Zukertorts letzte Jahre

von Stephan Oliver Platz
16.01.2018 – Als Johann Zukertort 1886 seinen WM-Kampf gegen Wilhelm Steinitz spielte, war er gesundheitlich schon angeschlagen. Der anstrengende Wettkampf beschleunigte wohl sein tragisches Ende. Bis zu seinem Tod zwei Jahre später nahm er aber noch an starken Turnieren teil. Stephan-Oliver Platz berichtet von den letzten Jahren der Schachlegende.

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Tragisches Ende eines großen Spieler

Johannes Hermann Zukertort (*7.9.1842 +20.6.1888) war einer der stärksten Schachspieler seiner Zeit und nach seiner Niederlage im WM-Kampf 1886 gegen Wilhelm Steinitz der erste offizielle Vizeweltmeister der Schachgeschichte. Nach den Berechnungen von Jeff Sonas lag Zukertorts beste historische ELO-Zahl mit 2798 nur knapp unter der legendären 2800er Marke. Mehrmals führte er die nachträglich berechneten Weltranglisten an. (a) Mit Paris 1878 und London 1883 konnte er außerdem zwei große internationale Turniere gewinnen, das letztere mit 3 Punkten Vorsprung vor Steinitz. In diesem Beitrag möchte ich mich mit Zukertorts letzter Lebensphase beschäftigen (1886 – 1888).
 
Als J. H. Zukertort am 20. Juni 1888 in London starb, war er noch nicht ganz 46 Jahre alt. Während seiner letzten beiden Lebensjahre hatte er mit ernsten gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, die naturgemäß auch seine Turnier- und Wettkampfergebnisse beeinträchtigten. Wie kam es dazu und was waren die Ursachen?

Der WM-Kampf Zukertort - Steinitz

Wahrscheinlich beeinflusste Zukertorts angeschlagene Gesundheit bereits in den ersten drei Monaten des Jahres 1886 den Ausgang des WM-Kampfes gegen Wilhelm Steinitz. Jedenfalls spricht der Matchverlauf für diese Annahme: Nach 5 Partien stand es 4:1 für Zukertort, nach 10 Partien 4:4 bei 2 Remisen. Nach 15 Partien führte Steinitz knapp mit 6:5 bei 4 Remisen, doch von den letzten 5 Partien verlor Zukertort 4 bei einem Remis, so dass das Endergebnis von 10:5 bei 5 Remisen den Eindruck vermitteln könnte, dass dies ein klarer und nie gefährdeter Sieg für Steinitz gewesen wäre.
 
Erschwerend kam hinzu, dass der Wettkampf in drei amerikanischen Städten ausgetragen wurde, und zwar in New York, St. Louis und New Orleans. Heute wäre dies kein großes Problem, denn es gibt Flugzeuge und klimatisierte Räume. 1886 jedoch bedeutete es strapaziöse Reisen mit Schiffen, Postkutschen, Pferdegespannen oder vorsintflutlich anmutenden, von Dampflokomotiven gezogenen Zügen, kurz gesagt Reisen, die sich über Tage oder Wochen hinziehen konnten. Bestimmt war es verdammt zugig in einigen dieser Gefährte, so dass es nicht Wunder nimmt, dass so mancher Fahrgast bald darauf krank wurde oder schon krank am Zielort ankam.
 
Zur letzten, in New Orleans ausgetragenen Wettkampfphase schreiben C. W. Domanski und T. Lissowski in ihrer Zukertort-Biographie:
 
„In den Presseberichten wurde die sichtbar geschwächte physische und psychische Disposition Zukertorts thematisiert. Er hatte Augenringe, ein abgezehrtes Gesicht und alle Anzeichen von Fieber.“ (b)
 
