Anand analysiert Carlsen vs Caruana

von Sagar Shah
12.12.2018 – Millionen von Menschen auf der ganzen Welt haben den WM-Kampf zwischen Magnus Carlsen und Fabiano Caruana verfolgt. Besonders aufmerksam hat Ex-Weltmeister Vishy Anand hingeschaut. Er selbst hat schon zahlreiche WM-Kämpfe hinter sich und kennt die WM-Atmosphäre und hat schon oft gegen Carlsen und Caruana gespielt. In einem Interview mit Sagar Shah verrät Anand, wie er den Wettkampf gesehen hat und analysiert die entscheidenden Momente des Wettkampfs. | Foto: Amruta Mokal

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Vishy Anand gilt als eines der größten Schachtalente aller Zeiten. Er ist der 15. Weltmeister der Schachgeschichte und war auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn auch im Schnell- und Blitzschach kaum zu besiegen. Auf dieser DVD spricht er über seine Laufbahn und präsentiert und analysiert die besten Partien seiner Schachkarriere bis zum Gewinn des Weltmeistertitels 2007 (in englischer Sprache).

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Ex-Weltmeister Vishy Anand über Carlsen - Caruana

Sagar Shah hat sich die Zeit genommen, um bei Vishy Anand zu Hause vorbei zu schauen. Vishy Anand hat sich die Zeit genommen, Sagar Shah seine Einschätzung des WM-Kampfs zwischen Carlsen und Caruana zu verraten.

Sagar Shah zu Besuch bei Vishy Anand in Chennai | Foto: Amruta Mokal

Vishy Anand lässt den WM-Kampf 2018 Revue passieren


1. Carlsen-Caruana ähnelt Anand-Gelfand

Auf die Frage, welcher WM-Kampf dem Match zwischen Carlsen und Caruana in London 2018 am ähnlichsten sei, meinte Anand, dies sei sein Wettkampf gegen Boris Gelfand 2012 gewesen. Auch dort hätte es viele Remispartien gegeben, allerdings auch zwei entschiedene Partien.

Anand gewann den WM-Kampf gegen Gelfand mit einem 2½-1½ Sieg im Stichkampf

2. Die erste kritische Stellung

Anand:

"Es ist wirklich merkwürdig, dass Magnus diese Stellung nicht gewonnen hat. Magnus' Held [er selbst, nur drei bis vier Jahre jünger - Anm. der Red.] hätte diese Stellung mit Leichtigkeit gewonnen!"

 

"Hier hat Schwarz eine der größten Chancen im Wettkampf verpasst. Bemerkenswert ist, dass Magnus bis zu diesem Zeitpunkt großartig gespielt hat. Alle haben ihn gelobt. Bevor er die Stellung in einen ganzen Punkt verwandelt, hätte er seine Stellung allmählich verbessern können. Auf eine Sache möchte ich jedoch hinweisen — zu Hause zu sitzen und zu erklären, was man hätte machen sollen, ist sehr leicht. Ich habe weiß Gott auch schon viele Gewinnstellungen verdorben. Ich möchte nicht so tun, als sei das leicht. Aber Carlsen hat eine Chance verpasst. Da führt kein Weg dran vorbei."

3. Anands Einschätzung von 10...Td8 von Caruana

"Ich hatte mir diesen Zug angeschaut, ich habe Notizen dazu, aber offensichtlich hat Fabiano sehr viel tiefer analysiert. Ich weiß, dass Hikaru den Zug auch analysiert hat, denn wir haben einmal kurz darüber geredet. Das war gute Eröffnungsvorbereitung."

 

"So sollte es bei einem WM-Kampf sein. Man hat so viel Zeit, man kann wirklich in die Tiefe gehen und ein paar Dinge klären und muss nicht unbedingt den Zug spielen, der aktuell gerade besonders modern ist. Und ich glaube auch nicht, dass Fabiano diesen Zug nur für eine Partie vorbereitet hat. Ich glaube, wenn Magnus wieder Td1 gespielt hätte, dann wollte Fabiano diese Variante wiederholen."

