Geburtstage sind am tödlichsten
Christian Hesse versucht seinen 60. Geburtstag gut zu überstehen / Mathematiker, Buchautor und Schach-Liebhaber
„Von Glückszahl bis Geheimzahl“ lautet das neueste unterhaltsame Mathematik-Buch von Christian Hesse. In diesem Fall (Droemer-Verlag, 16,99 Euro, 256 Seiten) hat er sich mit Wetter-Moderator Karsten Schwanke zusammengetan, um zahlreiche kuriose Alltagsphänomene zu beleuchten. Hesse ist zwar von Hause aus Mathematiker – aber ein in den Medien gefragter, der dabei nie vergisst, seine Passion Schach positiv ins Spiel zu bringen.
Karsten Schwanke, Christian Hesse
Der eloquente Mannheimer wurde 1991 mit 30 Jahren jüngster Professor der Republik und beschäftigt sich seitdem (einen achtmonatigen Forschungsaufenthalt 2012/13 in Kalifornien ausgenommen) an der Uni in Stuttgart mit dem Thema Stochastik. „Das ist die mathematische Analyse von Zufallsvorgängen. Denn auch der Zufall ist nicht regellos, auch er hat Gesetze, denen er gehorcht. Sogar sehr viele Gesetze“, erläutert Hesse und nennt als Beispiel „das Gesetz der Großen Zahlen“. Die Stochastik spielt eine Rolle bei Aktienkursverläufen, Wetterprognosen, chaotischen Systemen und in vielen anderen Situationen – und das weiß Hesse, der heute 60 Jahre alt wird, so gut wie kein Anderer dem Laien spannend zu vermitteln!
Mit einem Bild von Ugo Dossi
Entpuppte sich sein Schach-Erstling „Expeditionen in die Schachwelt“ bereits als unterhaltsames wie erfolgreiches Werk, entwickelten sich auch die populärwissenschaftlichen Nachfolger aus seiner Feder als Bestseller. Mit dem Freund und Fan von Wladimir Kramnik, Viswanathan Anand, Judit Polgar und anderen Weltklassespielern unterhielt sich Hartmut Metz.
Herr Hesse, Zufall, dass Ihr neues Buch exakt 2 hoch 8 Seiten hat? Oder bestand Ihre Ambition am Schluss doch noch darin, auf exakt 256 Seiten zu kommen?
Hesse: Das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Es ist nur durch Zufall so. Aber wenn ich jetzt esoterisch veranlagt wäre, könnte ich denken, dass die 2 und die 8 mich irgendwie verfolgen oder jedenfalls in meinem Leben eine gewisse Rolle spielen. Denn zusätzlich ist der 2.8. ja mein Geburtstag sowie auch der von meiner Mutter, meinem 85-jährigen Onkel, meiner verstorbenen Tante und meinem besten Freund im Schach: Frederic Friedel.
Auch wenn ich weiß, dass sich bei nur wenigen Personen schon eine hohe Wahrscheinlichkeit eines gleichen Geburtstages ergibt, ist die Häufung doch ungewöhnlich! Sie haben das Bundesverfassungsgericht und den Bundestagspräsidenten bei wahlmathematischen Fragen beraten. Im Klappentext des Buches steht, dass Sie auch die US-Regierung beraten haben. Das war hoffentlich noch vor Donald Trump? Er legt ja mehr Wert auf Twitter-Zahlen als auf logische Folgen …
Hesse: Ja, das ist sehr lange her. Es war gegen Ende der Zeit als ich von 1983 bis 1991 in den USA lebte. Ich arbeitete damals als Assistenz-Professor für Mathematische Statistik in Berkeley. Und George Bush war damals der Präsident, also Vater Bush.
Auch wenn in Ihrem jüngsten Werk Schach ausnahmsweise ausgespart wird, wird doch ein gewohntes Ritual bei Partien angeschnitten: das Händeschütteln zur Begrüßung und zum Zeichen der Aufgabe beziehungsweise zur Annahme des Remisangebots. So interessant die Ausführungen zu den mathematischen Theoremen von Euler und Gauß dazu sind, wurden Sie durch Corona von der aktuellen Situation überrollt. Hat sich das Händeschütteln durch die Pandemie selbst in Deutschland und im Schach für alle Zeiten erledigt oder geben Sie dem Händeschütteln eine kleine Chance?
Hesse: Händeschütteln ist stark kulturabhängig. Wo wir eben von den USA sprachen: Amerikaner schütteln sich nur beim ersten Kennenlernen und bei sehr formellen Anlässen die Hand, während es in Deutschland vor Corona viel öfter vorkam. Jetzt wird mit gutem Grund davon abgeraten. Ich habe in den letzten vier Monaten gerade mal einem Menschen die Hand geschüttelt. Und das war noch aus Versehen, weil ich unkonzentriert war. Ich denke, auch nach Corona werden wir wahrscheinlich nicht zu unserem sehr häufigen Händeschütteln zurückgehen.
Wenn wir schon bei Statistik und Wahrscheinlichkeiten sind: Gibt es die Elo-Inflation seit Jahrzehnten? Und wie stark fällt sie aus?
