Zum 25. Todestag von Vladas Mikenas

von André Schulz
03.11.2017 – Der Name von Vladas Mikenas ist im Westen Europas nicht so geläufig, doch er war hinter Keres wohl der zweitbeste baltische Spieler jener Zeit und einer der besten in der Geschichte der baltischen Länder überhaupt. Heute jährt sich sein Todesdatum zum 25sten Mal.

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Vladas Mikenas: Litauischer Rekordmeister

Vladas Mikenas wurde in Tallin geboren, am 17. April 1910. Damals hieß die estnische Hauptstadt noch Reval. Im Zuge der ersten estnischen Unabhängigkeit von Russland nach dem 24. Februar 1918 wurde die Stadt offiziell in Talinn umbenannt, was wohl im Estnischen aus dem Begriff "Taani-linn" (dänische Burg) abgeleitet wurde.

Mikanes Eltern waren Jonas Mikenas, der eigentlich aus Litauen stammte, und Bronislava Mikeniene, eine Polin. Vladas Mikeans hatte zwei Schwestern, Elena Mikenaite and Stanislava Resen. Als Mikenas zehn Jahre alt war, starb sein Vater und er war gezwungen, nach der Schule arbeiten zu gehen, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Am Abend beschäftigte er sich heimlich mit dem Schachspiel.

Sein erstes Turnier spielte Mikenas im Alter von 15 Jahren im Schachklub von Tallinn und gewann es vor Friedrich Amelung, offenbar einem Sohn des bekannten baltischen Industriellen und Schachpublizisten. 1929 beendete Mikanes seine Schule am Russischen Gymnasium von Talinn und begann nun ein Studium an der Technischen Universität von Talinn. Nebenher betätigte ers sich als Schach-Kolumnist für die estnische Zeitung "Esmaspaew (= "Montag"). 1929 besuchte Mikenas Pärnu und gab dort eine Simultanvorstellung. Einer seiner Gegner war der 13-jährige Paul Keres. Mikenas schrieb über diese Begegnung:

"Ich gab in Pärnu eine Simultanvorstellung. Während ich von Brett zu Brett gibg, fiel mir ein dunkelhaariger Junge auf, der für sein Alter sehr kreativ spielte. An seinem Brett musste ich öfter länger innehalten, um nachzudenken. Doch ich konnte nichts machen. Nach jedem Zug wurde meine Stellung schlechter und schließlich sah ich mich aufgeben, während der Junge von der Menge stehenden Applaus erhielt. Nach dem Simultan bat der Junge mich um ein paar freie Partien. Um ihm den Gefallen zu machen, willigte ich ein."

Nach seinem eigene Sieg über den Meister verhalf Keres auch noch seinem Freund Jüri Rebane, der neben ihm saß, zu einem Sieg über Mikanes, der Pärnu tief beeindruckt verließ:

"Ich wusste, da erschien ein neues großes Schachtalent am Horiziont!"

1930 wurde Mikenas Meister von Talinn und gewann im September 1930 auch die Meisterschaft von Estland. Im Dezember 1930 wurde in Talinn ein Turnier organisiert, an dem sieben lokale Spieler und mit Efim Bogoljubow einer der besten Spieler jener Zeit teilnahmen. Mikenans besiegte den deutsch-russischen Großmeister und entschied damit das Turnier für sich. 

 

1931 reiste Mikenas nach Finnland und gewann die Meisterschaft des Schachklubs von Helsinki überlegen mit 9,5/10. Im Zuge einer Einladung zu den Baltischen Meisterschaften (22.-27. Mai 1931) in der litauischen Stadt Memel (heute: Klaipeda) besuchte Mikanes erstmals auch die Heimat seines Vaters und entschied sich dort zu bleiben. Im Juni 1931 übersiedelte er nach Litauen, was ohne bürokratische Hürden möglich war, weil er durch seinen Vater im Besitz eines litauischen Passes war. Die litauische Sprache beherrschte Mikenas allerdings bei seiner Einbürgerung nicht, da in seinem Elternhaus Russisch und Polnisch gesprochen wurde.