Wir können davon ausgehen, dass der WM-Kampf nicht so deutlich zugunsten von Steinitz ausgegangen wäre, wenn der am 11. Januar 1886 in New York begonnene Wettkampf dort auch zu Ende gespielt worden wäre. Dennoch glaube ich, dass auch in diesem Falle Steinitz gute Chancen gehabt hätte, sich am Ende, wenn auch vielleicht sehr knapp, durchzusetzen, denn er war nun einmal der bessere Stratege. Besonders deutlich wird dies an der 3. Wettkampfpartie. Wenn wir uns die Stellung nach dem 37. Zuge von Weiß ansehen, stellen wir leicht fest, dass Zukertort strategisch völlig überspielt worden ist. Steinitz hätte nun mittels 37. ... f5! jedes weiße Gegenspiel durch g2-g4 ausschalten können. Die Folge zeigt deutlich den Unterschied in der Spielauffassung zwischen Steinitz und Zukertort: Steinitz denkt in erster Linie strategisch, ohne sich allzusehr mit taktischen Möglichkeiten zu befassen. Zukertort dagegen sieht die Kombinationen und kontert den Weltmeister taktisch aus:

 

Wenn Steinitz diese Partie gewonnen hätte, was leicht möglich gewesen wäre, hätte es nach 5 Partien nicht 4:1, sondern nur 3:2 für Zukertort gestanden. Aber lassen wir das Spekulieren und wenden uns wieder den Tatsachen zu: Wie verlief Zukertorts Leben seit seiner Rückkehr aus den USA?


 
Am 28. Juni 1886 gab es einen Empfang für Zukertort im City of London Chess Club. In einer Rede äußerte er sich lobend über den „freundlichen und fürsorglichen Empfang“, welchen ihm die Amerikaner angedeihen ließen und über seinen Wettkampfgegner Steinitz, der sich „mir gegenüber vom ersten bis zum letzten Moment höchst ehrenwert und redlich betragen hat“. Das klang schon viel versöhnlicher als zwei Jahre vorher in einem Interview mit der „Salt Lake City Tribune“ vom 28. Juni 1884. Angesprochen auf die Angriffe von Steinitz gegen ihn in der Presse, hatte Zukertort folgendes über seinen späteren Wettkampfgegner gesagt: „Steinitz ist ein Querulant und wurde aus allen Clubs in England hinausgeworfen, denen er jemals angehört hatte.“
 
Als Hauptgrund für seine Niederlage machte Zukertort die Klimaänderungen verantwortlich: „In New York, wo die atlantische Brise wehte, fühlte ich mich sehr wohl, weniger dagegen in St. Louis, in der Tiefe des Kontinents. In New Orleans schließlich, am Mexikanischen Golf, brach ich zusammen.“ Fairerweise fügte er hinzu: „Natürlich beeinflusste die Änderung des Klimas sowohl mich als auch meinen Gegner. Wir waren dem gleichen Stress ausgesetzt und ich erkenne vollständig an, dass mein Gegner der schweren Prüfung besser standhielt.“
 
Zugleich äußerte Zukertort den Wunsch nach einem Rückkampf in England, doch dazu sollte es nicht mehr kommen, denn sein Gesundheitszustand verschlechterte sich bald zusehends.

Der vermutliche Grund für Zukertorts gesundheitliche Probleme

In ihrer Zukertort-Biographie geben Domanski und Lissowski eine wichtige Beobachtung von Leopold Hoffer, dem Mitherausgeber der Schachzeitschrift „The Chess Monthly“, wieder:
 
 „Leopold Hoffer beobachtete bei Zukertort schrittweise anwachsende Artikulationsprobleme und Kraftlosigkeit.“ (c)
 
Diese Feststellung gibt uns einen wichtigen Hinweis darauf, was mit Zukertort wirklich los war. Die angesprochenen Sprechprobleme sind nämlich typisch für einen Schlaganfall oder eine schlaganfallähnliche Attacke („TIA“). So heißt es in „Selbstdiagnose – Handbuch der Gesundheit“ von Volkwart E. Strauß auf S. 110 unter der Rubrik „Sprechstörungen“:

 „Erste Frage: Haben Sie eines oder mehrere der folgenden Symptome:
 
 - Schwindel
 - Schwäche (leichte Lähmung) in Armen oder Beinen, in der Regel einseitig
 - Sensibilitätsstörungen (Kribbelgefühl oder kein Berührungs- und Schmerzempfinden)
 - Sehstörungen
 
JA → Rufen Sie unverzüglich Ihren Arzt! Wahrscheinlich haben Sie einen Schlaganfall der eine schlaganfallähnliche Attacke ('TIA') erlitten.“ (d)

 

