Dieser Artikel erschien in junge Welt.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.
Zum 60. Todestag des Schachweltmeisters A. Aljechin
Von Mario Tal
Leo Trotzki persönlich soll ihn da rausgeholt haben. 1919 in Odessa, wo sich die
Bolschewiki heftige Kämpfe mit den Weißgardisten lieferten und unter anderem den
kommenden Schachweltmeister Alexander Aljechin wegen "anti-sowjetische
Aktivitäten" festnahmen. Aljechin sollte Kontakt mit einem englischen Spion
gepflegt haben. Auszuschließen ist das nicht, angesichts der politischen
Achterbahnfahrt des Schachgenies. Wahrscheinlicher als die Geschichte mit
Trotzki ist aber allemal die Version, dass ein gewisser Jakow Wilner,
Schachmeister und Problemkomponist aus Odessa, von der Sache Wind bekam und ein
Telegramm an den Vorsitzenden des Rates der Ukrainischen Volkskommissare,
Christian Rakowski, sandte, der die sofortige Freilassung Aljechins angeordnet
haben soll.
So konnte der damals 27- jährige wenige Monate später die erste sowjetische
Meisterschaft für sich entscheiden. Seinen Durchbruch hatte er bereits 1909
gefeiert, als Aljechin das Allrussische Amateurturnier von St. Petersburg gewann
und damit eine von Zar Nikolai II. gestiftete Porzellanvase abräumte. Eben dort
belegte er 1914, als er längst international gegen die ganz Großen spielte, beim
"Turnier der Champions" hinter Lasker und Capablanca, dem amtierenden und dem
künftigen Weltmeister, den dritten Rang. 1921 siedelte er nach Frankreich über
und errang in der Folgezeit eine Reihe großer Turniersiege. 1927 reiste er
jedoch als Außenseiter nach Buenos Aires zum WM-Match gegen das "unbesiegbare"
kubanischen Genie Capablanca. Nach zweieinhalb Monaten, sechs gezogenen Zähnen
und ebenso vielen gewonnen Partien bestieg Aljechin den Schachthron, den er mit
einer Unterbrechung von zwei Jahren bis zu seinem Tod im Jahr 1946 innehatte.
Nach "Capa" hatte "die Welt noch nie einen so harmonischen Spieler gesehen" und
noch laut Bobby Fischer verwirklichte er in seinen Partien "gigantische
Konzeptionen unerhörter und beispielloser Ideen”. Wollte man die besten fünf
Spieler aller Zeiten küren, Aljechin wäre sicher mit dabei.
Weit verheerender fällt seine politische Bilanz aus: Hatte er jahrelang das
Spiel seiner jüdischen Kontrahenten gelobt und noch 1939 bei der
Schach-Olympiade in Buenos Aires zu einem Boykott des deutschen Teams
aufgerufen, so verfasste er im März 1941 für eine deutschsprachige Zeitung im
besetzten Paris eine Artikelserie unter dem Titel "Jüdisches und arisches
Schach, eine psychologische Studie", die - gegründet auf die Erfahrungen am
schwarz-weißen Brett - den jüdischen Mangel an Mut und Gestaltungskraft
nachweist«.
Die antisemitische Unterscheidung eines "feigen jüdischen
Sicherheitsschach" einem “romantischen, kühn-verwegenen, heldenhaften arischen
Schach« war bereits 1916 von dem Schachpublizisten Franz Gutmayer getroffen und
ab 1933 von den Nazis zur Doktrin erklärt worden.
Nach dem Krieg entschuldigte sich Aljechin im "British Chess Magazin" für seinen
Antisemitismus. Die Internationale Schachföderation FIDE hatte ihn da bereits
wegen der Artikelserie von den ersten großen Nachkriegsturnieren ausgeschlossen.
Als Weltmeister konnte er nicht mehr herausgefordert werden: Heute vor 60 Jahren
beging Aljechin spektakulär Selbstmord, indem er in einem Hotel bei Lissabon den
Giftbecher trank, in einem Lehnstuhl sitzend und vor sich ein Schachbrett mit
dem Eröffnungszug e2-e4.