Master Class Band 10: Mikhail Botvinnik
Anhand der Botvinnik-Partien zeigen unsere Experten, wie man bestimmte Eröffnungen erfolgreich bestreitet, welche Musterstrategien es in bestimmten Strukturen gibt, wie man auch taktische Lösungen findet und wie man Endspiele nach festen Regeln gewinnt
Michail Moisejewitsch Botwinnik wurde am 17. August 1911 in Kuokkala, dem finnischen Teil Russlands geboren. Der Ort in der Nähe von St. Petersburg heißt heute Repino, denn er wurde nach dem berühmten Maler Ilja Repin benannt, der dort drei Jahrzehnte bis zu seinem Tode lebte.
Von Beruf war Botwinnik Elektroingenieur und arbeitete als Doktor der technischen Wissenschaften viele Jahre daran, einen "künstlichen" Schachspieler zu schaffen. Über die enorme Rechenleistung der Programme "Fritz" oder "Komodo" würde der Übervater des sowjetischen Schachs heute nur staunen. Seinen wertvollsten Beitrag aber leistete er als Schachpädagoge. In Botwinniks berühmter Moskauer Schule studierten unter anderen die späteren Weltmeister Anatoli Karpow, Garri Kasparow und Wladimir Kramnik.
Schüler und Lehrer | Foto: Wikipedia
Im Jahre 1948 gewann der Russe das legendäre WM-Turnier von Den Haag und Moskau und wurde sechster Schachweltmeister. Schon vorher galt Botwinnik als Anwärter auf die Krone, doch der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verhinderte einen Wettkampf mit dem Titelhalter Alexander Aljechin. Nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft verteidigte Botwinnik seinen Titel mehrfach erfolgreich und holte ihn gegen Smyslow (1958) und Tal (1961) in Revanchewettkämpfen zurück. Erst Tigran Petrosjan schaffte es 1963, Botwinnik endgültig zu besiegen, weil das Privileg des Revanchewettkampfes inzwischen abgeschafft worden war. Als Exweltmeister begründete Michail Moisejewitsch später die nach ihm benannte Schachschule, welches als seine größte Lebensleistung gilt.
Das Erbe Botwinniks wurde viele Jahre von seinem Neffen Igor verwaltet, der aber inzwischen auch verstorben ist. Der Schachmeister leitete den Botwinnik-Fonds in Moskau und sagte mir bei einem unserer Treffen: "Wir sind gemeinnützig, ich bekomme für meine Arbeit kein Geld. Alle Einnahmen von uns stecken wir in die Herausgabe von Büchern, die mit Botwinniks Schaffen zu tun haben. Es geht darum, sein Vermächtnis zu bewahren. Viele Dokumente, darunter wichtige Manuskripte oder Briefe von ihm, müssen gesichtet und erhalten werden. Und es werden neue Bücher über sein Schaffen herausgeben, auch in deutscher Sprache."
Igor Botwinnik betrieb dann auch eine Schachschule, die den Namen seines Onkels trug. Er hatte langjährige Erfahrungen damit und arbeitete schon seit 1969 als Schachtrainer mit Kindern zusammen. "Das tue ich sehr gern. Damit begann ich bereits in Weißrussland. In Moskau assistierte ich meinem Onkel in seiner Schule, als dort zum Beispiel Wladimir Kramnik, Wladimir Akopjan, Alexej Schirow und andere Stars von heute den Unterricht besuchten."
Die Schüler lauschten stets mit Spannung den Erzählungen Botwinniks, der die Großen der Zunft von einst, also Lasker, Capablanca oder Aljechin, persönlich kannte und auch besiegen konnte. Unvergessen ist seine Partie gegen Capablanca beim AVRO-Turnier 1938 in Holland, wo er mit dem grandiosen Läuferopfer auf a3 einen der schönsten Züge der Schachgeschichte aufs Brett zauberte.
Auch im höheren Alter spielte Botwinnik noch großartiges Schach. In der folgenden Partie zeigt er seine romantische Seite.
In seinem letzten Lebensjahr litt Michail Botwinnik besonders unter der Spaltung des Schachs in Russland und in der Welt. Nicht weniger kränkten ihn böse Worte, die sein bekanntester Schüler nur einige Tage vor Botwinniks Tode öffentlich an seine Adresse richtete. Dabei hatte der weise Lehrer Garri Kasparow im April 1995 vom Krankenbett aus in einem offenen Brief freundschaftlich die Hand zur Versöhnung gereicht. Der damalige PCA-Weltmeister, der Botwinnik in einem Zeitungsinterview u.a. einen Stalinisten genannt hatte, nahm sie nicht an.
