„Bobby und ich, wir achteten uns sehr“
Interview mit Großmeister Lothar Schmid
Von Dagobert Kohlmeyer
Großmeister Lothar
Schmid, im Hauptberuf Karl-May-Verleger, zählte viele Jahre zu den
gefragtesten Schiedsrichtern für das königliche Spiel. Legendär sind seine
Einsätze als Unparteiischer beim WM-Match zwischen Fischer und Spasski 1972
in Reykjavik oder beim Duell von Karpow und Kortschnoi 1978 auf den
Philippinen. Im folgenden Gespräch mit Dagobert Kohlmeyer gibt Lothar Schmid
(79) Auskunft über sein Verhältnis zum 11. Weltmeister der Schachgeschichte,
Robert James Fischer.

Was werden Sie am Sonntag, zum 65. Geburtstag von Bobby Fischer, tun?
Danke für die
Erinnerung an dieses Datum. Ich werde ein Glas Wein auf sein Andenken
trinken.
Sie haben diesen schwierigen Menschen fast 50 Jahre gekannt. Welche
markanten Erinnerungen bleiben?
Das erste Mal sah ich
ihn zum Kandidatenturnier 1959 in Bled. Er hatte gerade gegen Paul Keres
verloren und lief mit Tränen in den Augen die Hoteltreppe hinauf. Dort
zeigte er nicht nur seine Gefühle, sondern in etlichen Partien auch gutes
Schach.
Was passierte in der besagten Partie?
Originell war zunächst,
dass Keres nur dieses eine Mal in seinem Leben Caro-Kann spielte. Weil die
Sowjets wussten, dass Fischer mit Weiß die Variante mit 2. Sc3 wählte, und
nach 3. Sf3 Lg4 4. h3 nahm Schwarz den Springer auf f3, und Weiß bekam dann
gewisse Felderschwächen am Damenflügel. Das konnte man ausnutzen, obwohl
Weiß das Läuferpaar besaß. Denn dessen Aufstellung dauerte so lange, dass
Schwarz nicht nur Kompensation hatte, sondern auch eine gute Strategie
entwickeln konnte. Und das hatten die sowjetischen Spieler alle aufeinander
abgestimmt. Ich merkte dadurch, wie sehr sich die Russen auf die Partien
vorzubereiten pflegten.
R. Fischer – P. Keres
Kandidatenturnier
Bled 18.09.1959
Caro-Kann B11
1.e4 c6 2.Sc3 d5 3.Sf3 Lg4 4.h3 Lxf3 5.Dxf3
Sf6 6.d3 e6 7.g3 Lb4 8.Ld2 d4 9.Sb1 Db6 10.b3 a5 11.a3 Le7 12.Lg2 a4 13.b4
Sbd7 14.0–0 c5 15.Ta2 0–0 16.bxc5 Lxc5 17.De2 e5 18.f4 Tfc8 19.h4 Tc6 20.Lh3
Dc7 21.fxe5 Sxe5 22.Lf4 Ld6 23.h5 Ta5 24.h6 Sg6 25.Df3 Th5 26.Lg4 Sxf4
27.Lxh5 S4xh5 28.Kg2 Sg4 29.Sd2 Se3+ 0-1
Fischer konnte zu dem frühen Zeitpunkt offensichtlich mit den Koryphäen aus
der UdSSR noch nicht mithalten oder?
Nicht mit allen. Dazu
fehlte ihm die Erfahrung. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass Tal
viermal gegen Fischer gewann. Das war quasi eine vorweggenommene
Eingliederung. Michail Tal war zur damaligen Zeit schon auf seinem Höhepunkt
und das ganz überlegene Genie. Fischer war nicht so weit, er lernte noch.
Aber er merkte schnell, wie man es anstellen muss. Auch Smyslow spielte
dort, und mit ihm kam Bobby schon eher zurecht.