Hesse: Man kann eine kleine Überschlagsrechnung machen. Bobby Fischer hatte im August 1970 eine Elo-Zahl von 2720, genau wie Karpow als Weltranglistenerster im August 1985. In diesem Zeitraum gab es keine Elo-Inflation. Die setzte aber dann 1985 ein. Heute, 35 Jahre später, hat Magnus Carlsen eine Elo von circa 2880. Der Elo-Unterschied zwischen dem damaligen Karpow und Carlsen beträgt demnach 160 Punkte. Wenn man einmal annimmt, dass die Elo-Inflation in diesen 35 Jahren gleichmäßig fortgeschritten ist, dann kann man dafür also rund 50 Elo-Punkte pro Jahrzehnt veranschlagen.
Wer sind dann Ihren Berechnungen nach die zehn besten Spieler aller Zeiten?
Hesse: Hm, kann ich vielleicht meinen Telefon-Joker anrufen? Obwohl, wenn das ginge, säße ich jetzt woanders. Dann lieber hier (lacht). Aber im Ernst, das ist eine sehr schwere Frage. Ich habe mich noch nie rechnerisch oder datengestützt mit dieser Frage beschäftigt. Wenn man statt der zehn besten mal nur nach dem besten Spieler fragt, müsste natürlich zunächst geklärt werden, wie wir das definieren wollen. Mathematiker wollen ja alles immer präzise definiert haben, bevor sie aktiv werden. Ist der Beste vielleicht der, der in seinen Partien gegen seine Kollegen an der Weltspitze die geringste Quote an Niederlagen hinnehmen musste? Dann käme man vielleicht auf Capablanca. Oder ist es derjenige, der am längsten die Weltrangliste angeführt hat? Dann kommt man auf Kasparow. Oder ist es derjenige, der die Topspieler seiner Ära am weitesten überragt hat? Dann würden die Daten möglicherweise Bobby Fischer oder Magnus Carlsen als Besten ausweisen.
Und welche Spieler sind Ihre liebsten aus der Schach-Geschichte? Wir nehmen an, dass Wladimir Kramnik darunter ist.
Hesse: Am liebsten sind mir zum einen natürlich die, zu denen ich eine persönliche Beziehung habe. Und Wladimir Kramnik ist da auch mit dabei. Und Vishy Anand, Peter Leko und Judit Polgar und Helmut Pfleger, ein sehr lieber Freund.
Christian Hesse und Anand
Stimmt, das genannte Quintett ist durchweg äußerst sympathisch! Und alle sind auch sehr humorvoll.
Hesse: Wenn ich in die Geschichte gehe, dann ist mir Bobby Fischer am liebsten. Wobei „am faszinierendsten“ eigentlich eine bessere Formulierung wäre. Und Bobby Fischer nur aufs Schach bezogen. Manche von den Dingen, die er in seinen letzten Jahren außerhalb des Schachs gesagt hat, waren sehr schlimm.
Wohl wahr!
Hesse: Aber er schaffte es immer, Schach zu etwas ganz Besonderem zu machen. Er musste sich nur ans Brett setzen. Und sein WM-Kampf gegen Spasski 1972 hat damals meine nie versiegende Passion für die Beschäftigung mit Schach begründet. Wobei es mir nicht ums Schachspielen geht, sondern um die ganze Schachszene mit ihren illustren Charakteren, um die Schachliteratur, um die Reisen zu WM-Kämpfen und anderen Turnieren. Letzteres vermisse ich in diesen Corona-Zeiten.
In Ihrem neuen Buch geht es auch um die „riskantesten Tage des Jahres“? Welcher ist das am Schachbrett, würde mich interessieren? Und kann ich den vorab ermitteln und mich fernhalten von den 64 Feldern?
Hesse: Im richtigen Leben ist der riskanteste Tag der eigene Geburtstag. Statistische Untersuchungen, in die Geburts- und Todesdaten von vielen Millionen Menschen einbezogen wurden, belegen, dass die Sterbewahrscheinlichkeit am eigenen Geburtstag um 14 Prozent erhöht ist gegenüber dem Durchschnitt der anderen Tage. Das ist recht beachtlich. Um aufs Schachspielen zu kommen: Was den Stress betrifft, ist Turnierschach nicht zu unterschätzen. Studien von Psychologen haben ergeben, dass bei einer wichtigen Partie, die auf des Messers Schneide steht, bei den Spielern so viel Adrenalin im Körper ausgeschüttet wird wie bei Paraglidern, Tiefseetauchern und Extrembergsteigern. Und tatsächlich sind einige Menschen beim Schach gestorben. Das liegt aber dann am Stress des Spiels und weniger an den Tagen, an denen man es spielt: Da gibt’s zum Beispiel die Geschichte des ersten Fernschachweltmeisters Cecil Purdy. Er spielte 1979 eine extrem spannende Partie gegen Ian Parsonage bei einem Turnier in Sydney. Purdy erlitt eine massive Herzattacke am Brett und wurde ins Krankenhaus geschafft. Sein Sohn eilte herbei, beugte sich zu seinem um Worte ringenden Vater herab. In dieser Situation könnte man allerlei sagen. Cecil Purdy sagte, wohl um jedes Wort kämpfend: „Ich stehe auf Gewinn, aber es dauert seine Zeit.“ Kaum etwas zeigt die Begeisterung und die Leidenschaft besser, die man fürs Schach empfinden kann, als diese Worte in dieser Situation.