Das letzte Interview
Wenige Monate vor seinem Ableben gab Michail Botwinnik noch ein längeres Interview - sein Vermächtnis an die zerrissene Schachwelt. Es war im Dezember 1994, als die Schacholympiade in Moskau stattfand. Ich hatte einen Termin mit dem Patriarchen im Schachklub am Gogol Boulevard, der heute Botwinniks Namen trägt. Aber eine heftige Grippe und hohes Fieber fesselten mich ans Bett. So konnte ich meinem langjährigen Moskauer Freund und Kollegen Jewgeni Gik (1943-2016), der das Gespräch dann führte, nur einige Fragen mitgeben. Hier die wichtigsten Auszüge aus dem Interview, in dem sich der Maestro wie gewohnt als Mann mit Ecken und Kanten zeigte. Trotz des zeitlichen Abstands zu heute haben Botwinniks Gedanken nicht viel von ihrer Aktualität eingebüßt.
Michail Moisejewitsch, 1925 gewannen Sie im Alter von 14 Jahren eine Simultanpartie gegen den großen Jose Raul Capablanca. Welches waren über diesen langen Zeitraum hinweg die wichtigsten Etappen in der Entwicklung des Weltschachs?
Als ich mit dem Spiel begann, nahm das russische Schach noch einen sehr bescheidenen Platz in der Welt ein. Beim internationalen Turnier 1925 in Moskau waren viele Koryphäen aus dem Westen am Start, und sie gaben uns eine Lektion. Aber bereits zehn Jahre später hatten wir das Kräfteverhältnis ungefähr ausgeglichen, und bald darauf stürmten unsere Großmeister nach vorn an die Spitze. Die sowjetische Schachschule hatte sich etabliert. Ich denke, das war die erste wichtige Entwicklungsphase in unserem und im Weltschach.
Die Veränderungen auf dem Schacholymp (Aljechins Tod - d. A.) trugen wesentlich dazu bei, dass die Internationale Schachföderation FIDE Ende der 1940er Jahre die Organisation der Weltmeisterschaften in ihre Regie nahm, was zuvor ausschließlich die Weltmeister taten. Das war der zweite Meilenstein in der Schachgeschichte. Und die dritte wichtige Etappe brach schließlich an, als der bekannte Mathematiker Claude Shannon anregte, dass der Mensch unser Spiel als Modell für die Lösung schwieriger Aufgaben nutzen sollte. Es begann die Epoche des Computerschachs, die uns noch viel Interessantes und Überraschendes verspricht. Das waren wohl die drei entscheidenden Dinge in der Schachentwicklung des 20. Jahrhunderts.
Mit Ausnahme von Steinitz kannten Sie alle Schachweltmeister. Neun von ihnen saßen Sie selbst am Brett gegenüber, Karpow und Kasparow durchliefen Ihre Schule. Wer von all diesen Königen hat Sie als Schachspieler und als Mensch am meisten beeindruckt?
Wenn wir über die Spielstärke sprechen, dann ohne Zweifel Capablanca. Ich hebe ihn nicht deshalb hervor, weil ich ihn vor 70 Jahren in einer Simultanvorstellung besiegte. Nein. Ohne Übertreibung kann ich sagen, dass es weder vor, noch nach dem großen Kubaner ein solches Naturtalent gegeben hat. In der Partiemitte und besonders im Endspiel war der dritte Schachweltmeister wirklich vollkommen. Und wenn er sich ans Brett setzte, so konnte man seine Züge nicht voneinander trennen. Jede Partie von ihm war aus einem Guss und bot das einheitliche Bild eines begeisternden Schach-Kampfes. Der künstlerische Eindruck seines Spiels war immer äußerst stark. Was die menschlichen Eigenschaften angeht, so möchte ich sagen, dass die Weltmeister im allgemeinen sehr sympathische Leute sind. Ich hatte jedenfalls mit meinen Vorgängern keinerlei Probleme.
Vasily Smyslow und Mikhail Botwinnik | Foto: Wikipedia
Aber mit Ihren Nachfolgern gab es bei den WM-Kämpfen manchmal etwas Trouble...
Wissen Sie, wenn zwei große Schachspieler um den Gipfel des Olymps streiten, können sie schwerlich enge Freunde sein. Aber nach Beendigung eines WM-Duells kehrte bei mir das gute Verhältnis zu dem jeweiligen Partner fast immer zurück. Natürlich gab es auch Ausnahmen. So sendet David Bronstein bis heute Sticheleien an meine Adresse. (Bronstein spielte gegen Botwinnik im WM-Finale 1951 12:12, worauf dieser den Titel behielt.)
