Zum 65.
Todestag von Alexander Aljechin
Von Dagobert Kohlmeyer
Es passierte am 24. oder 25. März 1946. Der genaue Sterbetag des
vierten Schachweltmeisters ist heute nicht mehr nachprüfbar. Man fand den toten
Alexander Aljechin am Morgen des 25. März vor 65 Jahren in seinem Hotelzimmer im
portugiesischen Estoril. Die Stadt liegt unweit von Lissabon am Atlantik. Auch
die exakte Ursache des Todes ist bislang nie eindeutig geklärt worden.
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Nach wie vor fasziniert der Name Aljechin Millionen
Schachanhänger auf der Welt. Meine erste Begegnung mit den Partien des
russischen Weltmeisters hatte ich in den 1960er Jahren, als der Sportverlag
Berlin die zweibändige Ausgabe von Alexander Kotows Buch „Das Schacherbe
Aljechins“ in deutscher Sprache herausbrachte. Mit Begeisterung spielte ich die
Partien nach, deren tiefen Gehalt ich damals als Teenager natürlich nur
ansatzweise erfassen konnte.
Mit wem aus der Schachszene ich in späteren Jahren auch über das
russische Schachgenie sprach, ob Wassili Smyslow, Boris Spasski, Lothar Schmid
oder Artur Jussupow - bei allen rangierte Alexander Aljechin unter den größten
Meistern der Geschichte immer ganz weit vorn.
Viele Schachgrößen schauten auch in Estoril vorbei, wenn sie in
Portugal waren: Lothar Schmid nach einem Turnier in Lissabon, Boris Spasski war
dort und natürlich Aljechins Sohn Alexander. Mit allen haben wir uns bei
verschiedenen Gelegenheiten darüber unterhalten.
Spasski: „Aljechin wurde umgebracht“
Der zehnte Weltmeister gehört zu den Anhängern der
Verschwörungstheorie und hat vor einigen Jahren ernsthaft in dieser Sache
recherchiert. In einem unserer Interviews sagte Boris Spasski einmal:
„Mich
interessieren vor allem die Umstände seines Todes. Ich habe einen alten Mann
getroffen, der seinerzeit von der Polizei in Portugal beauftragt wurde, die
Leiche des Schachweltmeisters zu öffnen. Denn Aljechin ist nicht in dem besagten
Hotel in Estoril gestorben. Diese Geschichte stimmt nicht. Das soll, wie
gemunkelt wird, alles ausgedacht sein.
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Es
gibt verschiedene Theorien über Aljechins Tod. Wie ist deine?
Ich denke, auf ihn wurde wahrscheinlich ein Doppelanschlag verübt. Beim ersten
Mal erhielt er Gift. Dann lief er auf die Straße, um Hilfe zu holen. Vielleicht
wollte er auch in eine Apotheke. Und draußen hat man ihn dann getötet.
Wie
kam man dahinter?
Durch Antonio Feirera, der damals die Sterbeurkunde unterzeichnete. Er war
seinerzeit sehr jung, aber am Ende seines Lebens sagte er, dass man Druck auf
ihn ausgeübt habe. Und deshalb musste er das getürkte Obduktions-Protokoll
unterschreiben.
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Wer
kann ein Interesse daran gehabt haben, Aljechin umzubringen?
Nach dem Kriege war Portugal zwar neutral, aber durch das Land strömten damals
viele Leute, nicht nur aus Deutschland. Und deshalb ist das durchaus möglich
gewesen. Alle Geheimdienste arbeiteten dort. Aljechin stand sicher auf ihrer
Liste. Er war ja geächtet. In Schachkreisen galt er offiziell als
Kriegsverbrecher. Fast so schlimm wie Saddam Hussein. (Aljechin
hatte während des 3. Reichs in Deutschland Turniere gespielt und einen
diskriminierenden Artikel über die Juden veröffentlicht.)
Im Herbst 1943 ging Aljechin aus Deutschland weg. Er war krank und bettelarm.
Niemand hat ihn beschützt. Es kostete überhaupt nichts, ihn umzubringen. Das war
für diese Banditen sehr leicht.
