Eine Schachlegende wird 90:
„Worüber die Figuren schweigen“
Interview mit Großmeister Juri
Awerbach
Von Dagobert Kohlmeyer
Er gehört zu den wenigen noch
lebenden Schachlegenden des vorigen Jahrhunderts, und seine Vielseitigkeit ist
wohl unübertroffen. Juri Awerbach kann zu seinem 90. Geburtstag am Mittwoch auf
ein mehr als erfülltes Leben zurückblicken. Der Großmeister machte sich nicht
nur als starker Spieler, sowjetischer Landesmeister, bekannter Trainer,
WM-Sekundant, Schachtheoretiker, vor allem als Endspielpapst, einen Namen,
sondern auch als Buchautor, internationaler Schiedsrichter bei
Weltmeisterschaften und Schacholympiaden sowie als FIDE-Funktionär und
Schachhistoriker. Viele Jahrzehnte lang war der Moskauer Chefredakteur der
Zeitschrift „Schach in der UdSSR“.
Wenige Stunden vor seinem
Jubiläum sprachen wir mit Juri Awerbach über die verschiedenen Facetten seiner
Schach-Tätigkeit. Kaum ein anderer weiß so genau wie er, was sich in den
vergangenen Jahrzehnten auf den Brettern des Weltschachs und hinter den Kulissen
der Szene abspielte.
Juri, Lwowitsch, was ist an
Ihrem Ehrentag geplant?
Eine Menge. Die Feiern
erstrecken sich über mehrere Tage. Am Mittwoch gibt es in Moskau einen
festlichen Abend in der Zentralen wissenschaftlich-technischen Bibliothek, wo
ich vor etlichen Jahren ein Schachzentrum gegründet habe. Am
Donnerstagnachmittag werde ich im Zentralen Klub vom Russischen Schachverband
geehrt, und dort halte ich auch noch einen Vortrag für junge Spieler.
Ein erstaunliches Pensum! Was
ist die Idee Ihres Schachzentrums in der Bibliothek?
Wir wollen auch die Veteranen
für das Schach gewinnen. Aber sie sollen dort keine harten Turniere mehr
spielen, sondern Schachaufgaben lösen. Die Beschäftigung mit Studien beugt der
Alzheimer-Krankheit vor. Wenn man über 70 Jahre alt ist, dann kann sich
Turnierstress mitunter schädlich auf die Gesundheit auswirken. Es gibt ja
drastische Beispiele, dass Schachspieler während des Wettkampfs am Brett
sterben, wie kürzlich Waleri Zeschkowski.
Worauf ist das zurückzuführen?
Ich denke, dass die nervliche
Belastung beim Schach für die Veteranen nicht zu hoch sein darf. Eine entspannte
Betätigung mit dem Spiel jedoch ist bis ins hohe Alter sehr nützlich.
Nur wenige Schachspieler von
Rang erreichten bisher ein solches Alter wie Sie – Respekt. Wie haben Sie sich
so lange fit gehalten?
Durch eine gesunde Lebensweise
und viel Bewegung. Ich habe immer Sport getrieben. Bis vor zwei Jahren bin ich
noch regelmäßig in ein Moskauer Hallenbad schwimmen gegangen. Dann haben mir die
Ärzte davon abgeraten.

Was hat Ihnen das Schach
gegeben?
Sehr viel. Ich habe eine Menge
gesehen und erlebt und konnte dabei auch hinter die Kulissen der Schachszene
schauen. Die Ereignisse dort waren nicht weniger interessant als auf dem Brett.
Darüber habe ich in meinem Buch „Worüber die Figuren schweigen“ geschrieben.
Sie gehen in diesem Buch auch
auf den Abbruch des „unendlichen“ WM-Matchs Karpow-Kasparow 1984-85 ein. Wie kam
es überhaupt zu dieser Situation?
Karpow hat damals den großen
taktischen Fehler gemacht, unbedingt 6:0 gewinnen zu wollen. Obwohl er 5:0 in
Führung lag, realisierte er nicht, welche Fortschritte Kasparow während des
Matchs als Schachspieler gemacht hat und kassierte deshalb drei Niederlagen.
Darum zog sich das Match so lange hin. Wer weiß, wie es geendet hätte, wenn sie
noch weiter gespielt hätten.

