

von André Schulz
20.12.2019 – Mit einer kleinen Verspätung von 115 Jahren ist jetzt ein sehr schönes Turnierbuch erschienen. Michael Dombrowsky lädt zu einer Zeitreise zum Turnier von Cambridge-Springs ins Jahr 1904 ein - das Warten hat sich gelohnt!

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Was lange währt, wird gut

Früher einmal bildeten die Turnierbücher einen nicht unerheblichen Teil der Schachliteratur. Schachturniere fanden noch nicht im Wochenrythmus statt und konnten nur unter großem Aufwand durchgeführt werden. Auch für die Spieler war der Reiseaufwand gewaltig, besonders natürlich, wenn das Turnier auf einem anderen Kontinent durchgeführt wurde. Die heute gewohnten billigen Flugverbindungen zwischen den Metropolen gibt es ja noch nicht so lange. Bis zum Zweiten Weltkrieg fuhr man mit dem Schiff von Kontinent zu Kontinent. Bei einem solchen Aufwand war es selbstverständlich, dass man den Verlauf des Turniers und die dort gespielten und hinterher sorgfältigst analysierten und kommentierten Partien in einem schönen Turnierbuch für die Zeitgenossen, aber auch für die Nachwelt festhielt. Oft lag der Schwerpunkt auf den Partien. Ohne diese Turnierbücher und auch Bulletins gäbe es heute keinen historischen Anteil in der Mega Database. Dort findet man jetzt praktisch alle wichtigen historischen Turniere mit ihren Partien. Was aber fehlt, sind die Geschichten dazu. Wer hat das Turnier organisiert? Warum fand es statt? In welchem Gebäude und unter welchen Bedingungen wurde gespielt? Warum setzte sich das Turnierfeld so zusammen, wie es dann war? Gab es Start- und Preisgelder? In welcher Höhe? Wie waren die Bedingungen, etc., etc.?

Bei manchen großen alten Turnieren würde man sich wünschen mehr darüber zu erfahren. Was sagt Ihnen z.B. der Name Cambridge-Springs? Einigen fällt sicher sofort die zum Namen gehörende Variante im Damengambit ein. Diese Variante wurde bekannt, nachdem sie mehrfach bei einem Turnier in Cambridge-Springs angewandt wurde - das war 1904. 

Das Turnier von Cambridge-Springs 1904 spielt in der Geschichte des Schachs aus mehreren Gründen eine gewisse Rolle. Weltmeister Emanuel Lasker hatte nach seinem Turniersieg in Paris 1900 eine Turnierpause eingelegt, spielte danach nur ein paar kleiner Matches und gab vor allem Simultanvorstellungen, viele in den USA. Beim Turnier in Cambridge-Springs trat Lasker wieder in die Turnierarena, doch ihm wurde der Rang vom 11 Jahre jüngeren US-Amerikaner Frank Marshall abgelaufen. Der zu dieser Zeit 36-jährige Lasker und Janowski teilten den zweiten Platz.

Durch das Schachturnier von 1904 ging der Name des Ortes unsterblich zumindest in die Schachgeschichte ein. Doch wo liegt denn dieses Cambridge-Springs überhaupt? Tatsächlich handelt es sich um ein kleines, heute unbedeutendes Örtchen südlich des Erie-Sees. Washington und die Ostküste sind über 400 km entfernt. Nach New York sind es über 500 km. Cambridge-Springs wirbt damit, dass es auf halber Strecke zwischen New York und Chicago liegt. Früher hatte es deutlich bessere Zeiten erlebt.

Für den genialen Henry Nelson Pillsbury war es das letzte Turnier seiner kurzen Schachkarriere. Er hatte sich schon Jahre zuvor wohl in St. Petersburg eine Syphillis zugezogen, damals unheilbar, und starb bald nach dem Turnier in Cambridge-Sprungs an den Folgen der Erkrankung. Immerhin reichte es noch, Weltmeister Lasker im Turnier auf eindrucksvolle Art zu besiegen.

Das Warten hat sich gelohnt

Nun ist endlich das Turnierbuch zu Cambridge-Springs 1904 erschienen - 115 Jahre danach. Beim Schach muss man sich bisweilen Zeit lassen, das gilt offenbar auch für Turnierbücher. Der Hamburger Journalist und Sammler Michael Dombrowsky hat das Buch geschrieben und er hat es wirklich gut gemacht - auch dank der Hilfe einiger Mitstreiter.

Dombrowsky hat als erstes die Stätte des Geschehens besucht, das Örtchen Cambridge-Springs, und dort als eine Art Schacharchäologe Material gesammelt und viele bislang unbekannte Dinge "ausgegraben". Er traf sich mit Steven Etzel aus Milwaukee, der eine Internetseite zum Turnier Cambridge-Springs 1904 unterhält, aber noch viel mehr Material darüber hat. Über ihn kam Dombrowski mit Philip Right zusammen, dem lebenden historischen Gedächtnis der Stadt Cambridge-Springs. 

In Cleveland besuchte Michael Dombrowsky die Public Library of Cleveland. Sie ist für Schachspieler deshalb von besonderem Interesse, weil hier der Nachlass von Emanuel Lasker hinterlegt ist, Briefe und unbekannte Fotos. Bilder vom Turnier fand Michael Dombrowsky in der "Historic Society of Pennsylvania". Aber auch in Deutschland fand der Autor an vielen Stellen Unterstützung und Hilfe.