Aljechins Grab befindet sich in Paris. Gehst du oft hin?
Ab und zu bin ich dort, um ihn zu ehren. Er ist für mich einer der größten
Weltmeister.
Bei
meiner letzten Paris-Reise war ich auch auf dem Friedhof und hatte ursprünglich
vor, dich anzurufen, ob du mitkommst. Aber ich wollte dich nicht stören und ging
mit Christophe Bouton hin…
Ruf das nächste Mal ruhig an, wenn du in Paris bist. Mit solchen Dingen muss man
sich immer beeilen, denn wir leben nicht ewig.
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Andere Großmeister wie Lothar Schmid oder Artur Jussupow teilen Spasskis
Ansicht über Aljechins Ende nicht. Der Bamberger Karl-May-Verleger erklärte:
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"Warum er starb, weiß man nicht. Es hieß ja, er habe zu hastig
gegessen und sich beim Frühstück verschluckt. Daran soll er erstickt sein.
Keiner kann es heute mehr beweisen. Spasski wird sich sicherlich mehr damit
befasst haben als andere. Mir wurde das so erzählt. Ich bin einmal von einem
Turnier in Lissabon aus dorthin gefahren und habe mir das Hotel angesehen.
Estoril ist ein kleiner Badeort.
Ansonsten gehörte Aljechin zu den Schach-Persönlichkeiten, die
mich am meisten beeindruckt haben. 1943 traf ich ihn in Wien. Wir spielten dort
in der Neuen Hofburg die deutsche Jugendmeisterschaft, bei der ich
Zweiter/Dritter wurde. Aljechin war Ehrengast. Das war für uns eine große
Überraschung und Ehre zugleich. Später spielte er simultan, und mein Schulfreund
Rolf Roennefahrt hat Remis gemacht. Er hätte das Endspiel mit einer Qualität
mehr sogar gewinnen können, war mit dem Remis aber zufrieden und Aljechin erst
recht. Ich sah nur zu, denn ich spielte ja bei der Jugendmeisterschaft.
Alexander Aljechin war in seiner Art einmalig. Ich erinnere mich
noch an diese breiten Hosen, in denen er durch den Saal der Hofburg schlurfte.
Da habe ich das Faszinosum Schach leibhaftig gespürt. Aljechin schien unnahbar,
aber das täuschte. Er analysierte dort gern mit anderen Schachmeistern, zum
Beispiel mit Rellstab. Hin und wieder warf er einen genialen Zug dazwischen. Ich
habe das von weitem mit Stielaugen betrachtet, wie er immer die Dame auf d6
opferte."
Artur Jussupows Meinung über Alexander Aljechins Ende:
"Ich bin zu wenig über Aljechins letzte Lebensphase informiert,
aber glaube kaum, dass er getötet wurde. Dass er im dritten Reich Schach
gespielt und einen dummen Artikel unterschrieben hat, war natürlich ein Makel.
Aber ihn deshalb zu ermorden, ich weiß nicht. Sein „Vergehen“ war
vergleichsweise harmlos. Er ist doch kein Kriegsverbrecher gewesen, der tausende
Menschen umgebracht hat.
Was uns bleibt, ist sein großes Erbe. Alexander Aljechin hatte
einen aggressiven und gleichzeitig schönen Schachstil. Wir alle haben von seinen
Partien gelernt und tun es immer noch. Ob Kombinationen oder positionelles
Spiel, er beherrschte alles. Deshalb konnte er auch Capablanca schlagen und die
Schachwelt viele Jahre dominieren."
