Expeditionen in die Schachwelt
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Ultimately chess is just chess - not
the best |
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thing in the world and not the worst thing in
the world, but there is nothing quite like it.
W.C. Fields
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Ein großer Moment im Schach
(Teil 4)
Von Professor Dr. Christian Hesse
Teil drei unserer Reihe
“Ein großer Moment im Schach” endete mit dem Geschehen in Reykjavik am
Donnerstag, den 13. Juli 1972 um 18:00 Uhr, als Hauptschiedsrichter Lothar
Schmid die zweite Partie als kampflosen Sieg für Spassky wertete, da Fischer
nicht zur Partie erschienen war. Spassky, der eine Stunde am Tisch gesessen und
auf Fischer gewartet hatte, ging hinter die Bühne und man konnte hören, wie er
murmelte: “Schade, so schade.”
Thorarinson, der
Hauptorganisator des Wettkampfs war niedergeschlagen und glaubte, der Wettkampf
sei vorbei. Nur ein Gedanke gab ihm etwas Hoffnung. ”Bobby ist ein Kämpfer. Wie
kann er aufgeben, wenn Spassky vorne liegt?”
Dennoch, die meisten
Journalisten hatten bereits Flüge gebucht, um die Insel zu verlassen. Fast
einhellig, selbst unter den Amerikanern, war man der Meinung, Fischers Verhalten
sei eine Schande. Einige entschuldigten sich im Namen ihres Landes bei den
Isländern. Ein US-Bürger meinte: “Fischer ist der Einzige, der es schafft, dass
jeder Amerikaner für die Sowjetunion ist.”
Die Ereignisse in Island
sorgten weiter für Schlagzeilen auf den Titelseiten. Die Washington Post
schrieb, dass “Fischer Millionen von Schachfans in der ganzen Welt vor den Kopf
gestoßen hätte.” Und die New York Times berichtete ausführlich über das
“Patt” in Reykjavik, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Bild und Titelzeile in der New York Times
Bobby Fischer protestierte
in einem langen, an Lothar Schmid gerichteten, Brief, den er persönlich in den
frühen Morgenstunden des 14. Juli in Schmids Hotelzimmer übergab, offiziell
gegen die kampflose Niederlage. Ein weiterer Anwalt von Fischer, Andrew Davis,
kam ein paar Stunden später aus den USA an, um die Mitglieder des
Wettkampfkomitees zu überzeugen, Schmids Entscheidung zu überstimmen. Das
Komitee traf sich zehn Uhr morgens am gleichen Tag. Es bekräftigte die
Entscheidung des Schiedsrichters.
Nach dieser Entscheidung
bat Fischer Fred Cramer, sein Chefassistent in Reykjavik, sich darauf
vorzubereiten, Island zu verlassen. Kurze Zeit später bekommt er eine
Reservierung für den 15:15 Uhr Flug nach New York am 17. Juli. Fischer meinte zu
Cramer: “Ich möchte, dass du diese Tickets heute abholst und hier zu mir
bringst. Dann möchte ich, dass du dir einen Plan ausdenkst, wie ich unbemerkt
zum Flugzeug komme. Sie könnten versuchen, mich daran zu hindern. Das muss
geheim sein.”
Währenddessen befindet
sich Henry Kissinger in San Clemente, Kalifornien, und ist bei einem
amerikanisch-sowjetischen Gipfeltreffens in ausführliche Gespräche mit dem
sowjetischen Botschafter Anatoly Dobrynin verwickelt. Irgendwann im Laufe des
Tages fand er die Zeit, Reykjavik 22322 anrufen zu lassen, die Nummer, unter der
Fischer zu erreichen war. Außerdem trafen noch zahlreiche Telegramme an, in
denen Fischer aufgefordert wurde, zu spielen.
Am gleichen Tag traf sich
Fischer nachmittags zum Essen mit einer älteren Dame, Lina Grumette, die er vor
langer Zeit in Kalifornien kennen gelernt hatte. Später erzählte sie: “Ich habe
ihm die Hölle heiß gemacht. Ich habe ihm erzählt, wenn er aus dem Match
aussteigen würde, dann wäre er erledigt. Überall, wo Schach gespielt wird, wäre
er ein Schimpfwort. Oh, ich habe es ihm wirklich gegeben. Er hat sehr ernsthaft
zugehört. Er sagte nicht, er würde spielen, aber ich habe ihn aufgerüttelt und
ich glaube, er war froh.”
