Zum 100. Geburtstag von David Bronstein
Er gehört zu den genialsten Schachspielern aller Zeiten. David Bronsteins phantasievolle Partien und Kombinationen begeistern bis heute Millionen Freunde des Denksports auf der ganzen Welt. Unvergessen ist natürlich auch sein dramatisches WM-Duell 1951 gegen Michail Botwinnik. Ich hatte noch das Glück, dem kleinen Maestro, der ein großer Schachheld war, mehrmals zu begegnen.
(Foto: D. Kohlmeyer)
David Ionowitsch Bronstein wurde am 19. Februar 1924 in der kleinen ukrainischen Stadt Belaja Zerkow geboren. Sechs Jahre später siedelte seine Familie nach Kiew über, wo sich der Junge ernsthaft mit Schach beschäftigte. David besuchte den städtischen Schachklub und hatte Glück, denn er kam in die Hände des hervorragenden Trainers Alexander Konstantinopolski, der ihn förderte. Schon als Jugendlicher zeigte Bronstein sein außergewöhnliches Talent. 1940 wurde er als 16-Jähriger bereits Zweiter in der ukrainischen Meisterschaft und musste nur Isaak Boleslawski den Vortritt lassen. 1944 erregte David Bronstein Aufsehen durch einen Sieg über den späteren Weltmeister Botwinnik. Im Jahr darauf wurde er Dritter der UdSSR-Meisterschaft. 1948 gewann Bronstein das Interzonenturnier in Saltsjöbaden und teilte 1948 sowie 1949 jeweils den ersten Platz bei der sowjetischen Landesmeisterschaft.
Im WM-Kandidatenturnier 1950 von Budapest gelang es ihm in der letzten Runde, den führenden Isaak Boleslawski einzuholen, was einen Stichkampf zur Folge hatte. Nach den regulären zwölf Partien stand es wiederum unentschieden. Das Reglement sah für diesen Fall vor, dass die nächste Gewinnpartie entscheiden sollte. Nach einem Remis im 13. Spiel gelang Bronstein in der 14. Partie mit Schwarz der notwendige Sieg. Die beiden Großmeister waren enge Freunde, Bronstein heiratete später Boleslawskis Tochter Tatjana (geb.1946).
Durch seinen Erfolg wurde David Bronstein 1951 Herausforderer von Weltmeister Botwinnik. Das Duell um die Krone fand in Moskau statt und ging über 24 Partien. Nach 22 Runden führte Bronstein mit 11,5:10,5 Punkten. Er brauchte also nur noch zwei Remis oder einen Sieg zum Gewinn. In der vorletzten Partie musste er sich jedoch geschlagen geben und konnte auch das letzte Spiel nicht gewinnen, so dass Botwinnik mit 12:12 seinen Weltmeistertitel verteidigte. Auf jeden Fall war es d i e Tragödie in Bronsteins Karriere, die ihn ganz sicher bis an sein Lebensende stark beschäftigte. Auch der Schachwelt ließen die dramatischen Ereignisse noch lange Zeit danach keine Ruhe. Kasparow ist der Meinung, dass Bronstein auf Grund seines Spiels den Sieg verdient hatte, aber er scheiterte an seinen Nerven. So nah am ersehnten Ziel jedes Großmeisters, hatte David die Schachgöttin Caissa nicht auf seiner Seite. Das versetzte ihm einen psychologischen Schlag, von dem er sich nie wieder richtig erholte.
Das WM-Drama 1951 in Moskau (Foto: Wikipedia)
Im Jahre 1953 wurde Bronstein beim Kandidatenturnier in Zürich Zweiter hinter Wassili Smyslow. Sein Buch über dieses Ereignis hat bleibenden Wert und zählt wegen der hohen Qualität der Kommentare zu den Perlen der Schachliteratur. 1955 gewann Bronstein das Interzonenturnier in Göteborg, vermochte sich aber ein Jahr später beim Kandidatenturner in Amsterdam nicht mehr für einen WM-Kampf zu qualifizieren. Doch auch in der Folgezeit konnte er noch immer hochkarätige internationale Turniere gewinnen und jedem Gegner gefährlich werden.
David Bronstein pflegte einen sehr dynamischen Stil und fühlte sich besonders in komplizierten Stellungen wohl. Er spielte romantische Eröffnungen wie das Königsgambit, bereicherte aber auch moderne Systeme wie die Königsindische Verteidigung mit vielen Ideen. Zudem komponierte er einige Studien.