4. Die Variante mit ...Lc5 im Drachen mit vertauschten Farben

 

"Ich glaube, …Sb6 und …Le7 (1.c4 e5 2. Sc3 Sf6 3.Sf3 Sc6 4.g3 d5 5.cxd5 Dxd5 6.Lg2 Sb6 nebst Le7) ist immer noch der meist gespielte Zug, wenn man sich anschaut, wie viel Partien insgesamt mit dieser Variante gespielt wurden. Ich würde nicht sagen, dass …Lc5 alle anderen Varianten verdrängt hat, aber letztes Jahr habe ich diese Variante gegen Fabiano in Saint Louis gespielt und dann gab es auch noch die berühmte Debatte zwischen Dubov und Karjakin. Der Zug war populär, aber verschwand dann wieder eine Weile in der Versenkung. Aber ich glaube, nach diesem Wettkampf wird das einfach eine der Hauptvarianten."


Dubov analysiert die von Anand erwähnte Partie Dubov vs Karjakin


5. Das Bauernopfer im Rossolimo-Sizilianer

"Das Bauernopfer b4 ist bekannt und das Motiv ist ebenfalls bekannt. Nicht nur durch diese Partie sondern auch durch die Partie Fischer-Spassky, in der Lxc6 bxc6 mit b4 beantwortet wurde. Sogar das, was Caruana in dieser Partie gespielt hat, stand schon einmal auf dem Brett. Ich würde davon ausgehen, dass beide Seiten gut vorbereitet waren, Fabiano natürlich, weil er diese Variante gespielt hat, aber Magnus schien die Variante auch gut zu kennen."

 

6. Neue Ideen in der Russischen Verteidigung

"Man probiert diese ungewöhnlichen Züge, weil man eine interessante Stellung bekommen möchte. Aber auch diese ungewöhnlichen Züge kann man mit dem Computer analysieren. Grischuk und Kovalev haben diese Variante schon einmal gespielt und Grischuk hat sich die Variante angeschaut, die in der Partie zwischen Carlsen und Karjakin aufs Brett gekommen ist, Weiß zieht Sf4-d5 und Schwarz zieht Sc6-Sd4 (lacht)."

 

"Witzig, dass sie der Analyse so lange gefolgt sind! [Nach den Zügen 1.e4 e5 2. Sf3 Sf6 3.Sxe5 d6 4.Sd3 Sxe4 5.Se2 Se7 6.Sf4 Sc6 7.Sd5 Sd4 8.Sxe7 Sxe2 9.Sd5 Sd4 10.Sa3 Se6 11. f3 S4c5]"

 

"Grischuk wusste, dass all das nichts bringt und nichts Besonderes ist. Wenn es klappt, dann klappt es. Manchmal spielt man harmlose Varianten und bekommt dennoch etwas, weil der Gegner sich nicht auskennt. Fabiano hat sich gründlich vorbereitet. Aber wir wissen nicht, wie gründlich, weil Magnus ihn nur ein bisschen getestet hat. Er hat nur die Oberfläche angekratzt, wohingehen Fabiano einer Variante treu geblieben ist und nachgebohrt hat. Wir wissen jetzt, dass Carlsen auf die Rossolimo-Variante sehr gut vorbereitet war, aber seine Vorbereitung im Sveshnikov-Sizilianer mit Sd5 wirkte ein wenig improvisiert."

"Wenn es klappt, dann klappt es" —Vishy Anand | Foto: Amruta Mokal

7. Wie schwer ist es, den Zug ...Lh4! zu finden?

Caruana spielte 68...Sf3 und die Partie wurde am Ende remis. Aber hatte Caruana Gewinnchancen, hätte er 68...Lh4 gezogen. Wir haben Anand gefragt, wie leicht oder schwer es in dieser Stellung ist, den Gewinn für Schwarz zu finden?