Sicher verzeiht er Ihnen nicht, dass Sie seine Weltmeisterschaft verhindert haben.
Das kann sein, aber seither sind so viele Jahre vergangen. Man sollte nicht so nachtragend sein. Leider habe ich es nicht mehr geschafft, mich mit Tigran Petrosjan zu versöhnen. (Petrosjan starb 1984) Ich gebe zu, dass ich verärgert über seine seltsamen Vereinbarungen war, die er kurz vor unserem WM-Kampf hinter meinem Rücken mit den Mächtigen traf... (Sie spielten im Sommer bei großer Hitze.)
Bedauerlich, dass Schachkönige meist als unversöhnliche Feinde in die Geschichte eingehen...
Das passiert nicht nur in unserer Sportart. Aber die persönlichen Beziehungen der Großmeister haben für die Schachgeschichte nicht eine solche Bedeutung wie ihr schöpferischer Beitrag.
Im Jahre 1963 trugen Sie Ihren letzten WM-Kampf aus. Wenn das Revancherecht damals nicht abgeschafft worden wäre, hätten Sie dann Petrosjan nochmal den Fehdehandschuh zugeworfen?
Durchaus möglich. Aber Gott sei Dank, gab es diese Möglichkeit nicht mehr und ich brauchte das Schicksal nicht noch einmal herauszufordern. Ein Vierteljahrhundert meines Lebens - von 1938, als zum ersten Mal die Frage eines Matchs gegen Aljechin zur Debatte stand, bis 1963, als ich Petrosjan den Sieg überlassen musste - widmete ich dem Kampf um die Schachkrone. Ich denke, das reicht völlig aus.
Lasker saß immerhin 27 Jahre auf dem WM-Thron und hat ihn, ungeachtet dessen, nur ungern verlassen…
Das war eine andere Zeit. Vor mir gab es insgesamt nur fünf Weltmeister, und Lasker suchte sich seine Gegner selbst aus. So spielte er in all diesen Jahren nicht ein einziges Mal mit einem gefährlichen Kontrahenten, zum Beispiel Rubinstein, als dieser seine Kollegen bei weitem übertraf. Was meine Ära angeht, so galt in ihr schon das FIDE-Reglement, und ich hatte es immer mit dem jeweils stärksten Herausforderer zu tun.
Welcher ihrer WM-Erfolge ist Ihnen am wertvollsten?
Sicher der im Match-Turnier 1948. Man muss berücksichtigen, dass dies kein einheitlicher Wettkampf war. Meine Schachkarriere war ja auch durch den zweiten Weltkrieg unterbrochen worden. Und natürlich ist es unmöglich, das Revanche-Match von 1961 gegen Michail Tal zu vergessen - diesen Erfolg schätze ich nicht geringer ein. Nur wenige glaubten daran, dass ich dem jungen Tal noch einmal widerstehen könnte.
Botwinnik und Tal spielten zwei WM-Kämpfe gegeneinander. Den ersten gewann Tal, den zweiten Botwinnik. | Foto: Wikipedia
Was waren Ihre denkwürdigsten Partien?
Häufig erinnere ich mich an den schwierigen Kampf gegen Bobby Fischer zur Olympiade 1962. Das Turmendspiel stand kritisch, aber Geller half mir, eine phantastische Rettungsidee zu finden. Ich untersuchte sie sorgfältig bis zu Ende und konnte die Lage retten.
Ein anderes bemerkenswertes Remis spielte ich 1936 gegen Aljechin. Eigenartigerweise sind mir diese Partien mehr in Erinnerung geblieben als der eine oder andere Sieg. Wohl deshalb, weil ich am Brett niemals den Kampf gescheut habe.
Ihr letztes Turnier spielten Sie 1970 im holländischen Leiden. In der letzten Gewinnpartie Ihrer Karriere gegen Larsen schufen Sie eine echte Studie. Wann entschieden Sie, dass gerade dieser Wettkampf der letzte sein sollte?
Seltsamerweise beschloss ich dies bereits ein Jahr vorher. Aber das war ein Fehler. Derartige Entschlüsse sollte man schnell und überraschend fassen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr genügend Kraft für das große Turnierschach. Viele Jahre war ich in der Schach-Hierarchie ganz oben, und nachdem sich die Situation geändert hatte, wollte ich der Jugend Platz machen. Außerdem beschäftigte ich mich ja intensiv mit der Elektronik. Ich wollte Schachprogramme entwickeln.
