Vor 50
Jahren: Schacholympiade in Leipzig
Von Dagobert Kohlmeyer
Die älteren
Schachfreunde werden sich gern erinnern: Im Herbst vor genau 50 Jahren fand die
Schacholympiade in Leipzig statt, ein Sportereignis mit starker Wirkung. Vom 16.
Oktober bis 9. November 1960 richtete die sächsische Messestadt ein Turnier der
Nationen aus, das für lange Zeit Maßstäbe setzte. Damals wurde noch in einer
Vor- und Finalrunde gespielt. Die Veranstaltung dauerte dreieinhalb Wochen, und
es kamen insgesamt über 75 000 Zuschauer! In unserer gegenwärtigen Zeit
undenkbar. Heute gibt es bei Schacholympiaden nur noch elf Runden, die
Teilnehmer sind mehr oder weniger unter sich, und die Welt schaut im Internet
zu.
Wir sprachen mit
drei Zeitzeugen von damals, die in Leipzig als Spieler, Schiedsrichter oder
Kiebitz waren. Aus ihren Schilderungen wird deutlich, wie viel sich inzwischen
geändert hat.
Großmeister
Wolfgang Uhlmann (75)
Er spielte am
Spitzenbrett der DDR-Mannschaft und holte 9,0 Punkte aus 16 Partien. Hier seine
markantesten Erinnerungen:
„Es war eine
besondere Olympiade, an die ich bis heute sehr gern zurückdenke. Nicht nur, weil
es die größte Schachveranstaltung war, die jemals in der DDR stattgefunden hat.
Der Volkskammerpräsident Johannes Dieckmann hatte die Schirmherrschaft, und ein
besonderes Highlight war die traumhafte Ausstellung „Schach im Wandel der
Zeiten“, die mit dem Turnier der Nationen gekoppelt war. Die wertvollen Exponate
kamen aus aller Welt. So etwas hatte es bis dahin noch nie gegeben. Dadurch
wurde eine unglaubliche Menge von Schachfreunden angezogen.
Wir spielten im
Leipziger Ringmessehaus, der Zuschauerandrang war gewaltig. Jeder wollte live
dabei sein. Die Leute konnten die Partien hautnah verfolgen. Es gab Stuhlreihen
für die Zuschauer, die nur durch eine kleine Schnur von uns Schachspielern
getrennt waren. Das ist heute ganz anders, wenn ich an die Olympiaden in Dresden
oder Chanty-Mansijsk denke, wo kaum Leute in den Saal durften, geschweige denn
an die Bretter. Heute ist alles sehr anonym. Es gibt die Übertragung im
Internet, aber damals standen oder saßen die Kiebitze eben unmittelbar an den
Schachtischen. Sie konnten unsere Mimik genau beobachten und hatten die
Möglichkeit, sich in unser Denken hineinzuversetzen.
Publikumsmagneten waren damals vor allem Michail Tal und Bobby Fischer. Ihre
Partie ging um die Welt. Der Amerikaner war der aufstrebende Stern. Er sorgte
gemeinsam mit der sowjetischen Mannschaft für Furore. Wenn du nur die Namen der
Olympiasieger nimmst, so war jeder von ihnen Weltmeister: Botwinnik, Smyslow,
Tal (und später) Petrosjan. Es war ein Genuss, ihre Partien zu sehen, in denen
sie ihr überragendes Können zeigten.
Botwinnik
Smyslow
Kortschnoj
Großartig war,
dass alle Nationen ihre Besten nach Leipzig entsandten. Heute ist das nicht
immer der Fall. Außer den bärenstarken Russen kamen damals Schachlegenden wie
Max Euwe, Miguel Najdorf, Svetozar Gligoric usw. Alles Figuren, die in der
Schachwelt einen klangvollen Namen hatten. Echte Großmeister eben. Bei der
heutigen Titel-Inflation gibt es viele, die ich schon gar nicht mehr kenne“.
Lothar Schmid
Wolfgang,
die beiden deutschen Teams waren damals unter den Top Ten. Was sagst du zu den
Schwierigkeiten der DSB-Herrenmannschaft in Chanty-Mansijsk?