 

Anand:

"Natürlich war das nicht leicht. Ich habe das auch noch nicht ganz verstanden. Aber die Stellung mit Mehrfigur ist nicht forciert gewonnen, das heißt, Weiß hätte versuchen können, den Springer mit seinem Läufer auf andere Weise im Zaum zu halten. Ich habe Svidlers Zusammenfassung dieses Endspiels gesehen, aber die Details vergessen. Lustig ist, dass Svidler bei seiner Zusammenfassung ebenfalls gesagt hat, dass er seine Notizen und die Gegenfelder überprüfen muss. DAs Endspiel ist sehr schwer. Aber ich glaube, ich verstehe die Stellung nach …Sg1 jetzt ziemlich gut."

 

"Mit Schwarz muss man hier einen Zug verlieren. Deshalb spielt man nach h6 Kh8 h7 Lh4 Kh5 (oder Kh6), und dann Le1 Kg6 Lc3 Kh6 (Der Läufer kann nicht ziehen, weil dann der Springer  befreit wird) Ld2 Kg6 Lg5!"

 

"Und jetzt habe ich geschafft, dass du am Zug bist. Dieses Läufermanöver gewinnt immer, denn Schwarz kann immer einen Zug verlieren, indem er die Schleife verlängert! Das ist also kein Fall von gegenseitigem Zugzwang. Dies ist eine der Stellungen, in denen man Weiß eindeutig in Zugzwang bringen kann. Aber ich habe noch nicht ganz genau verstanden, warum die Stellung einen Zug vorher Remis war und warum der Läufer auf c4 nicht gut steht. Das muss ich mir noch einmal in Ruhe anschauen und versuchen zu verstehen. Aber das ist faszinierend. Plötzlich lernt man etwas Neues über ein Endspiel."

8. Ist es für Spieler wie Anand sinnvoll, sich solche Endspiele anzuschauen?

"Ja, manche Stellungen sind einfach interessant genug, um sie sich anzuschauen. Vielleicht habe ich eines Tages eine ähnliche Stellung auf dem Brett und dieses Wissen ist auf irgendeine vage Art nützlich. Aber ich schaue mir das Endspiel nicht unbedingt an, weil ich glaube, dass ich damit später einmal Punkte machen kann. (lächelt)."

9. Der Damenrückzug Da5-d8 in Partie 9

Wir haben Anand gefragt, was er von Caruanas Idee hält, in Partie 9 erst ...Dd8-a5 zu spielen, um dann kurze Zeit später wieder nach d8 zurückzugehen. Ist das nicht Zeitverlust und sollte Weiß nicht in Vorteil kommen können?

Caruana vs Carlsen, Partie 7

 
 

Anand: Warum sollte Weiß in Vorteil kommen können? Er hat doch seinen Springer gerade nach d2 zurückgezogen! Interessanterweise funktionieren die Pläne mit Sd2-b3 am besten, wenn die schwarze Dame auf a5 steht. Aber dann geht Schwarz mit der Dame einfach nach d8 zurück und fragt Weiß, was sein Springer auf d2 eigentlich will. Ich habe es aufgegeben, Schach nach dieser Logik verstehen zu wollen, denn der Computer verweist auf eine Ausnahme nach der nächsten. Ich weiß noch, wie ich mich einmal mit meinem Sekundanten unterhalten habe, der mir einen Zug gezeigt hat, und ich meinte, dass diese Stellung bereits 100 Mal und mehr mit vertauschten Farben und einem Mehrtempo gespielt wurde. Wie kann ein solcher Zug dann gut sein? Aber ich habe erkannt, dass diese Logik beim Schach einfach nicht funktioniert. Wenn man das Mehrtempo ausnutzen kann, gut! But häufiger schaut man sich einfach, welche Möglichkeiten die dann entstehende Stellung bietet. Wenn es funktioniert, dann funktioniert's! Damit haben wir in unserem Team immer gescherzt. Wenn jemand etwas Unlogisches vorgeschlagen hat und wir das nicht widerlegen konnten, dann mussten wir einsehen, dass es funktioniert!

10. Die neue Richtung im Sveshnikov

Caruana vs Carlsen, Partien 8,10 und 12

 
 
Wird Sd5 jetzt zu einer der Hauptvarianten gegen Sveshnikov?

