Adventskalender: Leonid Stein

von André Schulz
23.12.2016 – Für die Leser der ChessBase-Nachrichten: Jeden Tag halten wir ein Türchen in der Adventszeit zum Öffnen bereit. Einfach anklicken und sich überraschen lassen, was sich dieses Mal finden lässt - jeden Tag bis zum 24. Dezember. Adventskalender, 23. Tür, die hohe Schule der Angriffskunst ...

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Schnell, schneller, Leonid Stein

Einige erinnern sich vielleicht noch an Anands rasanten Aufstieg in die Weltspitze, Anfang der 1990er Jahre. Anand verblüffte die Schachfreunde und seine Gegner mit der unglaublichen Geschwindigkeit, mit der er seine Partien spielte. Meist wusste der spätere Weltmeister auf den ersten Blick, welcher Zug in einer bestimmten Situation der richtige war und brachte ihn a tempo aufs Brett. In dieser Hinsicht hatte der indische Schnellspieler in der Schachgeschichte einen Vorgänger - das war Leonid Stein.

Leonid Zakharovich Stein wurde am 12. November 1934 in Kamanez-Podolsk (Kamjanez-Podilskyj) geboren. Der zweite Teil des Doppelnamens verweist auf die historische Region, zu der die Stadt gehört: Podolien. Die ukrainische Provinz Podolien liegt südöstlich von Lemberg (Lviv) und grenzt im Süden an Moldawien und Rumänien. Über 400 Jahre, bis zur zweiten polnischen Teilung (1793), gehörten Podolien und Kamanez-Podolsk jedoch zu Polen-Litauen. Zwischendurch gab es auch einige Jahre der Besetzung durch die Osmanen. Nach der polnischen Teilung wurde Kamanez-Podolsk dem Russischen Reich zugeschlagen. 1919 nahm hier die ukrainische Nationalregierung ihren Sitz, in einem Versuch, die russische Revolution für die Gründung einer unabhängigen Ukraine zu nutzen. Der Versuch schlug fehl. 1922 wurde die Ukraine Teilrepublik der Sowjetunion. 

Nach dem Angriff Nazideutschlands auf die Sowjetunion floh der sechsjährige Leonid Stein mit seiner Familie vor der anrückenden deutschen Wehrmacht aus Kamanez-Podolsk und landete in Taschkent (Usbekistan). Die Deutschen eroberten die Stadt. Das "Polizeibataillons 320" und ein "Sonderaktionsstab des Höheren SS- und Polizeiführers (HSSPF)" richtete im August 1941 in Kamanez-Podolsk furchtbare Massaker unter den ansässigen und hierher geflüchteten Juden an und tötete Zigtausend Menschen.

In Taschkent starb Leonid Steins Vater, was die Not der Familie vergrößerte. Er selber erlitt unter den erbärmlichen Bedingungen, unter denen die Familie ihr Leben fristete, eine chronische Herzkrankheit. Das Schachspiel lernte Stein mit zehn Jahren und zeigte bald großes Talent. Schon in frühen Jahren gewöhnte er es sich an, seine Partien sehr schnell zu spielen und sich nicht lange mit Grübeln über den besten Zug aufzuhalten, wobei er diesen aber auch ohne langes Nachdenken oft genug fand. Diese Spielgewohnheit behielt er auch später als Großmeister bei. Für viele seiner Partien benötigte Stein nur 20 Minuten eigene Bedenkzeit.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ging Stein zurück in die Ukraine, absolvierte seinen Militärdienst und nahm an Schachturnieren der Sowjetarmee teil. 1955 und 1956 wurde er jeweils geteilter Erster bei den Armeemeisterschaften.

Leonid Stein bei der Armee

Seinen internationalen Durchbruch erzielte Stein, als er bei den UdSSR-Meisterschaften 1961 etwas überraschend den geteilten 3. Platz erreichte und sich damit für das Interzonenturnier 1962 in Stockholm qualifizierte. Dort wurde Stein geteilter Sechster bis Achter und hätte sich eigentlich für das Kandidatenturnier qualifiziert. Aber zu dieser Zeit gab es eine Regel der Fide, dass nur eine begrenzte Anzahl von Spielern eines Landes am Kandidatenturnier teilnehmen durften und so fiel Stein als sechster Sowjetspieler raus. Stattdessen nahm der punktgleiche Benkö am Kandidatenturnier in Curacao teil. Für seine Leistung beim Interzonenturnier erhielt Stein von der Fide immerhin den Titel eines Großmeisters.

Leonid Stein, Anfang der 1960er Jahre

Beim Interzonenturnier 1964 in Amsterdam passierte Stein das gleiche Missgeschick wie zwei Jahre zuvor. Stein wurde Fünfter. Statt seiner nahmen jedoch die hinter ihm platzierten Nicht-Sowjetspieler Borislav Ivkov und Lajos Portisch an den Kandidatenkämpfen teil. Auchbeim Interzonenturnier in Sousse 1967 war Stein der Qualifikation für die Kandidatenkämpfe nahe, musste aber ein Stichkampfturnier mit den punktgleichen Vlastimil Hort und Samuel Reshevsky spielen, aus dem nicht er, sondern Reshevsky als Sieger hervorging.

In seiner besten Zeit, Mitte der 1960er Jahre, war Stein einer der weltbesten Spieler. Dreimal gewann er die UdSSR-Meisterschaften: 1963, 1965, and 1966. Gegen Vasily Smyslov, Tigran Petrosian und Mikhail Botvinnik hatte Stein ein ausgeglichenes Resultat. Gegen Mikhail Tal, Boris Spassky und Paul Keres lag er im Plus. Der Statistiker Jeff Sonas führt Leonid Stein in seiner Statistik der historischen Spieler als Dritten der Weltrangliste in den Jahren 1966 und 1967 mit einer historischen Elozahl von 2759. In Sonas' Liste der besten Spieler der Schachgeschichte nimmt Stein Rang 47 ein.

Leonid Stein mit dem jungen Anatoly Karpov

Stein beeindruckte mit einer großen Zahl von schneidigen Angriffspartien, von denen er viele auch schnell beendete: Er brauchte nicht nur wenig Zeit, manchmal brauchte er auch nur wenige Züge. In seinem Buch "Leonid Stein: Master of Attack" hat Raymond Keene den Kurzpartien des Titelhelden ein eigenes Kapitel gewidmet und dieses mit "Thors Hammer" übertitelt. Keene empfahl allen "Liebhabern von Gewalt auf dem Schachbrett" das Studium dieser Partien.

Aus dieser Auswahl stellen wir hier zwei Partien vor, die nach nur 23 Zügen (Warum 23?) beendet waren. Viel mehr Zeit als sie zum Nachspielern brauchen, hat der Meister seinerzeit beim Spielen vermutlich auch nicht aufgewendet.

 

 

 

 

Leonid Stein starb am 4. Juli 1973 an einem Herzinfarkt, Folge seiner in der Kindheit erlangten Herzkrankheit. Er befand sich gerade zur Vorbereitung auf ein Schachturnier in Bath im Moskauer Hotel Rossija und war im Begriff sich zur Abreise fertigzumachen als er kollabierte. Leonid Stein wurde nur 38 Jahre alt. Aber er hinterließ der Nachwelt 956 Partien (laut Mega 2017), darunter viele Angriffsperlen.

Leonids Steins Grabstein

 

Fotos: Soloscacchi

Mihail Marin über Leonid Stein in Karl 1/16

 


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.

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