„Es ist schon
sehr traurig, wenn ein so wohlhabendes Land wie Deutschland nicht die besten
Großmeister zur Schacholympiade schicken kann. Sicher haben auch die Spieler der
A-Mannschaft eine Aktie daran, aber es sind eben Profis. Andere Länder traten
dagegen mit einer Top-Besetzung an. Die dortigen Spieler starteten ja auch nicht
zum Nulltarif. In Deutschland ist es leider nicht gelungen, Sponsoren für das
Team zu finden. Das bedaure ich sehr. In unseren Tageszeitungen konnte man fast
nichts über die Olympiade lesen, nur in Schachmagazinen. Das ist sehr
betrüblich. Vor 50 Jahren in Leipzig war das ganz anders. Die Zeitungen waren
voll, so dass auch Menschen, die keine Ahnung vom Schach hatten, sich für das
Ereignis interessiert haben. Namen wie Botwinnik, Tal oder Fischer waren im
Herbst 1960 für jedermann ein Begriff.“
Der
17-jährige Bobby Fischer sorgte bei seiner Olympiade-Premiere für sehr viel
Gesprächsstoff. Kannst du dich noch an eine typische Geschichte mit ihm
erinnern?
„Es gab ein
schönes Kulturprogramm, und im Leipziger Opernhaus erlebten wir „Cavalleria
rusticana“. Neben meiner Frau und mir saß der junge Bobby Fischer. Der
Amerikaner war in Gedanken so mit Schach beschäftigt, dass er fast die ganze
Aufführung „verschlafen“ hat. Kurz zuvor hatten wir bei einem großen Turnier in
Buenos Aires gegeneinander gespielt. Ich konnte die Partie mit Schwarz
(Französisch) gewinnen. In Leipzig nahm Bobby bei mir Revanche und besiegte mich
in einem Königsinder. Fischer war damals schon auf dem Weg in die Weltspitze.
Und er ging immer sehr elegant gekleidet. In Argentinien hatte er sich fünf
Anzüge schneidern lassen. Als junger Mann war Bobby wirklich eine sympathische
Erscheinung.“
Wolfgang,
du bist seit mehr als fünf Jahrzehnten Großmeister. Sie sind wie im Fluge
vergangen. Was machen deine heutigen Schach-Aktivitäten?
„Mit vielen
Kollegen von damals habe ich noch immer engen Kontakt. Wir treffen uns bis heute
regelmäßig bei Seniorenmeisterschaften. Es ist wunderbar, dass Schach als
Sportart von früher Jugend bis ins hohe Alter betrieben werden kann. Ich freue
mich darüber und bin auch ganz stolz, dass ich jetzt nach Marienbad eingeladen
wurde. Dort findet ab 20. November wieder ein doppelrundiger Wettkampf von
Schachveteranen gegen junge, spielstarke Ladies statt. Gemeinsam mit Lajos
Portisch, Vlastimil Hort und Dragoljub Velimirovic trete ich dort gegen Koneru
Humpy, Viktoria Cmylite sowie eine Spielerin aus Russland und Tschechien an.“
Dieter
Lentschu war Schiedsrichter
Der Berliner
Schachspieler und Schiedsrichter Dieter Lentschu wohnt nur zwei Häuserblocks von
mir entfernt. Auch wenn sich der heute 77-Jährige inzwischen vom aktiven
Spielen zurückgezogen hat, verfolgt er das aktuelle Schachgeschehen ganz
aufmerksam. Hin und wieder besucht ihn sein alter Freund Horst Strehlow,
ebenfalls eine lebende Berliner Schachlegende. Beide kennen sich über 60 Jahre.
Wenn sie sich sehen, werden natürlich Erinnerungen hervorgekramt und manche
Anekdote erzählt.
Besonders gern
denken die beiden Schachveteranen an die Olympiade 1960 in Leipzig zurück.
Dieter Lentschu war damals 27 Jahre alt und als Schiedsrichter eingesetzt, Horst
Strehlow war 29 Jahre und Schlachtenbummler. Dieter erzählt:
„Es wurde in
zwei Etagen des Ringmessehauses gespielt. Hauptschiedsrichter war
Fernschachweltmeister Wjatscheslaw Ragosin aus der UdSSR. Für die 40
teilnehmenden Teams gab es 20 Länderschiedsrichter, außerdem zwei
Etagenschiedsrichter. Ich konnte kein Russisch und habe meist englisch
sprechende Nationen von den USA bis Indonesien gehabt. Ich kannte die englische
Notation, und wir mussten damals noch alle Partien mitschreiben. Das heißt, ich
notierte alle vier Partien eines Länderkampfes mit. Denn oft konnten die
Partieformulare der Spieler nicht entziffert werden.“
Damals gab es
selbstverständlich noch Hängepartien. Nach vier Stunden Spielzeit ertönte ein
Gong, und der am Zug befindliche Spieler musste seinen Zug abgeben. Am nächsten
Morgen wurden die nicht beendeten Partien dann von 9-13 Uhr weiter gespielt.