Anand: Schon die Tatsache, dass Kramnik bei der Olympiade so gespielt hat, zeigt, dass man sich die Variante noch einmal anschauen sollte. Ich habe eigentlich nie gegen jemanden gespielt, der das versucht hat, deswegen habe ich mich mit dem Zug auch nicht besonders gründlich beschäftigt. Da Magnus in all seinen Schwarzpartien Sveshnikov gespielt hat oder spielen wollte, gibt es Gründe, sich diese Variante gründlicher anzuschauen, aber dieses Argument überzeugt nicht wirklich. Man kann immer sagen, dass man hier oder dort mehr Zeit hätte investieren sollen, und wenn der Gegner dann etwas anderes spielt, geht die Kritik weiter.

Caruanas Zug ...Lxf3 und Carlsens Kunst, Druck auszuüben

Carlsen vs Caruana, Partie 9

 
 
Ist ...Lxf3 ein Fehler?

Anand: Nein, überhaupt nicht! Ich sehe die Dinge hier so wie Fabiano. Ich glaube, der Computer bewertet die Stellung als viel zu gut für Weiß. Ja, Weiß bekommt einen lang anhaltenden Vorteil, der unangenehm für Schwarz ist. Aber vom Gewinn ist er weit entfernt.

 

Wenn Schwarz alle Türme tauschen kann, dann ist der weiße Vorteil meiner Meinung nach sehr gering. Denn Schwarz hat viele Festungen. Nehmen wir also einmal an, dass man die weiße Dame nach f7 bringen kann (nach dem Tausch der Türme) und dann mit dem Läufer nach d5 geht, um einen Mattangriff in die Wege zu leiten. Aber dann spielt Schwarz ...Lc5 und geht dann nach d6. Die Dame auf d8 deckt das Matt. Danach kann Schwarz Df8 spielen und den Damenabtausch anbieten, womit er die weiße Dame von d6 vertreibt. Geht die weiße Dame nach e6, dann kann ich meinen König mit g6 und Kg7 befreien. Danach spiele ich ...De7. Gibt Weiß Schach auf g8, dann kann ich nach h6 gehen. Schwarz hat viele Möglichkeiten, sich passiv zu verteidigen. Dennoch, Weiß kann gefahrlos immer weiter spielen, vor allem, wenn noch ein Paar Türme auf dem Brett stehen. Das heißt, der weiße Vorteil ist nie besonders groß, aber Schwarz kann ihn nicht neutralisieren. Wenn Carlsen ein Paar Türme auf dem Brett gelassen und im richtigen Moment h5 gespielt hätte, dann hätte er Schwarz quälen können, aber trotzdem verstehe ich, warum Fabi ...Lxf3 gespielt hat.

 

Wirklich überrascht hat mich, dass Magnus h5 gespielt hat. Als ich das gesehen habe, war mein erster Gedanke, geht jetzt nicht  ...gxh5? Was macht Weiß dann gegen ...h4? Hier h5 zu spielen ist einfach verfrüht. Weiß sollte bereit sein, den schwarzen Plan mit ..gxh5 und ...h4 mit Th1 und Dc4 kontern zu können, bevor er h5 zieht. Er scheint ...f5 einfach übersehen zu haben. Ich glaube nicht, dass Magnus einen großen Vorteil vergeben hat, er hat einen dauerhaften Vorteil aus der Hand gegeben.

Die spannendste Partie des Wettkampfs

Caruana vs Carlsen, Partie 10

 
 
Hier hätte Caruana den Bauern auf b5 nehmen können, aber stattdessen zog er seinen Bauern nach g3.