Ich hatte die Möglichkeit, David Bronstein kennenzulernen und einige Male zu treffen. Unsere erste Begegnung war im Juni 1989 im Zentralen Schachklub der UdSSR in Moskau. Wir saßen eine Weile zusammen und plauderten über alles Mögliche. Auf meine nicht sehr originelle Frage, wer für ihn die besten Schachspieler aller Zeiten sind, erwiderte der Figurenzauberer mit verschmitztem Lächeln: „Alle, deren Namen mit L anfangen: von La Bourdonnais bis Larsen.“ Der kleine Mann mit dem großen Können hatte wirklich speziellen Humor. Als ich Hunger bekam, führte er mich netterweise auf den Gogol-Boulevard zu einem Imbissstand. Beim Abschied schenkte mir David sein signiertes Schach-Lehrbuch, das wenig später unter dem Titel „Wege zum erfolgreichen Spiel“ auch in Deutsch erschien. Dass Bronstein ein Exzentriker war, wie manche Kollegen ihn beschrieben haben, konnte ich damals nicht feststellen. Aber speziell war er schon, wie ich in Moskau verschiedentlich zu hören bekam. Bei meinem Aufenthalt in jenem Sommer 1989 besuchte ich auch Alexander Kotows Witwe, die mir ein Manuskript ihres verstorbenen Mannes mitgab. Dabei kamen wir auf Bronstein zu sprechen. Sie erzählte mir, David habe es fertiggebracht, zu Mannschaftskämpfen der UdSSR-Auswahl in Übersee einen ganzen Koffer voll Langspielplatten mitzuschleppen. Er wollte sich zwischen den Schachpartien zum Beispiel bei den Klängen von Verdis Aida entspannen. Kulturelle Ablenkung war ihm sehr wichtig. Es gibt noch viele andere Anekdoten von Bronstein, aber hier soll es vor allem um sein schachliches Erbe gehen.
Die Liebe des begnadeten Großmeisters zum Denksport war bis zuletzt ungebrochen. Nach dem Wegfall der Reisebeschränkungen reiste er oft nach Westeuropa und spielte in Open-Wettbewerben. In Tilburg erlebte ich im Herbst 1997 mit, wie er am Rande des dortigen Superturniers gemeinsam mit Garri Kasparow lange Zeit eine interessante Stellung analysierte. Sie suchten immer wieder nach der besten Fortsetzung. 2001 war Bronstein Ehrengast bei der Knockout-WM im Moskauer Kreml. Im September 2002 traf ich David Ionowitsch an gleicher Stelle wieder, als er das Match-Turnier Russland gegen die Welt als Ehrengast beobachtete. Er musste dort mit ansehen, wie die Schachnation Nr. 1 geschlagen wurde. Es war unsere letzte Begegnung (s. Titelfoto, 2002 in Moskau).
David Bronstein starb am 5. Dezember 2006 in Minsk, wo ihm eine würdige Grabstätte errichtet wurde. Wenn Sie nach seiner Bedeutung für die Entwicklung des „neuen Schachs“ fragen, sollten Sie sich Partien des Maestros mit ihren genialen Kombinationen ansehen. Nach ihrem Studium versteht man, warum dieser außergewöhnliche Figurenkünstler einer der Wegbereiter des modernen dynamischen Stils ist. Seinen Hauptbeitrag leistete er auf dem Gebiet der Taktik. Mit seinem originellen Stil war er laut Kasparow in gewisser Weise ein Vorbote von Michail Tal.
Die Freunde Bronstein und Tal (Foto: Archiv)
Sein Wegbegleiter Alexej Suetin schwärmte: „Wie ein echter Ritter beharrte Bronstein auf seiner schöpferischen Konzeption, ohne Schwert und Schild zu wechseln.“ Mit ihm sei einer der letzten Romantiker des modernen Schachs von der Bühne abgetreten. David Bronstein hinterließ der Welt ein schöpferisches Erbe, das seinesgleichen sucht. Er war ein origineller Spieler mit kämpferischem Charakter, Vorreiter und auch Querdenker.
Bronsteins Grab in Minsk (Foto: Wikipedia)
Immer ging es ihm darum, die Sportart Schach attraktiver zu machen. Auch wenn es der Unvollendete nicht ganz auf den WM-Thron schaffte, so sind viele seiner Ideen und Anregungen verwirklicht. Das heute sehr populäre Schnellschach ist eindeutig ein Kind Bronsteins. Auch bei bedeutenden Turnieren bis hin zu WM-Kämpfen wurde inzwischen der Spielrhythmus verkürzt. David Bronstein gab den Anstoß dafür. Auf einen Vorschlag von ihm geht auch die Regel zurück, dass man nur unmittelbar mit Ausführung eines Zuges Remis anbieten darf.
Großmeister Alexej Suetin schrieb: „Aus historischer Sicht ist Bronstein einer der markantesten Vertreter des in unserer pragmatischen Zeit so seltenen romantischen Stils, ein Nacheiferer der Ideen Anderssens, Zukertorts, Tschigorins und Aljechins.“ Er habe gemeinsam mit dem älteren Keres und dem jüngeren Tal die ruhmreichen Traditionen der Kunst im Schach fortgesetzt. Hier drei brillante Partien des Romantikers David Bronstein aus verschiedenen Schaffensperioden.
Pachman – Bronstein, Prag 1946
Bronstein – Geller, Moskau 1961
Bronstein – Ljubojevic, Petropolis 1973