Die Baltischen Meisterschaften von 1931 beendete Mikenas hinter Isakas Vistaneckis (Kaunas) als geteilter Zweiter zusammen mit Vladimir Petrovs (Riga), dem bekannten deutschen Schachmeister und Journalisten Paul Saladin Leonhardt (Königsberg), und Simon Gordon (Memel).

Vom 11. bis 26. Juli 1931 nahm Mikenas in Prag erstmals für Litauen an einer Schacholympiade teil und vertrat seine neue Heimat am 1. Brett. Die litauische Mannschaft belegte den 13. Platz. Auch bei den nächsten Schacholympiaden nahm Litauen und Mikenas teil, in Folkstone 1933, Warschau 1935, obwohl Litauen mit Polen offiziell seit 1920 im Krieg lag, bei der nicht allgemein anerkannten Schacholympiade von München 1936, in Stockholm 1937 und bei der letzten Vorkriegsolympiade 1939 in Buenos Aires, in deren Verlauf bekanntlich der Zweite Weltkrieg begann. Während viele Teilnehmer angesichts der unsicheren Zukunft in Europa es vorzogen in Argentinien zu bleiben, kehrte Mikenas nach Europa und in seine Heimat zurück.

1933 hatte Mikenas den siebenmaligen litauischen Landesmeister Aleksander Macht besiegt und wurde erstmals selber litauischer Landesmeister. In den nächsten Vorkriegsjahren verteidigte er seinen Titel mehrfach, 1934, 1937 und 1938 gegen Paul Vaitonis, 1935 gegen Isakas Vistaneckis. Aleksander Macht war hingegen mit seiner Familie inzwischen nach Palästina ausgewandert und wurde in Israel bald ein sehr erfolgreicher Bankier. Er förderte die Künste und war Mitglied im Schachverband von Israel. Turnierschach spielte er in Israel nicht mehr. Als Rentner führte Aleksander Macht nach 1963 das Schach- und Künstlercafé "Café Ditza" in Tel Aviv. 

Mikenas schlägt Aljechin

1937 war Vladas Mikenas einer der Teilnehmer beim großen internationalen Turnier von Kemeri. Ihm gelangen dort unter anderem Siege gegen den Co-Turniersieger Vladimir Petrovs und gegen Alexander Aljechin (Bild). Zum Schluss belegte mit 8 Punkten einen Platz im Mittelfeld. Beim 2. Internationalen Turnier von Kemeri von 1939, nicht ganz so gut besetzt wie das erste, wurde Mikenas Vierter.

Im Hitler-Stalin-Pakt von 1939 wurden in einem geheimen Zusatzprotokoll die Einflussgebiete im östlichen Mitteleuropa zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion geregelt. Das Baltikum und Litauen wurde dabei der Sowjetunion überlassen. Am 15. Juni 1940 rückte die Rote Armee ein und beendete gewaltsam die kurze Unabhängigkeit des Landes. Litauen wurde in eine "Litauische Sozialistische Sowjetrepublik" umgewandelt und Mikenas war jetzt Sowjetbürger. Im September 1940 nahm Mikenas deshalb am Finale der 12. Sowjetischen Meisterschaft teil und wurde dort 13ter. Neben anderen konnte er in diesem Turnier auch Mikhail Botvinnik besiegen. Im Juni 1941 spielte er gerade in Rostow am Don das Semifinale zur Sowjetischen Meisterschaft mit, als die Deutsche Wehrmacht in Russland einmarschierte. Mikenas konnte nicht mehr in seine besetze Heimat zurückkehren und verlebte den größten Teil des Zweiten Weltkrieges in Russland. Während dieser Zeit spielte er in der Sowjetunion einige Turniere mit. Im Herbst 1944 eroberte die Rote Armee Litauen zurück und erneuerte die Litauische Sowjetrepublik.