Oh ja! Das erinnert mich an eine andere Anekdote aus dem Senioren-Schach, die ich im Schachkalender 2020 zum Besten gab. Ein Senior fiel vom Stuhl, doch trotz des herannahenden Notarztes lehnte er das Remisangebot seines Gegners vom Boden aus ab (siehe am Ende des Textes). Doch zurück zu Ihnen: Jetzt werden Sie 60 und gemäß Ihrem ersten Kapitel klettert das Sterberisiko in dem Alter auf 28 Mikro-Mort (eine Wahrscheinlichkeit von 28 Millionstel, an diesem Tag zu sterben) – am Geburtstag und der Woche davor selbst ist es bei Männern noch höher, wie Sie schon vorher ausführten. Wie wappnen Sie sich dagegen?
Hesse: Es ist mir klar, dass ich das risikoärmste Lebensalter lange hinter mir habe. Das hat man übrigens mit zehn Jahren. Von dort aus betrachtet verdoppelt sich das Sterberisiko im Schnitt alle sieben Jahre, jedenfalls für uns in Mitteleuropa. Im Prinzip bin ich ein risikoscheuer Typ. Am Geburtstag wie auch sonst generell vermeide ich risikoreichere Aktivitäten wie Rauchen, zu viel Alkohol, Motorrad-Selbstfahren oder auch nur mitzufahren. Mit 18 hat meine Tochter kürzlich einen Fallschirmsprung von ihrem Onkel geschenkt bekommen, sie ist also mit jemandem zusammen gesprungen. Auch so etwas würde ich nicht machen. Es liegt daran, dass ich ein ziemliches Familientier bin und denke, dass ich in dieser Rolle noch gebraucht werde.
In vier Jahren sind Sie 64 – klingt das für Sie als leidenschaftlicher Schachspieler noch gefährlicher oder ist es ein Grund zur Freude?
Hesse: Ich nehme jedes Lebensalter so, wie es kommt und bin gespannt darauf, was es zu bieten hat. Meine persönliche Glückskurve ist eigentlich in den letzten Jahren stark angestiegen. Und ich fühle mich jetzt jedenfalls um einiges besser als zum Beispiel mit 20 Jahren. Wenn ich 64 bin sind meine Kinder erwachsen und meine Frau und ich haben schon mal daran gedacht, uns dann noch einmal neu zu erfinden, etwa in einer Stadt wie Berlin. Aber man sollte ja mit der Äußerung seiner Pläne vorsichtig sein. Wie sagen die alten, weisen Chinesen: Willst du Gott zum Lachen bringen, erzähl ihm, was du vorhast. Und selbst wenn man kein gläubiger, alter, weiser Chinese ist, weiß man, dass sich im Leben sehr schnell was ändern kann. Jemand, den ich sehr schätze, hat mal gesagt: Man muss die Dinge nehmen, wie sie kommen und bei allem, was kommt, tapfer bleiben. Das ist nicht immer leicht. Aber das versuche ich.
Die oben erwähnte Anekdote aus dem „Schachkalender 2020“ im Detail:
„Ich lehne ab!“
Senioren-Turniere sind besonders unterhalten – nicht nur, weil die Protagonisten gerne von urigen besseren alten Zeiten erzählen. Eine besondere Anekdote wusste einmal mehr Dieter Villing zu berichten.
Der langjährige badische Meisterspieler aus Ladenburg wunderte sich bei einem Seniorenturnier: Kontrahent Jürgen Dümmke schien ziemlich lange auf der Toilette zu verweilen – obwohl seine Zeit verrann und ihm mittlerweile nur noch eine Minute für drei Züge auf der Uhr blieben. Rechtzeitig eilte er jedoch zurück ans Brett, blitzte die drei Züge runter – und fiel nach dem 40. Zug vom Stuhl. „Ich hielt daraufhin die Uhr an und rief den Schiedsrichter“, berichtete Villing. Von diesem gab es erst einmal einen Rüffel. Der Referee machte ihm unmissverständlich klar, dass er die Uhr nicht hätte anhalten dürfen … Villing überwand rasch seine Verblüffung, dass der am Boden liegende Rivalen nicht in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt war, und sagte: „Ich biete Remis an!“ Von unten kam postwendend die nächste Überraschung: „Ich lehne ab!“
Dass es um ihn schlecht stand, ignorierte Dümmke geflissentlich – schließlich wusste er, dass es für ihn auf den 64 Feldern besser steht. Doch der bis dahin so auf die Regeln erpichte Schiedsrichter sorgte für eine weitere unerwartete Wendung: „Ich nehme für ihn an – der Notarztwagen ist bereits unterwegs!“