Zerstörte Illusionen: Genna Sosonkos "The Rise and Fall of David Bronstein"

von Johannes Fischer
25.10.2017 – David Bronstein ist eine Schachlegende. In seinem Buch "The Rise and Fall of David Bronstein" erinnert Genna Sosonko mit einer kritischen Würdigung an das Leben und die Karriere des Großmeisters, der die Schachwelt mit seinen Ideen inspiriert und mit seinen Partien begeistert hat und 1951 fast Weltmeister geworden wäre. (Foto: Anne Fürstenberg)

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Genna Sosonko: The Rise and Fall of David Bronstein

Ein halber Punkt, ein einziges Remis, und David Bronstein wäre Weltmeister geworden. 1951 spielte er gegen Titelverteidiger Mikhail Botvinnik um die Weltmeisterschaft und führte nach 22 von 24 Partien mit 11,5 zu 10,5. Um Botvinnik vom Thron zu stoßen, brauchte Bronstein noch einen Punkt aus den letzten beiden Partien, denn dem amtierenden Weltmeister reichte ein 12-12 Unentschieden, um seinen Titel zu verteidigen. Doch in der entscheidenden 23. Partie, in der Bronstein Schwarz hatte, ließen ihn seine Nerven im Stich, und er verlor ein Endspiel, das objektiv Remis war.

 

In der 24. und letzten Partie kam Bronstein dann mit Weiß nicht über ein Remis hinaus und der Wettkampf endete 12-12 Unentschieden – Botvinnik hatte seinen Titel verteidigt.

Bronstein hat im Laufe seines Lebens immer wieder neue Erklärungen geliefert, warum er den Wettkampf nicht gewonnen hat. In seinem Buch The Rise and Fall of David Bronstein, das sich mit dem Leben und der Karriere Bronsteins beschäftigt, aber weder Partien noch Diagramme enthält, zitiert Autor Genna Sosonko einige davon. Sosonko schreibt:

„Unter Nichtbeachtung des Prinzips, dass mehrere unterschiedliche Entschuldigungen stets weniger überzeugend klingen als eine, fand Bronstein eine Reihe von Sündenböcken und Gründen für seine Niederlage: sein hasserfüllter Gegner, die Atmosphäre der damaligen Zeit, Angst um seinen Vater, seine Sekundanten, die ihre Pflichten vernachlässigten, Spaziergänge mit einer Freundin, der seine Karriere egal war und die Schwierigkeiten, denen er ausgesetzt war. ...

‚Dieser monströse Patzer, den ich in der sechsten Partie gemacht habe, ein einziger Zug. Es war alles ganz einfach. Vor der Wiederaufnahme der Hängepartie, während meines Morgenspaziergangs, habe ich zufällig meine Frau Olga getroffen, von der ich praktisch geschieden war. Ein Wort gab das andere, wir fingen an zu streiten, und das fast eine Stunde lang. Aber zugleich verlangten meine Sekundanten, dass ich auf Gewinn spiele. So bin ich im Gefühl mentaler Erschöpfung zur Wiederaufnahme dieser verhängnisvollen Partie gegangen.‘...

Bei anderer Gelegenheit [erklärte Bronstein]: ‚Die Leute fragen oft, warum ich an den Qualifikationsturnieren der FIDE teilgenommen habe, wenn ich gar nicht danach trachtete, Weltmeister zu werden? Die Antwort ist ganz einfach. Damals gab es wenig internationale Turniere; man musste in diesen Qualifikationsturnieren spielen und beweisen, dass man zu den besten Spielern der Welt gehörte, damit ... einen der eigene Schachverband zu diesen internationalen Turnieren schickte.‘

Dann bemühte er eine radikalere Erklärung: ‚Ich hatte gute Gründe, nicht Weltmeister zu werden. In der damaligen Zeit bedeutete dieser Titel, dass man Teil der offiziellen Welt der Schachbürokratie werden und alle möglichen Verpflichtungen übernehmen musste, was mit meiner Persönlichkeit unvereinbar war.“ (Genna Sosonko, The Rise and Fall of David Bronstein, Elk and Ruby 2017, S. 72-73. Die russische Originalausgabe des Buches erschien 2014.)

