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Mit dem Namen Bronstein verbinden sich vor allem die Erinnerung an wundervolle Partien und an ein markantes schachhistorisches Ereignis: sein unglücklicher WM-Zweikampf 1951 gegen Michail Botwinnik. David Bronstein, der heute 95 Jahre alt geworden wäre, war damals so nahe wie kaum ein anderer Spieler an der Schachkrone, aber die Göttin Caissa zeigte sich ihm nicht gewogen. Diese Tragödie hat den Figurenkünstler ganz sicher ein Leben lang beschäftigt. Dennoch: David Bronstein hinterließ der Welt ein schöpferisches Erbe, das seinesgleichen sucht. Viele Partien und Kombinationen, die er aufs Brett zauberte, waren schlichtweg einzigartig.
David Bronstein | Foto: Dagobert Kohlmeyer
Ohne Zweifel gehört Bronstein zu den großen Schachgenies des 20. Jahrhunderts Als dieser phantasievolle Großmeister Ende 2006 starb, trat mit ihm einer der letzten Romantiker des modernen Schachs von der Bühne ab. David Bronstein war nicht nur ein origineller Spieler mit kämpferischem Charakter, er war auch Vorreiter und Querdenker. Großmeister Alexej Suetin schrieb einmal über ihn: „Aus historischer Sicht ist Bronstein einer der markantesten Vertreter des in unserer pragmatischen Zeit so seltenen romantischen Stils, ein Nacheiferer der Ideen Anderssens, Zukertorts, Tschigorins und Aljechins.“ Er habe gemeinsam mit dem älteren Keres und dem jüngeren Tal die ruhmreichen Traditionen der Kunst im Schach fortgesetzt.
David Bronstein wurde am 19. Februar 1924 in der kleinen ukrainischen Stadt Belaja Zerkow geboren. Später siedelte seine Familie nach Kiew über, wo sich der Junge ernsthaft mit Schach beschäftigte. David hatte Glück, denn er kam in die Hände des ausgezeichneten Trainers Alexander Konstantinopolski, der ihn förderte. Schon früh zeigte Bronstein sein außergewöhnliches Talent, schon als 16-Jähriger wurde er Zweiter in der ukrainischen Meisterschaft. 1948 gewann Bronstein das Interzonenturnier in Saltsjöbaden und teilte 1948 und 1949 jeweils den ersten Platz bei der sowjetischen Landesmeisterschaft. Im WM-Kandidatenturnier 1950 von Budapest gelang es ihm in der letzten Runde, den führenden Boleslawski einzuholen, was einen Stichkampf zur Folge hatte, den Bronstein gewann.
Damit war er 1951 Herausforderer von Weltmeister Michail Botwinnik. Das Duell um die Krone fand in Moskau statt und ging über 24 Partien. Nach 22 Runden führte Bronstein mit 11,5:10,5 Punkten. In der vorletzten Partie musste er sich jedoch geschlagen geben und konnte auch das letzte Spiel nicht gewinnen, so dass Botwinnik mit 12:12 seinen Weltmeistertitel verteidigte. Es war d i e Tragödie in Bronsteins Karriere, die ihn offensichtlich bis an sein Lebensende stark beschäftigte. Er war so nah am ersehnten Ziel jedes Großmeisters, hatte jedoch die Schachgöttin Caissa nicht auf seiner Seite.
1953 wurde Bronstein beim Kandidatenturnier in Zürich Zweiter hinter Wassili Smyslow. Sein Buch über dieses Ereignis zählt wegen der hohen Qualität der Kommentare zu den Perlen der Schachliteratur. 1955 gewann Bronstein das Interzonenturnier in Göteborg, vermochte sich aber ein Jahr später beim Kandidatenturner in Amsterdam nicht mehr für einen WM-Kampf zu qualifizieren. Doch auch in der Folgezeit konnte er noch immer hochkarätige internationale Turniere gewinnen und jedem Gegner gefährlich werden.
David Bronstein pflegte einen sehr dynamischen Stil und fühlte sich besonders in komplizierten Stellungen wohl. Er spielte romantische Eröffnungen wie das Königsgambit, bereicherte aber auch moderne Systeme wie die Königsindische Verteidigung mit vielen Ideen. Zudem komponierte er einige Studien, die zwischen 1948 und 1997 veröffentlicht wurden.
Immer ging es ihm darum, die Sportart Schach attraktiver zu machen. Auch wenn es der „Unvollendete“ nicht ganz auf den WM-Thron schaffte, so sind viele seiner Ideen und Anregungen verwirklicht. Das heute sehr populäre Schnellschach ist ein Kind Bronsteins. Auch bei bedeutenden Turnieren bis hin zu WM-Kämpfen wurde inzwischen der Spielrhythmus verkürzt. David Bronstein gab den Anstoß dafür. Auf einen Vorschlag von ihm geht auch die Regel zurück, dass man nur unmittelbar mit Ausführung eines Zuges Remis anbieten darf. Außerdem entwickelte er maßgebliche Gedanken zur Abschaffung von Hängepartien. Beim sogenannten Bronstein-Modus erhält der Spieler neben der Grundbedenkzeit für jeden Zug eine Zeitgutschrift, kann diese aber im Unterschied zum Fischer-Modus nicht akkumulieren.
