50 Jahre Schacholympiade Leipzig 1960

von ChessBase
03.11.2010 – Vor genau 50 Jahren, vom 16. Oktober bis 9. November, war Leipzig Gastgeber der zweiten Schacholympiade auf deutschem Boden nach dem Krieg (nach München 1958). Die hochrangige internationale Sportveranstaltung wurde von den Organisatoren in der jungen DDR mit großem Aufwand durchgeführt und traf in der Bevölkerung auf reges Interesse: 75.000 Zuschauer sollen sich die zahlreichen Schachgroßmeister aus aller Welt, darunter auch die US-Mannschaft mit dem jungen Robert Fischer, die sowjetische Mannschaft mit Weltmeister Michail Tal und die bundesdeutsche Mannschaft angeschaut haben. Anlässlich des 50-Jährigen Jubiläums sprach Dagobert Kohlmeyer mit einigen Zeitzeugen, die sich an das Spektakel noch gut erinnern, darunter Schiedsrichter Dieter Lentschu, der als einziger die Niederlage Tals gegen den englischen Meister Jonathan Penrose im Bild festhielt.Artikel zur Schacholympiade von Johannes Fischer (2005)... Artikel von Frank Große...Zeitzeugen erinnern sich...

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Vor 50 Jahren: Schacholympiade in Leipzig
Von Dagobert Kohlmeyer

Die älteren Schachfreunde werden sich gern erinnern: Im Herbst vor genau 50 Jahren fand die Schacholympiade in Leipzig statt, ein Sportereignis mit starker Wirkung. Vom 16. Oktober bis 9. November 1960 richtete die sächsische Messestadt ein Turnier der Nationen aus, das für lange Zeit Maßstäbe setzte. Damals wurde noch in einer Vor- und Finalrunde gespielt. Die Veranstaltung dauerte dreieinhalb Wochen, und es kamen insgesamt über 75 000 Zuschauer! In unserer gegenwärtigen Zeit undenkbar. Heute gibt es bei  Schacholympiaden nur noch elf Runden, die Teilnehmer sind mehr oder weniger unter sich, und die Welt schaut im Internet zu.

Wir sprachen mit drei Zeitzeugen von damals, die in Leipzig als Spieler, Schiedsrichter oder Kiebitz waren. Aus ihren Schilderungen wird deutlich, wie viel sich inzwischen geändert hat.

Großmeister Wolfgang Uhlmann (75)

Er spielte am Spitzenbrett der DDR-Mannschaft und holte 9,0 Punkte aus 16 Partien. Hier seine markantesten Erinnerungen:

„Es war eine besondere Olympiade, an die ich bis heute sehr gern zurückdenke. Nicht nur, weil es die größte Schachveranstaltung war, die jemals in der DDR stattgefunden hat. Der Volkskammerpräsident Johannes Dieckmann hatte die Schirmherrschaft, und ein besonderes Highlight war die traumhafte Ausstellung „Schach im Wandel der Zeiten“, die mit dem Turnier der Nationen gekoppelt war. Die wertvollen Exponate kamen aus aller Welt. So etwas hatte es bis dahin noch nie gegeben. Dadurch wurde eine unglaubliche Menge von Schachfreunden angezogen.

Wir spielten im Leipziger Ringmessehaus, der Zuschauerandrang war gewaltig. Jeder wollte live dabei sein. Die Leute konnten die Partien hautnah verfolgen. Es gab Stuhlreihen für die Zuschauer, die nur durch eine kleine Schnur von uns Schachspielern getrennt waren. Das ist heute ganz anders, wenn ich an die Olympiaden in Dresden oder Chanty-Mansijsk denke, wo kaum Leute in den Saal durften, geschweige denn an die Bretter. Heute ist alles sehr anonym. Es gibt die Übertragung im Internet, aber damals standen oder saßen die Kiebitze eben unmittelbar an den Schachtischen. Sie konnten unsere Mimik genau beobachten und hatten die Möglichkeit, sich in unser Denken hineinzuversetzen.

Publikumsmagneten waren damals vor allem Michail Tal und Bobby Fischer. Ihre Partie ging um die Welt. Der Amerikaner war der aufstrebende Stern. Er sorgte gemeinsam mit der sowjetischen Mannschaft für Furore. Wenn du nur die Namen der  Olympiasieger nimmst, so war jeder von ihnen Weltmeister: Botwinnik, Smyslow, Tal  (und später) Petrosjan. Es war ein Genuss, ihre Partien zu sehen, in denen sie ihr überragendes Können zeigten.