Die Organisatoren des Turniers waren Hartwig Cassel, der eigentlich aus Konitz (Westpreußen) stammte und als Journalist in die USA ging, und Herman Helms, der in Brooklyn geboren wurde, aber in Hamburg aufwuchs. Mit 17 kehrte Helms in die USA zurück und wurde wie Cassel Schachjournalist. Anfang des 20 Jahrhunderts wurde in Tageszeitungen ja noch sehr gerne und regelmäßig über Schach berichtet.

Initiator des Turniers war der Unternehmer William D. Rider. Er war reich und hatte sich zu sonstigen Unternehmen auch noch ein Luxushotel gebaut, das Hotel Rider. In Cambridge-Springs hatte man einige Jahre zuvor Heilquellen entdeckt und Rider dachte, dass eine"Wellness"-Hotel hier einigen Profit abwerfen würde.  

Ideen zu einem Weltklasseturnier in den USA hatte es schon länger gegeben, aber alle Projekte waren stets an der Finanzierung gescheitert. Für William D. Rider war das kein Problem. So reisten also im April 1904 eine Reihe von Schachmeistern mit dem Dampfer Pretoria von Europa in Richtung USA, um sich dann in Cambridge-Springs mit den aus den USA kommenden Spielern zum 16-köpfigen Turnierfeld zu vereinen. Die erste Runde wurde am 22. April 1904 ausgetragen. 

Mit seinem Buch über das Turnier in Cambridge-Springs 1904 lädt Michael Dombrowsky den Leser zu einer spannenden Zeitreise ein, liefert eine Fülle von Details und auch eine Menge an zeitgenössischen Fotos. Mit ihnen werden die Protagonisten fast wieder lebendig, die Macher wie Hartwig Cassel, Herman Helms, William D. Rider oder der umtriebige Unternehmer Isaac L. Rice, der im US-amerikanischen Schach dieser Zeit eine große Rolle spielte, und die Spieler sowieso. Alle Beteiligten, auch die etwas weniger bekannten Spieler, finden sich hier in ihren Portraits abgebildet. Befreundete Schachhistoriker und Sammler wie Michael Negele, Hans-Jürgen Fresen und David DeLucia halfen, wenn nötig, mit ihren Quellen aus.

Eine der Seiten mit den Spielerpotraits

Das Buch enthält aber auch viele zeitgenössische Fotos, in denen die Atmosphäre jener Jahre spürbar wird: der Dampfer Pretoria, das Hotel, der Turniersaal, Plakate, Fotos der Spieler während der Partien, prominente Kiebitze - viele Fotos, die man vorher noch nirgendwo gesehen hat.

Die Druckqualität der Bilder im Buch ist besser, als dieser Scan es abbildet

Die interessante Entstehunggeschichte eines solchen Schachturnier zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den vielen fotografischen Details würde das Buch schon mehr als rechtfertigen. Den größten Teil machen aber die Schachpartien aus. Alle Partien wurden rundenweise abgedruckt, dem Verlauf des Turniers entsprechend, und sorgfältig kommentiert, mit Berücksichtigung ihres historischen Kontextes. 

Arno Nickel und Thomas Stark haben sich dieser Aufgabe redaktionell angenommen und viele zeitgenössische Kommentare berücksichtigt und eingearbeitet. Einen ganz besonders wertvollen Anteil lieferte zudem Robert Hübner, der sechs Partien selber kommentiert hat, darunter die vier Partien, die einen Schönheitspreis erhielten. Nicht nur mit den Kommentaren von Robert Hübner kann man aus den alten Partien sehr viel lernen.

Der ausgesprochen gute Eindruck des Buches wird durch einen "Anhang" verstärkt. Dombrowsky berichtet nämlich auch, was nach Ende des Turniers alles noch so passierte. In einem eigenen Kapitel erzählt der Autor, wie Siegbert Tarrasch in der ihm eigenen Art gegen das Turnier im Berliner Lokalanzeiger nachkartete. Tarrasch war wie Lasker zum Turnier eingeladen worden, aber wo Lasker spielte, wollte Tarrasch nicht spielen, also sagte er ab. Hinterher veröffentlichte er gerne den Brief eines unzufriedenen Teilnehmers, von Richard Teichmann nämlich, in der Absicht, das Turnier, an dem er selber nicht teilnehmen wollte/konnte, im Nachhinein schlecht zu machen. In einem anderen Schlusskapitel vergleicht Michael Dombowsky alte Aufnahmen mit Fotos aus dem heutigen Cambridge-Springs. Manches Gebäude steht da noch so wie vor 115 Jahren.

Ein Verzeichnis der kommentierten Partien, eine Tabelle zum Auffinden der Partien, die Rundentabelle selbst und natürlich ein Quellverzeichnis komplettieren dieses liebevoll gemachte, über 230 Seiten dicke Buch, dass ohne das Herzblut, dass der Verleger Arno Nickel mit seiner Edition Marco auch noch hineingesteckt hat, nicht denkbar wäre. 

Schön, dass es das gibt. 

Michael Dombrowsky: Cambridge Springs 1904
Irgendwo im Nirgendwo

Gebundene Ausgabe: 236 Seiten
Abbildungen: 78 Fotos, Zeichnungen u. Faksimiles, 248 Diagramme
Farbdruck
Format: 17,5 cm (B) x 24 cm (H)
Verlag: Edition Marco 2019
ISBN: 978-3924833-80-0

39,00 Euro

Erhältlich bei Edition Marco

oder Schach Niggemann


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.

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