Nachkommen des vierten Schachweltmeisters sucht man heute vergeblich. Der
einzige Sohn Aljechins starb 2009 im Alter von 89 Jahren. Er hieß auch Alexander
und war kinderlos. Nur seine Witwe Clärli lebt noch, sie wohnt in einem
Seniorenheim im schweizerischen Oberwil. Großmeister Lothar Schmid, ein Freund
der Familie, hatte glücklicherweise ihre Telefonnummer, so dass ich vor einigen
Tagen mit ihr sprechen konnte. Die 87-jährige Clärli freute sich über meinen
Anruf und erinnerte sich noch an viele Begegnungen. Wir trafen uns einige Male
bei den Dortmunder Schachtagen sowie bei anderen Turnieren. Wenn ein WM-Finale
in der Schweiz stattfand, waren Alexander Aljechin Junior und seine Gattin zu
Gast. So 1998 beim Match Karpow-Anand in Lausanne oder 2004 beim Duell
Kramnik-Leko in Brissago. Nach dem Großmeisterturnier 1997 in Biel besuchte ich
das Ehepaar auf der Rückfahrt zu Hause in Basel, wo mir Alexander Aljechin u.a.
die Original-Schachfiguren seines Vaters zeigte. „Alex war nicht einfach zu
nehmen, aber ein guter Mann. Er hat immer zu mir gehalten, wir waren über 60
Jahre glücklich verheiratet“, erinnert sich Clärli heute mit Dankbarkeit.
Mein Vater – ein Wesen vom anderen Stern
Interview mit Alexander Aljechin Junior
Bei den Gesprächen mit dem Sohn des vierten Schachweltmeisters
ging es natürlich meist um seinen berühmten Vater.
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Stellen Sie unseren Lesern bitte Ihre Familie vor.
Ich bin am 2. November 1921 in Winterthur in der Schweiz (Kanton
Zürich) geboren. Meine Eltern hatten sich ein Jahr zuvor in Russland
kennengelernt. Aljechin war damals noch Student und verdiente sich seinen
Lebensunterhalt durch Dolmetschen, nicht durch Schachspielen. Er konnte mehrere
Sprachen, u. a. auch Deutsch. Unsere Geburtstage fallen übrigens fast zusammen
(Alexander Aljechin Senior wurde am 1. November 1892 geboren - d.A.).
Was
war Ihre Mutter für eine Frau?
Sie war Journalistin und politisch sehr interessiert. In Moskau
lernte sie Ende 1920 Lenin persönlich kennen. Darum erhielt mein Vater auch die
Ausreisegenehmigung aus Sowjet-Russland. Als talentierter Mensch wollte er in
Westeuropa eine bessere Bildung erwerben. Aljechin kehrte nicht mehr zurück und
blieb staatenlos. Ich bekam deshalb die Schweizer Nationalität meiner Mutter.
Seit wann sind Ihre Eltern verheiratet gewesen?
Anfang 1921 haben sie in Russland geheiratet. Die Ehe wurde aber
in der Schweiz nicht anerkannt.
Wie oft war Alexander Aljechin in seinem Leben verheiratet?
Dreimal. Als ganz junger Mann in Russland - aus dieser Verbindung
stammte eine Tochter. Diese lebte bis zu ihrem Tode Mitte der 1980er Jahre in
Wien. Die zweite Ehe Aljechins war mit meiner Mutter. Noch vor deren Tod ließ er
sich in Paris nieder, wo ein großer Kreis russischer Adliger lebte. Dort
ehelichte er später eine amerikanische Generalswitwe. Beide sind auf dem
Friedhof in Montparnasse begraben.
Wie
verlief Ihr eigenes Leben?
Ich wohnte praktisch mit meiner Mutter allein, da mein Vater viel
zu Turnieren unterwegs war. Er wollte, dass ich eine französische Erziehung
erhalte. Wir gingen in die französische Schweiz nach Lausanne. 1934 starb meine
Mutter.
War
sie krank?
Nein, nur bedeutend älter als mein Vater. Aljechin hatte einen
Ödipus-Komplex und heiratete immer ältere Frauen. Er fühlte sich bei ihnen
geborgener. Als ich geboren wurde, war meine Mutter schon über 40.
Welchen Beruf haben Sie ausgeübt?
Nach dem Tode meiner Mutter bekam ich einen Vormund, mein Vater
lebte ja nicht mehr in der Schweiz. Ich absolvierte eine Lehre im
Chemie-Apparatebau, wurde Ingenieur und arbeitete bis 1987 in Basel.
Um
Aljechins Tod ranken sich viele Legenden. Wie ist er Ihrer Meinung nach
umgekommen?