Johannes Zukertort

Ich kann nun nicht mit Sicherheit sagen, dass Zukertort zu irgendeinem Zeitpunkt im Jahre 1886 zusätzlich zu den Artikulationsproblemen eines dieser hier genannten Symptome aufwies, aber es spricht doch viel dafür: Ein Schlaganfall infolge einer Gehirnblutung kostete ihn zwei Jahre später das Leben, und der Autopsiebericht stellte fest, dass „die großen Adern an der Basis des Gehirns in bedeutendem Maße degeneriert“ waren. (e)
 
V. E. Strauß schreibt dazu: „Einem Schlaganfall liegt in den meisten Fällen eine Zerebralsklerose zugrunde. Der Ausdruck ist ungenau, denn es handelt sich um keine Verkalkung des Gehirns , sondern um eine Arteriosklerose der Hirngefäße. Eine Zerebralsklerose führt zu Durchblutungsstörungen und so zu einer Mangelversorgung von Hirnzellen.“ (f)
 
Bei schlaganfallähnlichen Attacken („TIA“ = transient ischaemic attack) bilden sich die Schlaganfallsymptome innerhalb von 24 Stunden wieder zurück. Dazu heißt es an gleicher Stelle: „TIA sind oft nur durch eine leichte Bewusstseinsstörung, durch eine kurze schlaffe Lähmung eines Armes oder leichte Sprechstörungen gekennzeichnet“ und „TIA kehren in unterschiedlichen Abständen immer wieder. Sie können der Vorbote eines Schlaganfalls sein.“ (e)
 
Vergleichen wir dies nun mit der Reaktion Zukertorts, als er während der letzten von ihm gespielten Partie am 19. Juni 1888 in London einen Schwächeanfall erlitt. Zukertort war am Abend in „Simpson's Chess Divan“ gegangen und spielte gerade eine Partie gegen Sylvain Meyer. Was dann geschah, schildert Hermann Lehner, der Redakteur der „Österreichischen Lesehalle“ wie folgt:
 
„Er [Zukertort] mochte ungefähr 25 Minuten gespielt haben, als er plötzlich auf seinem Sitze zusammenfuhr und dabei vom Brett einige Figuren hinabwarf. Der herbeieilende Kellner James Stammers las die hinabgeschleuderten Figuren vom Fußboden auf und reichte sie dem Doktor hin. Dieser war jedoch sichtlich nicht imstande, die aufgelesenen Figuren wieder auf ihre Plätze zurückzustellen. Der Kellner, betroffen durch das wunderliche Gebaren des Gastes, frug denselben, ob ihm etwas zugestoßen sei und ob er ihm irgendwie behilflich sein könne. 'Nein', entgegnete Zukertort und fügte in einigen Worten noch bei, die unerwartete Anwandlung werde in wenigen Minuten wieder vollständig vorüber sein.“
 
Dies deutet darauf hin, dass dies nicht zum ersten male passierte. Doch diesmal irrte sich Zukertort, denn sein Zustand besserte sich nur vorübergehend. Hermann Lehner berichtet weiter:
 
„Stammers brachte ihm ein Glas frischen Wassers und später etwas Branntwein zur Stärkung. Zukertort nahm von dem Gebotenen und erholte sich augenscheinlich ein wenig. Nun wurde er nach dem British Chess Club, wo er weit mehr bekannt war, wieder zurückgebracht. Sein Zustand verschlimmerte sich jedoch bald in sehr bedenklicher Weise, und noch in derselben Nacht um halb 3 Uhr morgens musste der Schwerkranke nach dem Charing-Cross-Spital transportiert werden. Er war im Gesichte rechtsseitig vom Schlage gestreift worden und anscheinend ohne Besinnung. Um fünf Uhr traft eine Lähmung im Arme hinzu...“ (g) Zukertort starb im Krankenhaus noch am selben Tage um 10 Uhr am Vormittag des 20. Juni 1888.
 
Nach den uns vorliegenden Schilderungen spricht also viel dafür, dass Zukertort während seiner letzten beiden Lebensjahre an gelegentlich auftretenden schlaganfallähnliche Attacken litt.