Sie hätten aber auch in diesem Alter noch große Leistungen am Brett vollbringen können. Dafür gibt es Beispiele. Nehmen wir nur Smyslow...
Die Großmeister der älteren Generation fahren nicht aus lauter Schach-Fanatismus zu Turnieren. Sie tun es einfach deshalb, weil sie, wenn sie nicht mehr arbeiten, viel Zeit dazu haben. Smyslow hatte zwei Möglichkeiten: sich als alter "Gutsbesitzer" niederzulassen oder weiter Schach zu spielen. Er wählte den zweiten Weg und tat recht daran.
Was halten Sie von den Querelen zwischen FIDE und PCA?
Das ist nur Sturm im Wasserglas. Im Grunde existiert eigentlich nur ein Widerspruch zwischen zwei Arten des Schachs - der richtigen und der falschen. All das, was die PCA und Kasparow propagieren, nenne ich unechtes Schach. Ich meine die verschiedenen Formen des Schnellschachs, Turniere ohne Hängepartien usw. Das richtige normale Schach interessiert sie weniger, weil es keinen Gewinn bringt.
Kommt Schach heute nicht mehr ohne das große Geld aus?
Lassen Sie mich kurz erklären, was zurzeit in der Schachwelt passiert. Organisationen, in denen die Leute wenig über unser Spiel nachdenken, verwenden das Geld für die eigene Reklame. Kasparow gibt es wie ein Allein-Herrscher aus. Schach verkommt heute ganz einfach zu einem kommerziellen Produkt. So ein Begriff wie Schachkunst wird dagegen vergessen. Kasparow betrachtet das Spiel nur noch als Ware. Geld aufzutreiben, scheint für ihn kein Problem zu sein. Wohin das führt, wissen wir. Die russische Firma "Chopjor", Sponsor der Schacholympiade von Moskau 1994, die einen Haufen Dollar dafür gab, ist schon geplatzt. Wer wird der nächste sein? - Das Schach braucht kein zufälliges Geld, sondern eine ständige saubere Finanzierung, unabhängig vom Wohlverhalten der Funktionäre.
Macht Ihnen die Zukunft des Weltschachs Sorge?
Das Schach wird früher oder später siegen. Die katholische Kirche hat das Spiel im Mittelalter verboten. Aber das Schach hat überlebt. Auch Khomeini und Mao Tse Tung wollten es vernichten. Auch ihre Versuche scheiterten.
Wie stehen sie zum geplanten Vereinigungsmatch zwischen den Weltmeistern der FIDE und der PCA?
Es müsste verboten werden. Wie ich schon sagte, war es damals eine große Errungenschaft, dass die Ausrichtung der Schachweltmeisterschaft einer gesellschaftlichen Organisation übertragen wurde. Jetzt aber, fast ein halbes Jahrhundert später, will die FIDE einen Zug zurücknehmen und diesen Titel einer Privatfirma überlassen, die sich mehr als bedeckt hält und von der nicht einmal die Namen aller führenden Leute offiziell bekannt sind. Wenn Garri Kasparow der PCA-Chef ist, dann wäre der Verlust der Schachkrone nicht tragisch für ihn. Die Weltmeister können beliebig wechseln, er bekommt jedes Mal seinen Anteil aus den Einnahmen. Genial ausgedacht, nicht wahr?!
Man merkt den letzten Antworten Botwinniks an, wie verbittert er über die Entwicklungen am Ende seines Lebens war. Kasparow, der sich nicht mehr rechtzeitig mit ihm versöhnte, schrieb erst später im Band 3 seiner Weltmeister-Serie über den Lehrer Botwinnik anerkennenden Worte: "Er hat sehr viel für mich getan. Den jungen Schachtalenten widmete er sich mit ganzer Seele. Der weise Lehrmeister war bestrebt, uns nicht mit seiner Autorität zu erdrücken. Er half uns auf jegliche Weise, unsere eigenen Fähigkeiten zu entwickeln. Er erkannte meine Neigung zu einem dynamischen Angriffsstil und fügte in meine Hausaufgaben die Analyse der Partien Aljechins ein. – Eine versöhnliche Geste, aber eben zu spät.