Klaus Darga hat Fischers Benehmen in Bled vor kurzem in einer Rückschau als
peinlich beschrieben. Bobby wollte das beste Hotelzimmer, kein Essen war ihm
recht usw…
Ich habe es so nicht
erlebt, kann aber bestätigen, dass der junge Mann recht unerzogen war.
Damals zählte er gerade 16 Jahre und musste sich wohl auch erst an dieses
gehobene internationale Leben gewöhnen. Fischer fand dort immerhin eine fast
vornehme Umgebung und die komplette Weltspitze vor.
Wie war das Verhältnis zwischen Ihnen und Bobby?
Es war von großer
Achtung geprägt. Ich war 15 Jahre älter als er und hatte meine Ebene des
Spiels, also die Laufbahn als Schachmeister, im Großen und Ganzen vor der
Schiedsrichtertätigkeit. Also konnte ich mich in den Schachspieler
hineindenken und auch genügend Verständnis für seine Eigenarten aufbringen.
Fischer ist zwischen 1960 und 1990 auch mehrmals meiner Einladung zu
Besuchen nach Bamberg gefolgt.
Als Schiedsrichter wurden Sie 1972 schlagartig weltbekannt. Wie hart war das
Amtieren beim WM-Match in Reykjavik?
Es gab immer Kampf.
Nicht nur zwischen zwei Persönlichkeiten, auch zwischen den politischen
Systemen. Das brachte Schwierigkeiten aller Art mit sich. Fischer und
Spasski waren zwar Schachfreunde, aber eben aus West und Ost. Dieser
Zusammenprall machte es kompliziert und hatte zugleich einen besonderen
Reiz. Das Match hing am seidenen Faden - Fischer kam ja nicht pünktlich. Es
gelang aber auf diplomatischem Wege und durch die Finanzspritze eines
Engländers, ihn doch nach Reykjavik zu holen.
Welche Ihrer Entscheidungen war die schwierigste?
Fischer war zur 2.
Partie nicht angetreten und verlor sie kampflos. Er wollte unbedingt in
einem separaten Raum spielen. Dem wurde entsprochen, aber vor dem 3. Spiel
machte er wieder Theater. Spasski und ich waren empört. Da packte ich die
beiden Kampfhähne bei den Schultern, drückte sie in ihre Sessel und sagte:
„Spielt jetzt!“, und Spasski machte wie automatisch den ersten Zug. Es war
der schwerste Augenblick und das WM-Match gerettet.

Bobby Fischer war zeitlebens ein Eremit. Warum hat er dieses Dasein gewählt?
Es passte zu seinem
Naturell. Als er jedoch im entsprechenden Alter war, suchte er schon eine
Partnerin. Vor dem RE-Match gegen Spasski 1992 gab es zum Beispiel eine
„Bewerberin“, die mit ihm brieflichen Kontakt hatte und dann während des
Turniers auch seine Nähe suchte. Aber eine direkte Begegnung mit Folgen kam
nicht zustande. Ich meine nicht die junge Ungarin Zita Rajczanyi, die
Fischer zu dem Match überredet und begleitet hat.
Welche Dame konnte denn einem Sonderling wie Bobby Fischer gerecht werden?
Sie musste nett sein.
So eine Frau suchte er. Die Ehe mit der Japanerin Miyoko Watai war dann eine
Zweckgemeinschaft. Er wollte eben jemanden um sich haben. Umgekehrt war es
sicher nicht sehr bequem, an ihn heranzukommen. Die Damen mussten ja seine
Eigenarten erst einmal akzeptieren. Wie das im Einzelnen war, wollte ich
nicht kennenlernen. Aber, dass er auf der Suche war und vielleicht sogar
heiraten wollte, ist mir nicht verborgen geblieben.
War Fischer für Sie der größte Schachmeister aller Zeiten, oder würden Sie
Kasparow höher einstufen?
Man kann beide gar
nicht so recht miteinander vergleichen. Bobby spielte solider, würde ich
sagen. Kasparow war noch künstlerischer und riskierte dabei einiges. Was das
Schachverständnis angeht, war Bobby sicher absolute Spitze. Deshalb ist es
sehr bedauerlich, dass es nie zu einem Wettkampf der beiden kam. Das hätte
ich sehr begrüßt.