Botwinnik


Smyslow


Kortschnoj

Großartig war, dass alle Nationen ihre Besten nach Leipzig entsandten. Heute ist das nicht immer der Fall. Außer den bärenstarken Russen kamen damals Schachlegenden wie Max Euwe, Miguel Najdorf, Svetozar Gligoric usw. Alles Figuren, die in der Schachwelt einen klangvollen Namen hatten. Echte Großmeister eben. Bei der heutigen Titel-Inflation gibt es viele, die ich schon gar nicht mehr kenne“.


Lothar Schmid

 

Wolfgang, die beiden deutschen Teams waren damals unter den Top Ten. Was sagst du zu den Schwierigkeiten der DSB-Herrenmannschaft in Chanty-Mansijsk?

„Es ist schon sehr traurig, wenn ein so wohlhabendes Land wie Deutschland nicht die besten Großmeister zur Schacholympiade schicken kann. Sicher haben auch die Spieler der A-Mannschaft eine Aktie daran, aber es sind eben Profis. Andere Länder traten dagegen mit einer Top-Besetzung an. Die dortigen Spieler starteten ja auch nicht zum Nulltarif. In Deutschland ist es leider nicht gelungen, Sponsoren für das Team zu finden. Das bedaure ich sehr. In unseren Tageszeitungen konnte man fast nichts über die Olympiade lesen, nur in Schachmagazinen. Das ist sehr betrüblich. Vor 50 Jahren in Leipzig war das ganz anders. Die Zeitungen waren voll, so dass auch Menschen, die keine Ahnung vom Schach hatten, sich für das Ereignis interessiert haben. Namen wie Botwinnik, Tal oder Fischer waren im Herbst 1960 für jedermann ein Begriff.“

Der 17-jährige Bobby Fischer sorgte bei seiner Olympiade-Premiere für sehr viel Gesprächsstoff. Kannst du dich noch an eine typische Geschichte mit ihm erinnern?

„Es gab ein schönes Kulturprogramm, und im Leipziger Opernhaus erlebten wir „Cavalleria rusticana“. Neben meiner Frau und mir saß der junge Bobby Fischer. Der Amerikaner war in Gedanken so mit Schach beschäftigt, dass er fast die ganze Aufführung „verschlafen“ hat. Kurz zuvor hatten wir bei einem großen Turnier in Buenos Aires gegeneinander gespielt. Ich konnte die Partie mit Schwarz (Französisch) gewinnen. In Leipzig nahm Bobby bei mir Revanche und besiegte mich in einem Königsinder. Fischer war damals schon auf dem Weg in die Weltspitze. Und er ging immer sehr elegant gekleidet. In Argentinien hatte er sich fünf Anzüge schneidern lassen. Als junger Mann war Bobby wirklich eine sympathische Erscheinung.“

Wolfgang, du bist seit mehr als fünf Jahrzehnten Großmeister. Sie sind wie im Fluge vergangen. Was machen deine heutigen Schach-Aktivitäten?

„Mit vielen Kollegen von damals habe ich noch immer engen Kontakt. Wir treffen uns bis heute regelmäßig bei Seniorenmeisterschaften. Es ist wunderbar, dass Schach als Sportart von früher Jugend bis ins hohe Alter betrieben werden kann. Ich freue mich darüber und bin auch ganz stolz, dass ich jetzt nach Marienbad eingeladen wurde. Dort findet ab 20. November wieder ein doppelrundiger Wettkampf von Schachveteranen gegen junge, spielstarke Ladies statt. Gemeinsam mit Lajos Portisch, Vlastimil Hort und Dragoljub Velimirovic trete ich dort gegen Koneru Humpy, Viktoria Cmylite sowie eine Spielerin aus Russland und Tschechien an.“

Dieter Lentschu war Schiedsrichter

Der Berliner Schachspieler und Schiedsrichter Dieter Lentschu wohnt nur zwei Häuserblocks von mir entfernt. Auch wenn sich der heute 77-Jährige inzwischen  vom aktiven Spielen zurückgezogen hat, verfolgt er das aktuelle Schachgeschehen ganz aufmerksam. Hin und wieder besucht ihn sein alter Freund Horst Strehlow, ebenfalls eine lebende Berliner Schachlegende. Beide kennen sich über 60 Jahre. Wenn sie sich sehen, werden natürlich Erinnerungen hervorgekramt und manche Anekdote erzählt.