Am Nachmittag des 15. Juli
traf ein Telegramm für Lothar Schmid ein: “Falls Fischer zur dritten Partie
nicht erscheinen sollte, entscheidet der Präsident der FIDE wie folgt Stopp wenn
Fischer zur vierten Partie nicht erscheinen sollte, dann wird der Wettkampf
abgebrochen und Spassky zum Weltmeister erklärt Stopp Euwe“
Es ist schwer zu sagen,
was schließlich den Ausschlag gegeben hat. Vielleicht war es Kissingers Anruf
oder das Gespräch mit Lina Grumette oder die Telegramme, die er erhalten hatte,
oder eine Mischung aus all diesem. Sein Anwalt Paul Marshall erzählte später:
“Bobby hatte genau so viel Angst Island zu verlassen wie er gehabt hatte, nach
Island zu kommen. Als eine Entscheidung gefällt werden musste, war seine Angst
vor dem Unbekannten größer als seine Angst zu spielen. Aber täuschen Sie sich
nicht, er fürchtete sich zu spielen.”
Bekanntlich hat Fischer
die Entscheidung, weiter zu spielen, fast in allerletzter Minute getroffen, am
Sonntag, den 16. Juli, der Tag, an dem Partie drei angesetzt war, irgendwann im
Laufe des frühen Nachmittags. Zuvor hatte er Cramer gebeten, seine Reservierung
auf den letzten Flug, der an diesem Tag von Reykjavik ging, umzubuchen. Gegen
drei Uhr nachmittags klopfte Cramer an Fischers Tür, um ihn für den Flug
abzuholen. Fischers Sekundant, William Lombardy, öffnete die Tür und Paul
Marshall war ebenfalls im Zimmer, in dem überall verstreut Telegramme lagen.
Fischer: “Dieser
Zweipunkte-Rückstand macht es schwer. Aber ich kann es immer noch schaffen.”
Marshall: “Ich weiß, dass
du das kannst, Bobby.”
Fischer: “In Ordnung. Aber
du musst mich ins Hinterzimmer kriegen.”
Marshall handelte, indem
er Schmid anrief und ihm sagte, Fischer hätte sich einverstanden damit erklärt,
zu spielen, wenn die dritte Partie in einem kleinen, etwa drei mal neun Meter
großen abgetrennten Raum hinter der Bühne ohne Kameras stattfinden würde, außer
Sichtweite der Zuschauer in der Haupthalle. Normalerweise wurde hier Tischtennis
gespielt. Der Vertrag von Amsterdam, den beide Spieler unterzeichnet hatten,
legte fest, dass eine Partie in dieses Zimmer verlegt werden konnte, wenn es in
der Haupthalle zu einer Störung kam. Aber da es keine Störung gab, meinte
Schmid, er würde seine Kompetenzen überschreiten, wenn er Partie drei einfach
dorthin verlegte. Er musste Spasskys Einverständnis bekommen. Er rief den
Weltmeister sofort an. Spassky sagte: “Pozhaluista” (Ich habe nichts dagegen.)
Er traf die Entscheidung, ohne sich mit seinem Team zu besprechen. Die
Teammitglieder erfuhren erst davon, als sie ihre Plätze im großen Zuschauerraum
einnahmen. Spassky war der Meinung, er müsste Fischer für den Gratispunkt etwas
zurückgeben.
Wenig später, ein paar
Minuten vor fünf Uhr Nachmittags, befand sich Lothar Schmid in dem
Tischtennisraum. Er enthielt nicht sehr viel mehr als einen schwarzen
Chromsessel für Fischer und einen einfachen Stuhl für Spassky sowie einen
Spieltisch.
Der Originalspieltisch des Wettkampfs Fischer-Spassky 1972
Schmid öffnete ein
Fenster. Man könnte hören, wie draußen Kinder spielten. Spassky kam kurze Zeit
später und suchte nach Fischer. Aber er war nicht da. Spassky setzte sich ans
Brett. Dann kam Fischer an. Und sein Blick fiel sofort auf eine Fernsehkamera,
die in der Decke installiert worden war, um die Partie für die Zuschauer in der
Haupthalle, die Journalisten im Presseraum und die Kommentatoren zu übertragen.
Die Kamera war in Decken eingehüllt. Die Zuschauer hatten jeder 5 Dollar bezahlt
und manche beschwerten sich später, dass nur ein Fernsehschirm und nicht die
wirkliche Partie zu sehen war.
“Keine Kameras!”, brüllte
Fischer. Er ging im Zimmer auf und ab, wobei er die Schalter an der Wand an- und
ausschaltete. Schmid bat ihn, damit aufzuhören, da Spassky dadurch gestört
würde. “Halt den Mund, Lothar!”, brüllte Fischer Schmid an.
Spassky wurde weiß und
stand auf. Schmid erinnerte sich später: ”Als Bobby mich anschrie, war Boris
aufgebracht und sagte “Wenn ihr nicht aufhört zu streiten, dann kehre ich in
Halle zurück und verlange, dort zu spielen.” Spassky war bereits an der Tür.
Schmid geriet in Panik. Er flehte Spassky an: ”Boris, du hast es versprochen.”