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges nahm Mikenas wieder regelmäßig an den Turnieren in seiner Heimat und anderen baltischen Ländern teil. In Riga wurde er 1945 Baltischer Meister. Er gewann die Meisterschaft von Litauen 1947, 1948, 1961, wurde geteilter Erster 1964, 1968 und 1965 und gewann die Meisterschaft erneut 1977, zum letzten Mal. Er wurde zudem Zweiter oder geteilter Zweiter 1952, 1954, 1957, 1958, 1963, 1967, Dritter oder geteilter Dritter 1949, 1955, 1959, 1960, 1964 und jeweils Sechster 1951 und 1953.  Beim "Baltic Sea - sea of piece"-Turnier im Dezember 1959 in Riga besiegte er neben anderen Mikhail Tal und wurde hinter Boris Spassky mit nur einem halben Punkt Rückstand Zweiter. Für das Finale der Sowjetischen Meisterschaften qualifizierte Mikanes sich alles in allem zehn Mal, zuletzt 1970, belegte dort aber meist nur Plätze im Mittelfeld oder in der zweiten Tabellenhälfte.

Zwischen 1955 und 1962 war Vladas Mikenas zudem Trainer von Paul Keres. Die FIDE ernannte Mikenas 1950 zum Internationalen Meister und 1987 zum Ehrengroßmeister (HGM). Neben dem Turnierschach betätigte er sich auch intensiv beim Fernschach und gewann mit der litauischen Mannschaft den Eberhard-Wilhelm-Cup (1963-72). 1971 wurde ihm der Titel eines Internationalen Fernschachmeisters verliehen.

Mikenas als Schiedsrichter

Nach dem Ende seiner aktiven Karriere als Turnierschachspieler, das letzte Turnier bestritt er 1979, blieb Mikenas dem Schach als Schiedrichter treu und leitete zwischen 1983 und 1985 die Kandidatenkämpfe zwischen Kasparov und Beliavsky (Bild), Kasparov und Smyslov sowie den WM-Kampf Kasparov-Karpov 1985.

In der Eröffnungstheorie ist Mikenas Namensgeber einer Variante der Englischen Eröffnung

1.c4 Sf6 2.Sc3 e6 3.e4 (Mikenas-Flohr-System),

einer Variante in der Nimzoindischen Verteidigung

1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4 4.Dd3

und einer Variante in der Benoni-Verteidigung

1.d4 Nf6 2.c4 c5 3.d5 e6 4.Nc3 exd5 5.cxd5 d6 6.e4 g6 7.f4 Bg7 8.e5.

Vladas Mikenas war mit Aleksandra Cepurnaite verheiratet und hat drei Kinder: Alius Mikenas, Birute Mikenaite und Vladas-Algirdas Mikenas. Wie sein Vater spielte Alius Mikenas Fernschach und auch ein paar Nahschachturniere, wenn auch nicht ganz so erfolgreich.

Am 3. November 1992 starb Vladas Mikeans in Vilnius im Alter von 82 Jahren.

P.S.:

Der Schachhistoriker Michael Negele wies mich darauf hin, dass der erwähnte Friedrich Amelung kein Sohn des berühmten Friedrich Amelung gewesen sein kann, da dieser wie sein Bruder Arthur Junggeselle war. Die Verwandschaft muss anderer Natur sein. Michael Negele, der kürzlich ein sehr schönes Buch über Paul Felix Schmidt veröffentlich hat, ist zudem der Auffassung, dass wohl bis zum Zweiten Welkrieg Paul Felix Schmidt hinter Keres der zweitbeste Spieler nach Paul Keres war. Als profunder Kenner des baltischen Schachs hat Michael Negele sicher recht. Herzlichen Dank für diese Hinweise!

 

 


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.

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