Besonders gern denken die beiden Schachveteranen an die Olympiade 1960 in Leipzig zurück. Dieter Lentschu war damals 27 Jahre alt und als Schiedsrichter eingesetzt, Horst Strehlow war 29 Jahre und Schlachtenbummler. Dieter erzählt:

„Es wurde in zwei Etagen des Ringmessehauses gespielt. Hauptschiedsrichter war Fernschachweltmeister Wjatscheslaw Ragosin aus der UdSSR. Für die 40 teilnehmenden Teams gab es 20 Länderschiedsrichter, außerdem zwei Etagenschiedsrichter. Ich konnte kein Russisch und habe meist englisch sprechende Nationen von den USA bis Indonesien gehabt. Ich kannte die englische Notation, und wir mussten damals noch alle Partien mitschreiben. Das heißt, ich notierte alle vier Partien eines Länderkampfes mit. Denn oft konnten die Partieformulare der Spieler nicht entziffert werden.“

Damals gab es selbstverständlich noch Hängepartien. Nach vier Stunden Spielzeit ertönte ein Gong, und der am Zug befindliche Spieler musste seinen Zug abgeben. Am nächsten Morgen wurden die nicht beendeten Partien dann von 9-13 Uhr weiter gespielt.

Sehr beeindruckt hat Dieter Lentschu das Vorrunden-Duell zwischen dem Österreicher Karl Robatsch und Michail Tal. Da brannte nach seinen Worten das Brett. „Ich denke, beide haben während des Spiels etwa 60 Zigaretten geraucht. Damals war Nikotin im Spielsaal noch erlaubt. Jeder Spieler hatte an seinem Tisch einen Aschenbecher.“

Am Ende rauchten die beiden zwar die Friedenspfeife, aber diese Partie war nach Meinung des Schiedsrichters noch spannender als das viel beschriebene Treffen Fischer - Tal.

R. Fischer  - M. Tal
Französisch C18
Leipzig 1.11.1960

1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Lb4 4.e5 c5 5.a3 La5 6.b4 cxd4 7.Dg4 Se7 8.bxa5 dxc3 9.Dxg7 Tg8 10.Dxh7 Sbc6 11.Sf3 Dc7 12.Lb5 Ld7 13.0–0 0–0–0 14.Lg5 Sxe5 15.Sxe5 Lxb5 16.Sxf7 Lxf1 17.Sxd8 Txg5 18.Sxe6 Txg2+ 19.Kh1 De5 20.Txf1 Dxe6 21.Kxg2 Dg4+ Remis.

K. Robatsch  - M. Tal
Sizilianisch B86

Leipzig 21.10.1960

1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6 6.Lc4 e6 7.a3 Le7 8.La2 0–0 9.0–0 b5 10.f4 Sbd7 11.Tf3 Lb7 12.Th3 Tc8 13.Le3 Dc7 14.Sxe6 fxe6 15.Lxe6+ Kh8 16.Ld4 Ld8 17.De2 Dc6 18.Kh1 Lb6 19.Lxd7 Dxd7 20.Lxb6 Tc4 21.b3 Dxh3 22.gxh3 Txc3 23.Kg1 Lxe4 24.Tc1 Txh3 25.Lf2 d5 26.Lg3 Sh5 27.De3 g5 28.Dd4+ Kg8 29.Te1 Sxg3 30.Txe4 dxe4 31.Dd5+ Tf7 32.Dd8+ Kg7 33.Dxg5+ Kh8 34.Dd8+ Kg7 35.Kg2 Th6 36.hxg3 Te6 37.Dg5+ Kf8 38.f5 Te8 39.f6 e3 40.Dc5+ Kg8 41.Dc6 Tef8 42.De6 Kh8 43.Dxe3 Txf6 44.Dd4 h6 45.a4 bxa4 46.Dxa4 Tg6 47.Dd4+ Tff6 Remis.

Dieter Lentschu war es auch, der die einzige Niederlage von Weltmeister Tal in Leipzig gegen den Engländer Jonathan Penrose im Bild festgehalten hat. Es passierte in der letzten Runde und war die einzige Null überhaupt, die das übermächtige sowjetische Team bei diesem Turnier kassierte.