Spassky zuckte mit den Schultern. Schmid wandte sich an Fischer: ”Bobby, bitte
sei freundlich.” Schmid erinnert sich: ”Ich hatte das Gefühl, es gab nur eine
Möglichkeit, sie zusammenzubringen. Sie waren zwei erwachsene Jungs und ich war
der Älteste. Ich packte beide und drückte sie an der Schulter auf ihre Plätze
und sagte: ”Spielt jetzt Schach!” Und beinahe automatisch führte Spassky den
ersten Zug aus, 1. d4, den gleichen, den er in Partie 1 gespielt hatte.”
Fischer überlegte erst
noch weiter, ob er bleiben oder gehen sollte. Aber dann nahm er um 17:09 seinen
Königsspringer und zog ihn nach f6. Sein Wunsch, Schach zu spielen, hatte die
Oberhand gewonnen. Der Weltmeisterschaftskampf war gerettet. Die Zuschauer in
der Halle klatschten starken Beifall. Den die Spieler jedoch nicht hören
konnten.
Die hier beschriebenen
Ereignisse bilden den psychologisch entscheidenden Moment des gesamten
Wettkampfs. Fischer lag zwei ganze Punkte zurück. In seinem ganzen Leben hatte
er noch nie gegen Spassky gewonnen. In Partie 1 hatte er eine Remisstellung
verdorben. Und jetzt hatte er Schwarz. Als er in das kleine Zimmer hinter der
Bühne kam, war sein Gesicht grau-weiß, beinahe grün. Aber er spielte die dritte
Partie praktisch vom ersten Zug an auf Gewinn, wobei er früh ein völlig neues
Konzept verfolgte. Er spielte diese Partie, als ginge es um sein Leben. Und er
gewann sie mit sehr feinem Spiel. Sie änderte die psychische Verfassung beider
Spieler. Fischer hatte sich bewiesen, dass er Spassky schlagen konnte. Und mit
Schwarz.
Ein Foto der Associated Press, das zeigt, wie Fischer den Laugardalsholl-Saal
verlässt, nachdem Spassky Partie drei aufgegeben hatte
Am 21. Januar 2007 gab
Boris Spassky in Bonn eine Simultanvorstellung. Vor der Veranstaltung sprachen
er, Lothar Schmid und Dr. Helmut Pfleger vor zahlreichem Publikum über die
Ereignisse und die Psychologie des Wettkampfs in Reykjavik.
Nach der Veranstaltung lud
eine kleine Gruppe, darunter Schmid und der Autor, Spassky in ein örtliches
Restaurant zum Abendessen ein.
So konnte ich ihn über die
Situation vor Beginn der dritten Partie in Reykjavik befragen. Spassky meinte,
als Fischer mit Schmid zu streiten begann und sagte, er solle den Mund hatten,
hätte er selbst aufstehen und sagen sollen: “Meine Herren, unter diesen
Umständen spiele ich nicht. Ich gehe. Sie können diese Partie als kampflose
Niederlage werten, aber ich spiele nicht. Fischer wäre in einer sehr schwierigen
psychologischen Situation gewesen. Aber ich habe diese Gelegenheit verpasst.”
Stattdessen brauchte
Spassky die ganze erste Hälfte des Wettkampfs, um sich psychologisch wieder
aufzubauen. Zu diesem Zeitpunkt verfügte Fischer jedoch bereits über einen
deutlichen Vorsprung, der praktisch nicht mehr aufzuholen war. In der zweiten
Hälfte verlief der Wettkampf ausgeglichen und Fischer behielt seinen Vorsprung,
um schließlich ein Endergebnis von 12,5 –
8,5 zu erzielen und der elfte Weltmeister der Schachgeschichte zu werden.
Über den Autor
Christian Hesse hat an
der Harvard University promoviert und war bis 1991 Fakultätsmitglied der
University of California in Berkeley. Seitdem ist er Professor für Mathematik an
der Universität Stuttgart. Nachfolgend war er Gastprofessor und Gastdozent an
Universitäten in der ganzen Welt, von der Australian National University in
Canberra bis zur Universität in Concepcion-Universität in Chile. Vor kurzem
veröffentlichte er das Buch “Expeditionen in die Schachwelt” ISBN
3-935748-14-0), eine Sammlung von ungefähr 100 Essays, die der Wiener Standard
eines “eines der geistreichsten und lesenswertesten Bücher, die je über das
Schachspiel verfasst wurden” nannte.
Christian Hesse ist verheiratet, hat eine sechs Jahre alte Tochter sowie einen
zwei Jahre alten Sohn und lebt in Mannheim.
Ihm gefällt Voltaires Antwort, als sich jemand einmal bei ihm beklagte: ”Das
Leben ist hart.” - “Verglichen womit?”
Frühere Artikel:
Ein großer Moment
im Schach...
Ein großer Moment
im Schach (II)...
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