Die verpasste Chance, Weltmeister zu werden, wurde zu einer Obsession für Bronstein, den Sosonko als einen Egozentriker schildert, der in endlosen Monologen immer nur um sich selber kreiste. So schreibt Sosonko: „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er mich ein einziges Mal gefragt hat, wie es mir geht oder welche Pläne ich hatte. Es ging immer um ihn, ihn selbst und sein Schach. Sein Platz im Schach war die Bedeutung und der Inhalt seines gesamten Lebens.“ (S.99)

Doch eigentlich gab es hier trotz des Wettkampfs gegen Botvinnik keinen Grund zur Sorge, denn Bronsteins Schachkarriere und sein schachliches Erbe sind beeindruckend. Bronstein wurde am 19. Februar 1924 in dem kleinen sowjetischen Dorf Bila Zerkwa geboren, sein Vater war Mühlenverwalter, seine Mutter Ärztin. Bronsteins Vater, laut Sosonko ein „Rebell“, kam 1937 nach öffentlich geäußerter politischer Kritik für sieben Jahre in ein Straflager.

Im Zweiten Weltkrieg kämpfte Bronstein zwar nicht an der Front, aber war obdachlos, hatte keine Essensrationen und litt immer wieder unter Hunger und Kälte. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er schnell einer der besten Spieler der Welt. 1948 gewann er das Interzonenturnier in Saltjösbaden, 1948 und 1949 wurde er zwei Mal geteilter Erster bei den Sowjetischen Meisterschaften und 1950 gewann er das Kandidatenturnier zusammen mit seinem Freund und Trainingspartner Isaak Boleslavsky, dessen Tochter Tatiana er später heiratete. Im anschließenden Stichkampf setzte sich Bronstein durch, wahrscheinlich nach Absprache mit Boleslavsky. Damit konnte Bronstein gegen Botvinnik um die Weltmeisterschaft spielen.

David Bronstein 1968 (Foto: Erich Koch, Wikipedia)

Großen Anteil an Bronsteins Erfolgen hatte sein Förderer Boris Vainshtein – ein kultivierter, hoch gebildeter und eleganter Mann von gewinnendem Wesen. Allerdings arbeitete er als hochrangiger Offizier beim NKWD, dem Vorläufer des KGB und war so mitverantwortlich für Unterdrückung und Folter. Vainshteins war ein leidenschaftlicher und starker Schachspieler und er nahm den jungen Bronstein, dessen Schachtalent er schnell erkannte, unter seine Fittiche. Vainshtein verschaffte Bronstein Lebensmittel, ließ ihn bei sich wohnen und sorgte mit seinem politischen Einfluss dafür, dass Bronstein zu Turnieren ins Ausland fahren konnte. Vainshtein war es auch, der die Idee hatte, ein Turnierbuch über das Kandidatenturnier in Zürich 1953, in dem Bronstein Zweiter hinter Smyslov wurde, zu schreiben. Viele Spieler halten dieses Buch, dessen offizieller Autor Bronstein ist, für eines der besten Schachbücher, das je geschrieben wurde. Aber Bronstein steuerte nur die Analysen bei, „den gesa2mten erzählerischen Teil“ schrieb Vainshtein. (Vgl. The Rise and Fall, S. 139)

Cover der amerikanischen Ausgabe des Turnierbuchs
über das Kandidatenturnier in Zürich 1953

Das Kandidatenturnier in Zürich war das letzte Mal, dass Bronstein gute Chancen hatte, einen Kampf um die Weltmeisterschaft zu spielen. Danach erzielte er noch eine Reihe von Erfolgen in mehr oder weniger bedeutenden Turnieren und spielte vereinzelt brillante Partien, aber zur absoluten Weltspitze zählte er nicht mehr. Bronstein starb mit 82 Jahren am 5. Dezember 2006 in Minsk.

Doch insgesamt ist Bronsteins Beitrag zur Entwicklung des Schachs gewaltig. So schreibt Sosonko:

„Ich habe Kortschnoi, der wirklich nur ungern Komplimente verteilt hat, einmal gefragt, ob Bronstein ein herausragender Spieler war. ... ‚War Bronstein ein herausragender Spieler? Er war ein Genie, was für ein Genie! Ein Genie ist jemand, der seiner Zeit voraus ist, und Bronstein war seiner Zeit weit voraus. Wenn Botvinnik sagt, dass Bronstein beim Übergang von Eröffnung zum Mittelspiel sehr stark gespielt hat, dann ist das ein sehr schwaches Statement. Tatsächlich hat Bronstein sehr viele Ideen gezeigt, die damals Offenbarungen waren. Das ist das Zeichen eines Genies. Von 1945 bis 1951 hat er das Spiel besser verstanden als jeder andere. Ohne Bronstein hätte es keinen Tal gegeben.“ (S.84)