Sehr beeindruckt
hat Dieter Lentschu das Vorrunden-Duell zwischen dem Österreicher Karl Robatsch
und Michail Tal. Da brannte nach seinen Worten das Brett. „Ich denke, beide
haben während des Spiels etwa 60 Zigaretten geraucht. Damals war Nikotin im
Spielsaal noch erlaubt. Jeder Spieler hatte an seinem Tisch einen Aschenbecher.“
Am Ende rauchten
die beiden zwar die Friedenspfeife, aber diese Partie war nach Meinung des
Schiedsrichters noch spannender als das viel beschriebene Treffen Fischer - Tal.
R. Fischer - M. Tal
Französisch C18
Leipzig 1.11.1960
1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Lb4 4.e5 c5 5.a3 La5 6.b4 cxd4 7.Dg4 Se7
8.bxa5 dxc3 9.Dxg7 Tg8 10.Dxh7 Sbc6 11.Sf3 Dc7 12.Lb5 Ld7 13.0–0 0–0–0 14.Lg5
Sxe5 15.Sxe5 Lxb5 16.Sxf7 Lxf1 17.Sxd8 Txg5 18.Sxe6 Txg2+ 19.Kh1 De5 20.Txf1
Dxe6 21.Kxg2 Dg4+ Remis.
K. Robatsch - M. Tal
Sizilianisch B86
Leipzig 21.10.1960
1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6
6.Lc4 e6 7.a3 Le7 8.La2 0–0 9.0–0 b5 10.f4 Sbd7 11.Tf3 Lb7 12.Th3 Tc8 13.Le3 Dc7
14.Sxe6 fxe6 15.Lxe6+ Kh8 16.Ld4 Ld8 17.De2 Dc6 18.Kh1 Lb6 19.Lxd7 Dxd7 20.Lxb6
Tc4 21.b3 Dxh3 22.gxh3 Txc3 23.Kg1 Lxe4 24.Tc1 Txh3 25.Lf2 d5 26.Lg3 Sh5 27.De3
g5 28.Dd4+ Kg8 29.Te1 Sxg3 30.Txe4 dxe4 31.Dd5+ Tf7 32.Dd8+ Kg7 33.Dxg5+ Kh8
34.Dd8+ Kg7 35.Kg2 Th6 36.hxg3 Te6 37.Dg5+ Kf8 38.f5 Te8 39.f6 e3 40.Dc5+ Kg8
41.Dc6 Tef8 42.De6 Kh8 43.Dxe3 Txf6 44.Dd4 h6 45.a4 bxa4 46.Dxa4 Tg6 47.Dd4+
Tff6 Remis.
Dieter Lentschu
war es auch, der die einzige Niederlage von Weltmeister Tal in Leipzig gegen den
Engländer Jonathan Penrose im Bild festgehalten hat. Es passierte in der letzten
Runde und war die einzige Null überhaupt, die das übermächtige sowjetische Team
bei diesem Turnier kassierte.
J. Penrose – M. Tal
Benoni A65 Leipzig 8.11.1960 1.d4 Sf6 2.c4 e6
3.Sc3 c5 4.d5 exd5 5.cxd5 g6 6.e4 d6 7.Ld3 Lg7 8.Sge2 0–0 9.0–0 a6 10.a4 Dc7
11.h3 Sbd7 12.f4 Te8 13.Sg3 c4 14.Lc2 Sc5 15.Df3 Sfd7 16.Le3 b5 17.axb5 Tb8
18.Df2 axb5 19.e5 dxe5 20.f5 Lb7 21.Tad1 La8 22.Sce4 Sa4 23.Lxa4 bxa4 24.fxg6
fxg6 25.Df7+ Kh8 26.Sc5 Da7 27.Dxd7 Dxd7 28.Sxd7 Txb2 29.Sb6 Tb3 30.Sxc4 Td8
31.d6 Tc3 32.Tc1 Txc1 33.Txc1 Ld5 34.Sb6 Lb3 35.Se4 h6 36.d7 Lf8 37.Tc8 Le7
38.Lc5 Lh4 39.g3 1-0
Dieter, in
Leipzig gab es die legendäre Ausstellung „Schach im Wandel der Zeiten“. Hast du
sie dir angeschaut?