Der Altersunterschied zwischen ihnen war ja sehr groß. Realistischer wäre da
im Rückblick vielleicht ein WM-Match gegen Anatoli Karpow gewesen?
Das wäre auch
interessant geworden. Aber unter einem ganz anderen Gesichtspunkt. Weil
Karpow solider spielte. Jeder von denen war oder ist genial. Das Schöne ist,
dass es so viele unterschiedliche Typen von Schachkünstlern gibt, ganz egal,
ob sie nun Fischer, Karpow, Kasparow, Kramnik oder Anand heißen. Es macht ja
das Schach so reizvoll, dass es nicht nur einen Stil gibt.
Es wäre toll gewesen, wenn diese Leute alle mal gegeneinander gespielt
hätten!
Leider kann man sie
nicht mehr in einem Turnier vereinen und durch eine praktische Partie mit
Fischer vergleichen. Es ist schade, aber sehen Sie, da ist neben der
Lebensdauer wie schon gesagt auch der Altersunterschied. Bei zehn Jahren
Differenz mag es ja noch gehen, doch bei 20 Jahren ist alles völlig neu. Die
Nachfolger lernen natürlich aus den Partien der Vorgänger.
Und die heutigen Maestros haben Computer zur Verfügung.
Das stimmt. Es gab die
Rechner damals noch gar nicht, und man lernt heute Schach anders als früher.
Ob der Computer das Spiel aber immer so günstig beeinflusst, ist noch eine
ganz andere Frage. Ich will jetzt nicht von den Betrügereien am Brett reden.
Es gibt nichts, was es nicht gibt, aber das sind Ausnahmefälle. Die meisten
Schachspieler verhalten sich sportlich völlig korrekt. Und Fischer tat es
auch. So schwierig er sonst war - am Brett war er ganz korrekt.
Wie haben Sie im Januar die Nachricht von Fischers Tod aufgenommen?
Eine traurige Stimmung
erfasste mich. Weil mit diesem Menschen viele wichtige Ereignisse meines
Lebens verbunden sind. Ich bewunderte Bobbys Genialität und zeigte
Verständnis für seine Eigenheiten. Mit der Zeit entwickelte sich zwischen
uns eine Art Freundschaft, die sicher ungewöhnlich war.
„Ich habe Respekt
vor Fischer und dem Schach“
Interview mit Großmeister Peter Leko
Der Ungar ist 51 Jahre
jünger als Lothar Schmid, gehört also einer ganz anderen Schach-Generation
an. Auch Peter Leko hatte prägende Begegnungen mit Bobby Fischer und gibt im
folgenden Gespräch zum ersten Mal öffentlich darüber Auskunft.

Mitten im Corus Turnier kam die Nachricht, das Bobby Fischer gestorben ist.
Du warst mit ihm bekannt, als er in den 90er Jahren im ungarischen Exil
lebte. Magst du jetzt über eure Begegnungen erzählen?
Wir lernten uns 1998 in
Budapest kennen. Nachdem das Verhältnisse enger geworden ist, kam er mich
öfter mal zu Hause in Szeged besuchen. Ich kann wirklich sagen, dass ich
sehr froh bin, ihm begegnet zu sein, weil er ein sehr liebenswürdiger Mensch
war.
Hat dich nichts an ihm gestört?
Ich war damals zehn
Jahre jünger als heute und habe zu ihm aufgeblickt. Durch die merkwürdigen
Interviews, die Bobby hin und wieder gegeben hat, kann man vielleicht ein
ganz falsches Bild von ihm bekommen. In der Zeit, wo wir zusammen waren,
habe ich gespürt, das ist ein unglaublich lieber Mensch mit einem ganz
großen Herzen. Ich denke, wenn man nur seine bizarren Äußerungen liest, dann
kommt das nicht so rüber.
War Fischer nicht ein bisschen sonderbar?
Er war mental nicht
stabil, das ist kein Geheimnis. Ich meine jedoch, man sollte nicht jede
seiner Äußerungen so ernst nehmen, und ihn einfach als Menschen mit Ecken
und Kanten respektieren.
Das Schachgenie Bobby Fischer wird man ganz sicher in guter Erinnerung
behalten. Was zeichnete den Amerikaner vor allem aus?
Gespielt haben wir
beide nicht miteinander, das war nicht das Wichtigste. Es war aber eine
phantastische Gelegenheit für mich, in seine Gedankenwelt einzutauchen. Der
Mann konnte so viel über Schach erzählen, kannte alle berühmten Partien der
alten Meister. In dieser Beziehung war er einfach phantastisch.
Du warst ja damals auch schon ein bekannter Großmeister.
Deshalb konnte ich mir
ganz gut vorstellen, dass Bobby Fischer nicht zufällig Weltmeister war. Ich
war damals schon ziemlich stark, hatte 1998 fast 2700 ELO-Punkte. Fischer
war schon brillant. Wenn wir analysierten, blitzte seine große Klasse auf.
Das war wirklich unglaublich.
Wer hat euch damals bekannt gemacht: Janos Rigo, die Polgars oder Pal Benkö?
Nein, das lief über
ganz andere Kanäle. Es war ein recht unbekannter Mann aus Ungarn, den keiner
aus der Schachszene kennt. Ich hatte ihn 1992 in Australien getroffen, und
er hatte mit Bobby Kontakt. Über ihn kam später die Verbindung zustande.