Dazu kommen viele andere Ideen Bronsteins, die das Schach bereichert haben: Er hatte die Idee, die Figuren zufällig auf der Grundreihe zu platzieren – die Schachvariante, die heute als Fischer-Random oder Chess960 bekannt ist, er schlug vor, Partien mit Zeitaufschlag zu spielen und Spieler an mehreren Brettern gegeneinander antreten zu lassen, um nur ein paar zu nennen.

Doch glaubt man Sosonko, so sah Bronstein all das anders: „In der alten Zeit entdeckte er Feinde im Sportkomitee, dann im Sowjetischen Schachverband, dann in der Regierung. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beschwerte er sich, man hätte ihn benachteiligt, um seinen gerechten Anteil gebracht, er sei vergessen und betrogen worden. In seinen letzten Büchern, Artikeln und Interviews zählte Bronstein seine Beschwerden auf. Alles, was er in dieser Zeit veröffentlichte hätte unter dem gleichen Titel veröffentlicht werden können: Klagen.“ (S.174)

Insgesamt zeichnet Sosonko in seiner Biographie kein freundliches Bild von Bronstein, sondern das eines Egomanen, der sich als Exzentriker mit einer Leidenschaft für Schachimprovisation und die Schönheit des Schachs inszenierte, weil er es nicht geschafft hatte, Weltmeister zu werden.

Die Frage stellt sich allerdings, warum man die charakterlichen Schwächen eines Menschen, der vor allem als Schachspieler und Schachdenker in Erinnerung geblieben ist, so ausführlich darlegen muss. Diese Zweifel plagten wohl auch Sosonko selbst. So schreibt er am Ende des Buches, drei Seiten vor Schluss:

„Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke: ‘Warum habe ich all das über diesen großen Schachspieler geschrieben, der am Ende seines Lebens so sehr gelitten hat? Warum? Was war der Sinn all dieses Philosophierens und dieser versuchten Erklärungen? Für wen war all das?‘ Wissen Sie, tief im Inneren wusste ich, dass ich nicht hätte versuchen sollen, mich an irgendetwas zu erinnern. Ich hätte die Toten in ihren Gräbern in Ruhe lassen und den Lebenden erlauben sollen, ihre Illusionen zu behalten.“ (S.269)

Doch wenn man diese Sätze liest, sind die Illusionen, die man über die Person Bronsteins gehabt haben könnte, bereits zerstört. Immerhin beantwortet Sosonkos Buch andere Fragen: So ging es beim Wettkampf zwischen Botvinnik und Bronstein 1951 allen Verschwörungstheorien zum Trotz sportlich wohl mit rechten Dingen zu – anders als im Wettkampf zwischen Bronstein und Boleslavsky ein Jahr zuvor. Und da Bronstein unter dem Schutz seines einflussreichen Förderers Vainshtein stand, war er auch kein unmittelbares Opfer der politischen Zustände in der Sowjetunion. Allerdings haben die Zeit und die Umstände, in denen Bronstein lebte, sicher dazu beigetragen, dass er ein verbitterter Mann wurde, der seine vielen Erfolge nicht sehen und genießen konnte.

Doch vielleicht erinnert man an den Menschen und Schachkünstler Bronstein am besten mit seinen Partien. Hier sind drei davon:

 

Königsgambit Band 1

Williams analysiert zahlreiche Neuerungen und Varianten, die jedem Angriffsspieler gefallen, der nach einer interessanten Variante gegen 1...e5 sucht! 3.Lc4 führt zu ungewöhnlichen, inhaltsreichen Stellungen, in denen Schwarz unter Druck steht.

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Paul Keres (Foto: Erich Koch, Wikipedia)

 

Die Aljechin-Verteidigung für den Turnierspieler

Auf dieser DVD präsentiert der Thomas Luther ein Schwarz-Repertoire gegen 1.e4. Der Aljechin-Experte zeigt die typischen Ideen, Motive und Varianten und weist einen Weg durch diese strategisch und taktisch gleichermaßen interessante Eröffnung.

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Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".

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