Die Trauerfeier zum Gedenken an Michail Botwinnik fand, seinem letzten Wunsch entsprechend, am 8. Mai 1995 in aller Stille statt. Er wollte keine Reden und keine Ehrenwache. Deshalb nahmen im 5. Krankenhaus von Moskau nur seine engsten Angehörigen und etwa 20 Personen, vor allem Schachkollegen, von ihm Abschied. Darunter waren Exweltmeister Wassili Smyslow und Großmeister Andor Lilienthal, einer der letzten noch lebenden Altersgefährten Botwinniks und auch Anatoli Karpow. Anschließend fuhr der Bus mit den sterblichen Überresten des Patriarchen zum Zentralen Schachklub am Gogol-Boulevard. Das Gebäude war den Schachspielern Moskaus - nicht zuletzt wegen Botwinniks Verdiensten von der sowjetischen Regierung geschenkt worden. Heute trägt es seinen Namen.
Nachdem die Freunde des königlichen Spiels von ihrem Idol Abschied genommen hatten, fuhr der Bus weiter zum Wohnhaus der Botwinniks an der Moskwa. Jetzt hatten ihn die Angehörigen allein für sich. Botwinnik war am Ziel, und eine bedeutende Epoche des Weltschachs zu Ende.
Bis heute gibt es in Russland regelmäßig Gedenkturniere zu Ehren Botwinniks. Abschließend sollen noch zwei weitere Botwinnik-Schüler zu Wort kommen, deren Karriere ohne den großen Einfluss des Patriarchen nicht denkbar gewesen wäre.
Großmeister Juri Rasuwajew (1945-2012)
Du bist ein ehemaliger Botwinnik-Schüler. Der Patriarch der sowjetischen Schachschule hat seinerzeit wohl als Erster in vollem Umfang erkannt, wie wichtig Schach für die Entwicklung der Persönlichkeit ist.
Er leistete Pionierarbeit. Ich war in den 1960er Jahren tatsächlich Schüler in Botwinniks erster Schule. Dort lernte ich gemeinsam mit Anatoli Karpow, Juri Balaschow und anderen Koryphäen. Zudem war ich fünf Jahre lang Assistent von Michail Moisejewitsch. Das war Ehre und Ansporn zugleich. Heute bemühe ich mich, vieles von dem zu vermitteln, was er lehrte.
War der sechste Schachweltmeister eine Art lebendes Denkmal für Euch?
Ich denke, Michail Botwinnik war eine der größten Persönlichkeiten des Schachs im 20. Jahrhundert. In der UdSSR ist er es auf jeden Fall gewesen. Er begründete eine legendäre Schule, und alle späteren Methoden fußen auf Botwinniks Lehre. Es gibt ein geflügeltes Wort Dostojewskis: "Wir alle kommen von Gogols Mantel her". Und Michail Tal sagte einmal ganz treffend, dass wir alle von Botwinnik herkommen, so wie die russische Literatur von Gogols Buch Der Mantel. Botwinnik lebt in jedem unserer Schachspieler.
Botwinnik beim Simultan | Foto: yandex.ru
Das klingt sehr begeistert und voller Bewunderung.
Michail Botwinnik war der Schach-Lehrmeister schlechthin. Deshalb bin ich sehr froh, dass ich das Glück und die Möglichkeit hatte, von ihm zu lernen und mit ihm zu arbeiten. Es ist ganz wichtig, jetzt diese wertvollen Erfahrungen an die heutige Generation weiter zu geben.
Exweltmeister Wladimir Kramnik sagte mir einmal am Rande der Dortmunder Schachtage:
Ich habe viele gute Erinnerungen an Michail Moisejewitsch, obwohl es schon sehr lange her ist, dass ich bei ihm Unterricht erhielt. Damals war ich ein 12-jähriger Schüler und übrigens einer seiner letzten Zöglinge.
War Botwinnik ein strenger Lehrer?
Das würde ich nicht sagen. Es ist wohl mehr eine Legende. Er war gütig und verhielt sich auch so zu uns Schülern. Michail Botwinnik hatte ein ganz feines Gefühl für Humor. Das sind meine stärksten Erinnerungen.
Was hat die Schule dir gebracht?
Sehr viele Erkenntnisse. Denn dort arbeitete ja nicht nur der Patriarch des sowjetischen Schachs, sondern in den letzten Jahren unterrichtete auch Garri Kasparow gemeinsam mit ihm in der Schule. Das war für uns alle sehr wertvoll.
Welche nachhaltigen Erinnerungen hast du noch, und welche Eindrücke von der Schule werden für immer bleiben?
Allein Michail Botwinniks Anwesenheit war wichtig. Seine interessanten Erzählungen über das Schach, das alles hat mich sehr bereichert. Es war nicht so, dass ich nach seinen Lektionen in Moskau in diesem zarten Alter sofort viel besser spielte. Das kam erst später. Aber der instruktive Unterricht von Botwinnik und Kasparow gab einem als jungem Schachspieler für die Karriere natürlich sehr viel.