Ja, sicher. Sie
war die großartigste Exposition, die ich je gesehen habe. Wir Schiedsrichter
hatten die Möglichkeit, nicht nur die ausgestellten Stücke in den Vitrinen zu
sehen, sondern alle Exponate, die nach Leipzig geschickt wurden. Der Platz im
Ringmessehaus hätte nicht ausgereicht, so viele waren es. Ich erinnere mich, wie
ein tschechischer Holzbildhauer Berufe in Form von Schachfiguren dargestellt
hat. Zum Beispiel waren die Bauern Maler mit Palette, Staffelei, Pinsel usw. Es
gab etwa 40 verschiedene Schachspiele dieser Art, ausgestellt wurden jedoch nur
zwei. Ähnlich war es mit den Bildern, von denen nicht alle gezeigt werden
konnten.“
Konnte man
auch etwas kaufen?
Von der
Ausstellung nichts. Aber es gab dort auch Handwerker, zum Beispiel Schnitzer aus
dem Erzgebirge. Sie saßen im Ringmessehaus, schnitzten Schachfiguren und haben
sie an Ort und Stelle gleich verkauft.
Groß war das
internationale Echo auf die Ausstellung. Namhafte Persönlichkeiten verewigten
sich im Goldenen Buch der Exposition, auch der weltberühmte Geiger David
Oistrach, der als leidenschaftlicher Schachspieler das Länder-Turnier in Leipzig
besuchte. Der erste Eintrag stammt von Johannes Dieckmann. Darin bezeichnete der
Ehrenpräsident der Schacholympiade die Ausstellung als Ereignis von hohem
internationalem Rang und verwies darauf, dass an ihr nahezu 150 Kulturinstitute
aus aller Welt beteiligt waren. Viele Schachspieler lobten die Exposition als
einzigartig, unter ihnen der englische Teamkapitän Harry Golombek. Sie allein
würde genügen, um die Olympiade als bedeutendste in der Schachgeschichte zu
bezeichnen.
Kiebitz Horst
Strehlow
Er ist ein
Berliner Schachoriginal. Horst Strehlow, Jahrgang 1931 wie Viktor Kortschnoi,
spielt noch heute aktiv in seinem Klub SC Friesen-Lichtenberg. Er hat schon
Große besiegt, darunter den früheren DDR-Meister Lothar Zinn.
Mit der
Olympiade 1960 in Leipzig verbinden ihn ganz spezielle Erinnerungen:
„Ich habe in
Berlin beim Obst- und Gemüsehandel als Dispatcher gearbeitet. Mit einer
Schachgruppe fuhren wir über das Wochenende nach Leipzig. Ich war so begeistert,
dass ich dort blieb. Aber drei Wochen Aufenthalt kosten Geld. Um die Sache zu
finanzieren, ging ich zur Kaderabteilung Obst und Gemüse, wo gerade Hochsaison
für die Kartoffeleinkellerung war. Es gab keine Probleme, dort einen Job zu
bekommen. So habe ich jeden Tag sechs Stunden gearbeitet und bin dann am
Nachmittag zu den Schachveranstaltungen gegangen. Ich sah viele tolle Partien,
nicht nur die von Fischer und Tal mit den gegenseitigen Opfern. Das war ein
unvergessliches Erlebnis.“
Im damaligen
Olympiade-Buch des Berliner Sportverlags gibt es ein Foto, wo Horst Strehlow als
Kiebitz und mit einem Steckschach bewaffnet zu sehen ist. Auch vor zwei Jahren
in Dresden haben wir ihn getroffen. Natürlich ist der schachbegeisterte Veteran
dort ebenfalls wieder als interessierter Olympiade-Zuschauer gewesen. Aber der
79-Jährige kam zu seinem Leidwesen nicht so dicht wie vor 50 Jahren an die
Bretter heran, die für uns alle die Welt bedeuten…