Diese Frage bewegt bis heute die Gemüter und ist noch immer nicht
gänzlich geklärt. Für Suizid spricht, dass Aljechin bei den Franzosen als
Kollaborateur unter Anklage stand. Ich persönlich glaube nicht, dass er sich
umgebracht hat, sondern erstickt ist. Da im katholischen Portugal Selbstmord
verpönt war, lautete die offizielle Version, es sei ein Unglücksfall gewesen.
Was
haben Sie für ein Verhältnis zum Schach? Spielen Sie selbst?
Das werde ich oft gefragt. Als Sohn eines so bewunderten
Weltmeisters sage ich darauf "Nein". Ich kann natürlich die Figuren setzen, aber
eine Schachkarriere gab es bei mir nicht.
Warum hat Aljechin Ihnen seine Kunst nicht nähergebracht?
Es kam nicht dazu, er war ja so selten zu Hause. Unser
Vater-Sohn-Verhältnis war daher problematisch. Ich nahm ihm seine häufige
Abwesenheit übel und fragte meine Mutter oft: "Warum habe ich keinen Vater?".
Als Bub wollte ich natürlich von keinem anderen Schach lernen - nur von ihm. Ich
lehnte das Spiel nicht ab, aber grollte mit meinem Vater.
Seine Bedeutung als große Persönlichkeit der Schachgeschichte aber ist Ihnen
bewusst…
Ja, dafür sorgt schon die Schachöffentlichkeit. Für sie ist
Aljechin ein Wesen aus einer anderen Welt. Aber ich wollte nie von seinem Ruhm
leben, sondern immer der Privatmann Aljechin Junior sein.
Zum 50. Todestag Aljechins war sein Sohn Alexander gemeinsam mit
Boris Spasski auf dem Pariser Friedhof. Das Foto mit Spasski stammt von damals
aus dem Jahre 1996. Man kann erkennen, dass der Grabstein verwittert und
beschädigt war. Später wurde er restauriert und sah im Mai 2006 bei meinem
eigenen Besuch sehr ordentlich aus. Als Todesdatum ist dort der 25. März 1946
angegeben.
Die letzte Partie
Lupi – Aljechin
Estorial 1946
Russisch C42
Ein Match aus vier Partien gegen den portugiesischen
Landesmeister Francesco Lupi war der letzte Wettbewerb, den Alexander Aljechin
bestritt. Wenig später verstarb der Weltmeister unter den genannten mysteriösen
Umständen. Durch diesen eindrucksvollen Kurzsieg entschied Aljechin das
abschließende Schach-Duell seines Lebens 2,5:1,5 für sich.
1.e4 e5 2.Sf3 Sf6
3.Sc3 Lb4 4.Sxe5 0-0 5.d3?
Weiß will den
Mehrbauern unbedingt behaupten, wodurch Aljechin sehr starke Initiative erhält.
Richtig war 5.Le2 Te8 6.Sd3 Lxc3 7.dxc3 Sxe4 8.0-0 d5 mit Ausgleich.
5…d5 6.a3 Lxc3+
7.bxc3 Te8 8.f4 dxe4 9.d4
Auf 9.Le2 erfolgt wie
in der Partie das aktive 9…Sd5, und 9.dxe4 verliert wegen 9…Dxd1+ 10.Kxd1 Sxe4.
9…Sd5
10.c4 Se7 11.Le2 Sf5 12.c3 Dh4+ 13.Kf1
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13...e3!
Dieser
freche Bauer wird Weiß umbringen.
14.De1 Dxf4+ 15.Kg1
Sxd4!
Der Springerzug entscheidet den kurzen Kampf. 16.cxd4 Dxd4
17.Tb1 Dxe5 Lupi ist an die Wand gespielt. Seine Figuren stehen
unkoordiniert auf dem Brett herum und können keinen Widerstand mehr leisten.
18.Lb2 Df5 19.Td1 Sc6 20.Td5 Dc2 21.La1 Lf5 22.Ld1 Db1
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0-1. Es droht 23…e2,
und 23.Dc3 wird mit 23…f6 pariert. Ein stilvoller Abschied Aljechins von der
Schachbühne!