Wer aber steckte konkret hinter
dem Abbruch, bzw. wer hat aus Ihrer Sicht den damaligen FIDE-Chef Campomanes zu
dieser Entscheidung gedrängt?
Ich war neben Gligoric und
Mikenas einer der Schiedsrichter des Matchs und habe den großen Druck erlebt,
unter dem der FIDE-Präsident stand. Er war praktisch zwischen zwei Fronten
geraten. Die eine Seite, das Zentralkomitee der KPdSU, unterstützte ihren
Protegé Karpow, auch der sowjetische Schachpräsident Sewastjanow war Karpows
Freund. Kasparow bekam dagegen starke Hilfe von Gaidar Alijew, dem Parteichef
und späteren Präsidenten Aserbaidschans. Ich denke, mit dem Abbruch konnten am
Ende beide leben.
Sie kennen die russische
Schachszene seit über 70 Jahren, spielten heimlich Trainingsmatchs mit Michail
Botwinnik und sekundierten vielen großen Stars ihres Landes. Welche Erinnerungen
haben Sie an den großen Gegenspieler der Sowjets, Bobby Fischer?
Zu ihm hatte ich eine sehr gute
Beziehung und versorgte ihn mit Schachliteratur. Fischer verhielt sich zwar oft
sehr seltsam, aber mit einigen sowjetischen Schachspielern pflegte er
freundschaftliche Kontakte. Darunter auch mit mir. Am Brett sind wir uns nur
einmal begegnet. Es war beim Interzonenturnier 1958 in Portoroz. Das Spiel
endete remis.
Sie waren ein starker
Großmeister, aber auch Trainer, Theoretiker, Buchautor, Schachfunktionär und
Schachhistoriker. Welche dieser Tätigkeiten hat Ihnen am meisten Freude
bereitet?

Jede war zu ihrer Zeit wichtig.
Sehr viel bedeutet es mir, der heutigen Generation die Schachgeschichte nahe zu
bringen.
Zum Beispiel in der Berliner
Emanuel Lasker Gesellschaft.
Sicher. Ich hoffe, dass mir das
Schicksal gnädig ist und ich noch ein paar Jahre lebe, dann wäre ich einer der
letzten Zeitzeugen, die Lasker noch persönlich begegnet sind. Viele
Schachspieler hatten nicht das Glück, so alt zu werden. Ein großer Teil meiner
Generation ist zum Beispiel im Krieg geblieben.
Herr Awerbach, nach Ihnen sind
einige Eröffnungssysteme benannt, etwa in der Königsindischen Verteidigung. Und
Sie gelten als der Endspielpapst schlechthin. Wie viele Studien haben Sie
verfasst?
Ich habe sie nicht gezählt, es
sind einige hundert Endspielstellungen und Studien. Meine Endspielbücher wurden
in 20 Sprachen übersetzt.
Sie sind sehr oft in Deutschland
gewesen, nicht nur bei Veranstaltungen der Lasker-Gesellschaft und bei Treffen
der Schachhistoriker. Kommen Sie auch dieses Jahr?
Ja, im Sommer bin ich mal wieder
in Dresden, und zwar vom 11.-17. Juni. Ich habe gute Erinnerungen an die Stadt,
1956 gewann ich dort ein internationales Turnier. In Dresden spreche ich zu
einem interessanten Thema – unter anderem stelle ich Schachpartien oder Studien
als dramatische Werke vor. Jedes spannende Spiel stellt doch im Grunde eine Art
Theaterstück dar. Je nachdem, wie eine Partie verläuft, kann sie ein Drama, eine
Komödie oder Tragödie sein.
Da ist etwas dran. Welches war
Ihre beste Partie und welches Ihre schönste Niederlage?
Es fällt mir schwer, nur eine
Gewinnpartie zu nennen, denn ich habe viele Koryphäen besiegt. Darunter waren
die Weltmeister Max Euwe, Michail Botwinnik und Tigran Petrosjan sowie der
unvergessene David Bronstein. Schön habe ich 1961 in der Moskauer
Teammeisterschaft gegen Petrosjan und 1964 in der Moskauer Einzelmeisterschaft
gegen den damaligen Fernschachweltmeister Jakow Estrin gewonnen.
Die spektakulärste Niederlage
kassierte ich gegen Alexander Kotow im Kandidatenturnier 1953