Zukertorts letzte große Turniere und der Wettkampf gegen Blackburne

Wenn wir uns diese gesundheitliche Problematik einer zeitweisen Mangelversorgung des Gehirns vor Augen halten, wird verständlich, warum Zukerort während seiner beiden letzten Lebensjahre dem Stress eines längeren Turniers oder Wettkampfes nicht mehr in ausreichendem Maße gewachsen war. So erscheinen seine Turnier- und Wettkampfergebnisse in einem anderen Licht:
 
Im Meisterturnier des Britischen Schachbundes in London 1886 wird Zukertort mit 6 aus 12 Punkten unter 13 Teilnehmern geteilter Siebenter. Er gewinnt fünf Partien bei fünf Niederlagen und zwei Remisen. Turniersieger werden Joseph Henry Blackburne und Amos Burn (je 8 1/2).
 
In Nottingham 1886 wird Zukertort unter 10 Teilnehmern mit 6 aus 9 geteilter Dritter (mit Isidor Gunsberg) hinter Amos Burn (8) und Emil Schallopp (7). Er gewinnt fünf Partien und verliert nur zwei. Zwei Partien (gegen Gunsberg und den Turniersieger Burn) gehen remis aus.
 
Vom 7. Mai bis 9. Juni 1887 spielt Zukertort in London einen Wettkampf gegen Blackburne und verliert deutlich mit 1:5 bei 8 Remisen. 1881 hatte er Blackburne noch klar mit 7 : 2 bei 5 Remisen geschlagen.
 
Sein letztes großes internationales Turnier spielt Zukertort in Frankfurt/M 1887 und landet auf einem enttäuschenden 16. Platz unter 21 Teilnehmern. Er verliert neun Partien und gewinnt nur sechs bei fünf Remisen. Tarrasch überlistet ihn mit einer simplen Eröffnungsfalle und schreibt später, dass er nur noch gegen Zukertorts „Schatten“ gespielt habe.

 

Besser läuft es beim Meisterturnier des Britischen Schachbundes in London 1887. Zukertort holt 6 aus 9 und landet auf dem 4. Rang unter 10 Teilnehmern hinter Burn und Gunsberg (beide 8). Dritter wird Blackburne (6 1/2).

Wenn man sich Zukertorts Partien aus jener Zeit genauer ansieht, so finden sich in mehreren von ihnen (sonst) unerklärliche Fehler und Fälle von „Schachblindheit“, während er in anderen ebenso stark und eindrucksvoll spielte wie zuvor. Dass Zukertort das Schachspielen keineswegs verlernt hatte, zeigt u. a. die folgende Partie:

 

Viele weitere aufschlussreiche Details zu Zukertorts Leben finden sich dem sehr empfehlenswerten Buch „Der Großmeister aus Lublin“ von Domanski und Lissowski (erschienen im Exzelsior Verlag Berlin 2005). Wer sich für Zukertorts Partien interessiert, der sollte zur Big Database von ChessBase greifen. Sie enthält über 400 von ihm gespielte Partien, darunter zahlreiche gegen namhafte Großmeister wie Adolf Anderssen, Wilhelm Steinitz, Joseph Henry Blackburne, Simon Winawer, Michail Tschigorin u. a.

 
Quellen und Anmerkungen:
 
(a) Die von Jeff Sonas errechneten historischen ELO-Zahlen finden Sie hier: www.chessmetrics.com
 
(b) Cezary W. Domanski und Tomasz Lissowski, „Der Großmeister aus Lublin“, Berlin 2005, S. 153
 
(c) Cezary W. Domanski und Tomasz Lissowski, „Der Großmeister aus Lublin“, Berlin 2005, S. 161
 
(d) Volkwart E. Strauß, „Selbstdiagnose – Handbuch der Gesundheit“, München 1986, S. 110
 
(e) Cezary W. Domanski und Tomasz Lissowski, „Der Großmeister aus Lublin“, Berlin 2005, S. 169
 
(f) Volkwart E. Strauß, „Selbstdiagnose – Handbuch der Gesundheit“, München 1986, S. 320
 
(g) Österreichische Lesehalle 1888, Nr. 92, S. 242f. Die Rechtschreibung wurde dem heutigen Gebrauch angepasst.

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Stephan Oliver Platz (Jahrgang 1963) ist ein leidenschaftlicher Sammler von Schachbüchern und spielt seit Jahrzehnten erfolgreich in der mittelfränkischen Bezirksliga. Der ehemalige Musiker und Kabarettist arbeitet als freier Journalist und Autor in Hilpoltstein und Berlin.

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