Über Bronstein gibt es zahlreiche Anekdoten, die einen zum Schmunzeln bringen. Eine von denen, die mir besonders gefällt, geht so:
Foto: Dagobert Kohlmeyer
Als sich der Großmeister auf dem Gipfel seines Ruhms befand, erhielt er ein Auto vom Typ „Pobjeda“ (Sieg) zum Geschenk. So ein Wagen war in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts der Traum jedes Sowjetbürgers. David Bronstein fuhr aber nie damit, weil er keinen Führerschein besaß. Das Auto stand nur auf der Straße vor seinem Haus, doch der Anblick erfreute den Maestro immer, wenn er auf den Balkon trat. Eines Tages war der Pobjeda auf einmal verschwunden. Die Polizei wurde gerufen, konnte den PKW aber nicht finden. Nach drei Wochen stand das Auto plötzlich wieder mit vollem Tank vor der Tür. Am Scheibenwischer klemmte ein Zettel: „Vielen Dank, Genosse Großmeister! Da Sie sowieso nicht mit Ihrem Wagen fahren, haben wir ihn für einen schönen Urlaub ausgeliehen. Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten!“
Ich hatte das Vergnügen, David Bronstein persönlich kennenzulernen und von 1989 bis 2002 einige Male zu treffen. Unsere erste Begegnung war im Juni 1989 im Zentralen Schachklub der UdSSR in Moskau. Wir saßen dort eine ganze Weile zusammen und plauderten über alles Mögliche. Auf meine (nicht sehr originelle) Frage, wer für ihn die besten Schachspieler aller Zeiten sind, erwiderte der Figurenzauberer mit verschmitztem Lächeln: „Alle, deren Namen mit L anfangen: von La Bourdonnais bis Larsen.“ Der kleine Mann mit dem großen Können hatte wirklich speziellen Humor. Als ich Hunger bekam, führte er mich netterweise auf den Gogol-Boulevard zu einem Imbissstand. Beim Abschied schenkte mir Bronstein sein signiertes Schach-Lehrbuch, das kurz darauf unter dem Titel „Wege zum erfolgreichen Spiel“ auch in Deutsch erschien.
Bei dem gleichen Moskau-Aufenthalt besuchte ich die Witwe von Alexander Kotow, die mir ein Manuskript ihres verstorbenen Mannes mitgab. Wir kamen bei dieser Gelegenheit auch auf Bronstein zu sprechen. Sie erzählte mir, dass dieser es fertig brachte, zu Mannschaftskämpfen der sowjetischen Schachauswahl im Ausland einen riesigen Stapel Schallplatten mit Musik von Verdi und anderen Komponisten mitzuschleppen - so wichtig war ihm kulturelle Ablenkung
Die Liebe des begnadeten Großmeisters zum Schach war bis zuletzt ungebrochen. Nach dem Wegfall der Reisebeschränkungen reiste er oft nach Westeuropa und spielte in Open-Wettbewerben. Im holländischen Tilburg erlebte ich im Herbst 1997, wie Bronstein am Rande des dortigen Superturniers gemeinsam mit Garri Kasparow lange Zeit eine interessante Stellung analysierte. Sie suchten immer wieder nach der besten Fortsetzung. Von Kasparow weiß man, dass er anderen Schachspielern nicht immer mit dem notwendigen Respekt begegnet. Bei Bronstein war das ganz anders.
Im September 2002 traf ich David Ionowitsch im Moskauer Kreml zum letzten Mal, wo er das Match-Turnier Russland gegen die Weltauswahl als Ehrengast besuchte. Er musste mit Wehmut ansehen, wie die Schachnation Nr. 1 knapp geschlagen wurde.
Mit David Bronstein Moskau 2002 | Foto: Dagobert Kohlmeyer
Bronstein starb am 5. Dezember 2006 in Minsk, wo ihm eine würdevolle Grabstelle errichtet wurde. Mit Boris Spasski habe ich oft über das sowjetische Schach gesprochen. In einem Interview sagte der zehnte Weltmeister einmal zu mir: „Für mich gab es nach dem zweiten Weltkrieg vier Titanen, die das Schach in der Sowjetunion prägten: Botwinnik, Smyslow, Keres und Bronstein. Wir sollten ihr Andenken für immer in Ehren halten.“
Wer nach Bronsteins Bedeutung für die Entwicklung des „neuen Schachs“ fragt, sollte sich seine Partien und Kombinationen ansehen. Nach ihrem Studium versteht man, warum dieser außergewöhnliche Figurenkünstler einer der Wegbereiter des modernen dynamischen Stils ist. Seinen Hauptbeitrag leistete er auf dem Gebiet der Taktik. Zeitzeuge Alexej Suetin schwärmte:„Wie ein echter Ritter beharrte Bronstein auf seiner schöpferischen Konzeption, ohne Schwert und Schild zu wechseln.“
Schlicht und schön! Wenn 32.Kg1, so 32… De5! 33.Td1 Ta3! Die Partie ist 73 Jahre alt, aber zeigt hochmodernes Schach.
Als geborener Taktiker verstand es Bronstein meisterhaft, die dynamischen Vorzüge einer Stellung energisch zu nutzen. Wenn sich nur die geringste Gelegenheit bot, brachte er im rechten Moment und treffsicher kombinatorische Schläge an. Auch im Mittel- und Endspiel zeigte er ein feines Gespür für Angriffsmöglichkeiten. Kein Gegner war vor seinem fintenreichen Spiel sicher. In seinem Lehrbuch schrieb Bronstein: „Der Reiz des Schachspiels liegt eben auch im Geheimnis des allernächten Zuges.“