J. Penrose – M. Tal Benoni A65 Leipzig 8.11.1960 1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 c5 4.d5 exd5 5.cxd5 g6 6.e4 d6 7.Ld3 Lg7 8.Sge2 0–0 9.0–0 a6 10.a4 Dc7 11.h3 Sbd7 12.f4 Te8 13.Sg3 c4 14.Lc2 Sc5 15.Df3 Sfd7 16.Le3 b5 17.axb5 Tb8 18.Df2 axb5 19.e5 dxe5 20.f5 Lb7 21.Tad1 La8 22.Sce4 Sa4 23.Lxa4 bxa4 24.fxg6 fxg6 25.Df7+ Kh8 26.Sc5 Da7 27.Dxd7 Dxd7 28.Sxd7 Txb2 29.Sb6 Tb3 30.Sxc4 Td8 31.d6 Tc3 32.Tc1 Txc1 33.Txc1 Ld5 34.Sb6 Lb3 35.Se4 h6 36.d7 Lf8 37.Tc8 Le7 38.Lc5 Lh4 39.g3 1-0

Dieter, in Leipzig gab es die legendäre Ausstellung „Schach im Wandel der Zeiten“. Hast du sie dir angeschaut?

Ja, sicher. Sie war die großartigste Exposition, die ich je gesehen habe. Wir Schiedsrichter hatten die Möglichkeit, nicht nur die ausgestellten Stücke in den Vitrinen zu sehen, sondern alle Exponate, die nach Leipzig geschickt wurden. Der Platz im Ringmessehaus hätte nicht ausgereicht, so viele waren es. Ich erinnere mich, wie ein tschechischer Holzbildhauer Berufe in Form von Schachfiguren dargestellt hat. Zum Beispiel waren die Bauern Maler mit Palette, Staffelei, Pinsel usw. Es gab etwa 40 verschiedene Schachspiele dieser Art, ausgestellt wurden jedoch nur zwei. Ähnlich war es mit den Bildern, von denen nicht alle gezeigt werden konnten.“

Konnte man auch etwas kaufen?

Von der Ausstellung nichts. Aber es gab dort auch Handwerker, zum Beispiel Schnitzer aus dem Erzgebirge. Sie saßen im Ringmessehaus, schnitzten Schachfiguren und haben sie an Ort und Stelle gleich verkauft.

Groß war das internationale Echo auf die Ausstellung. Namhafte Persönlichkeiten verewigten sich im Goldenen Buch der Exposition, auch der weltberühmte Geiger David Oistrach, der als leidenschaftlicher Schachspieler das Länder-Turnier in Leipzig besuchte. Der erste Eintrag stammt von Johannes Dieckmann. Darin bezeichnete der Ehrenpräsident der Schacholympiade die Ausstellung als Ereignis von hohem internationalem Rang und verwies darauf, dass an ihr nahezu 150 Kulturinstitute aus aller Welt beteiligt waren. Viele Schachspieler lobten die Exposition als einzigartig, unter ihnen der englische Teamkapitän Harry Golombek. Sie allein würde genügen, um die Olympiade als bedeutendste in der Schachgeschichte zu bezeichnen.

Kiebitz Horst Strehlow

Er ist ein Berliner Schachoriginal. Horst Strehlow, Jahrgang 1931 wie Viktor Kortschnoi, spielt noch heute aktiv in seinem Klub SC Friesen-Lichtenberg. Er hat schon Große besiegt, darunter den früheren DDR-Meister Lothar Zinn.

Mit der Olympiade 1960 in Leipzig verbinden ihn ganz spezielle Erinnerungen:

„Ich habe in Berlin beim Obst- und Gemüsehandel als Dispatcher gearbeitet. Mit einer Schachgruppe fuhren wir über das Wochenende nach Leipzig. Ich war so begeistert, dass ich dort blieb. Aber drei Wochen Aufenthalt kosten Geld. Um die Sache zu finanzieren, ging ich zur Kaderabteilung Obst und Gemüse, wo gerade Hochsaison für die Kartoffeleinkellerung war. Es gab keine Probleme, dort einen Job zu bekommen. So habe ich jeden Tag sechs Stunden gearbeitet und bin dann am Nachmittag zu den Schachveranstaltungen gegangen. Ich sah viele tolle Partien, nicht nur die von Fischer und Tal mit den gegenseitigen Opfern. Das war ein unvergessliches Erlebnis.“

Im damaligen Olympiade-Buch des Berliner Sportverlags gibt es ein Foto, wo Horst Strehlow als Kiebitz und mit einem Steckschach bewaffnet zu sehen ist. Auch vor zwei Jahren in Dresden haben wir ihn getroffen. Natürlich ist der schachbegeisterte Veteran dort ebenfalls wieder als interessierter Olympiade-Zuschauer gewesen. Aber der 79-Jährige kam zu seinem Leidwesen nicht so dicht wie vor 50 Jahren an die Bretter heran, die für uns alle die Welt bedeuten…

 

 

 

 

 

 

 


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