Hast du dich
darum bemüht?
Nein, ich habe das
nicht forciert. Ich wusste, dass Bobby schon lange in Ungarn ist, und alle
Schachspieler wollten sich damals mit ihm treffen. Ich war natürlich
ebenfalls bereit, ihn jederzeit zu treffen, aber wollte ihn auch nicht
stören. Ich fand ihn phantastisch und dachte, wenn sich die Gelegenheit
bietet, dann nehme ich sie gern wahr. Dann kam tatsächlich der Anruf, und er
hat den Wunsch geäußert, mich kennen zu lernen.
Du hast dich auch
immer an seine Forderung gehalten, öffentlich nichts über eure Begegnungen
zu erzählen.
Das war eine Bedingung.
Wir sind mehr als ein Jahr ganz eng zusammen gewesen. Ich kann nur
wiederholen, dass ich sehr froh bin, ihm begegnet zu sein.

Hat er dich überredet, Fischer-Schach mit ihm zu spielen?
Nein, das tat er nicht.
Bobby wollte meist etwas mit mir analysieren und manchmal einfach nur
Gesellschaft haben. Das war die Zeit, in der die Computer schon mehr und
mehr Einfluss auf das Schach genommen haben.
Die Rechner und auch die Schachspieler die sie benutzten, waren ihm doch
suspekt?
Ja, so ist es. Ich kann
Bobby verstehen, dass die Computer-Generation für so einen phantastischen
Schachspieler wie ihn schon ein bisschen unangenehm war.
Warum mochte er die Computer nicht?
Die Erklärung ist ganz
einfach. Er spielte wirklich großartig, aber mit dem Computer konnte man
vielleicht beweisen, dass seine Züge doch nicht so genial waren. So wie es
mit den Schachprogrammen gekommen ist, das hielt er für keine schöne
Entwicklung.
Geht es dir manchmal auch so?
Nein, nicht so extrem
wie Fischer. Aber ich kann es ihm nachfühlen. Die Leute strengen sich am
Brett an, doch heute kann jeder beliebige Amateur einen Supergroßmeister
sofort nach der Partie mit Hilfe von „Fritz“ oder „Rybka“ für seine Züge
kritisieren.
Wie ist dein Verhältnis zu Computern?
Ich meine, sie sind zum
Arbeiten sehr nützlich. Aber ich finde es sehr wichtig, dass man den Respekt
vor der Tätigkeit der Schachspieler nicht verliert. Und diese Achtung war es
ja vor allem, die Bobby so am Herzen lag.
Gibt es Beispiele aus deiner Praxis, wo Patzer oder weniger gute Spieler
schlauer als Großmeister sein wollten?
Ja. Ich erinnere mich
zum Beispiel, einmal in Linares gegen Garri Kasparow eine phantastische
Partie gespielt zu haben. Hinterher haben wir das komplizierte Spiel zwei
Stunden lang gemeinsam analysiert. Ich war sehr glücklich über unsere
Erkenntnisse, denn die Partie war voller Verwicklungen.
Und weiter?
Plötzlich kamen die
Journalisten und sagten uns, dass der Computer doch gezeigt hat, dieser und
jener Zug seien besser. So etwas ist einfach schädlich für die Kreativität
und uns Spielern gegenüber nicht besonders fair. Die Schachspielkunst und
der Kampf Mann gegen Mann verlieren dadurch ihren Reiz.
Letzte Frage: Wie einsam war Bobby Fischer?
Ich denke schon, er war
sehr allein. Eben ein Mensch, der etwas misstrauisch war und kaum jemanden
zu nah an sich heran ließ. So wie ein einsamer Wolf. Das ist natürlich sehr
schade.
Text und Fotos: Dagobert Kohlmeyer