Anand: Irgendwann hätte Caruana einfach Lxb5 spielen können. Ich war bei der Übertragung aus St. Louis zugeschaltet und Maurice hat mich gefragt: "Lxb5. Der Computer schreit, dass Weiß Vorteil hat. Siehst du das auch so?" Danach konnte ich die Frage nicht mehr wirklich beantworten, denn natürlich sehe ich das auch so. Sobald der Computer sagt, das ist gut, dann verstehe ich, warum es gut ist. Aber wenn der Computer gesagt hätte, der Zug ist schlecht, dann hätte ich ein paar Minuten gebraucht, um zu versuchen, zu verstehen, warum der Zug schlecht ist! Das ist immer das Problem, wenn man versucht, eine Partie zu verstehen und über diese entscheidende kleine Information verfügt. Das ist alles, was man wissen muss - ob die Stellung gut oder schlecht ist. Und ich habe dabei auch auf meine Partie gegen Aronian (Tata Steel Chess 2013) hingewiesen. In dieser Partie wusste ich lediglich, dass ich besser stehe. Viel mehr habe ich nicht erinnert. Aber das hat mir gereicht, um alles zu finden. Denn wenn man in einer Stellung Zweifel hat, dann kann man sich sagen, dass sie besser sein soll und es deshalb einen guten Zug geben muss. Und das ist etwas ganz anderes als eine Stellung zu haben, bei der man sich sagen muss, dass man nicht weiß, wie sie zu bewerten ist.

Nach Lxb5 war der Plan mit ...Tf, um nach g6 oder h6 zu gehen, komplizierter als es zunächst schien. Weiß hat gewisse Probleme, aber er löst sie. Das war eine erstaunliche Partie. Ich glaube nicht, dass einer der beiden irgendwann auf Verlust stand, aber die Stellung sah gefährlich aus, praktisch gefährlich. Und das ist das Interessante an diesem Wettkampf. Sehr oft kam es zu Stellungen, in denen ich mir sagen würde, dass ich diese Stellung in einer praktischen Partie mit Weiß, aber auch mit Schwarz verlieren könnte. Und trotzdem kam es zu sechs Remis! Das waren inhaltsreiche Stellungen, aber keiner der beiden ist zusammengebrochen. Dafür verdienen sie Respekt und Anerkennung, statt Kritik an verpassten Chancen.

Vishy Anand | Foto: Amruta Mokal.

Das Remis zum Schluss!

Caruana vs Carlsen, Partie 12

 
 
In dieser Stellung bot Carlsen Remis an. Was denkt Anand darüber?

Anand: Ich war schockiert. Weiß hat Pläne, er will den Springer über h3 nach g5 bringen. Und es ist nicht so leicht für Schwarz, ...b5 durchzusetzen, weil er auf die Türme auf c2 und d1 aufpassen mussen. Aber ich habe den Tweet von Erwin L'Ami gesehen, in dem er schreibt, dass ..La4 und ...b5 sehr stark für Schwarz ist!

 
 
Die Stellung, in der Carlsen mit ...La4 Tcc1 und ....b5! in Vorteil kommen konnte.

Ich habe mir diese Idee angeschaut und gesehen, dass sie wirklich gut für Schwarz ist. Ich habe zuerst versucht, den Vorstoß ...b5 mit Ld7, Tb8 und b5 durchzusetzen, aber das ist umständlicher. Ich habe mich gewundert, dass Magnus in der Schlussstellung nicht einmal drei Züge mehr machen wollte. Er hätte ...Ld7 spielen, sogar ...Ta6, ...Tb8 und ...b5. Drei Züge mehr machen und man kann immer noch Remis anbieten. Warum sollte man es hier anbieten? Ich habe versucht, an ähnliche Situationen zu denken. Zum Beispiel, wenn man nach der Eröffnung auf Verlust steht und sich 20 Züge oder mehr verteidigen muss und richtig leidet. Und dann spielt mein Gegner einen Zug, mit dem er nicht nur seinen Vorteil verliert, sondern sogar in eine etwas schlechtere Stellung gerät. Im Prinzip sollte man jetzt alles abschütteln und sich sagen, dass man besser steht und anfangen, auf Gewinn zu spielen. Aber manchmal fällt es sehr schwer, hier den Schalter umzulegen. Allerdings stand Carlsen in dieser Partie nie auf Verlust. Er musste keinen Schalter umlegen. Aber ich glaube, der Kampf fand in seinem Kopf statt. Er wollte in dieser Partie unbedingt ein Remis, weil er Angst hatte, er könnte sie verlieren, und diesen Gedanken konnte er nicht abschütteln. Aber auch wenn man das und die ganzen Umstände des Wettkampfs in Betracht zieht, bin ich immer noch überrascht, dass Magnus Carlsen hier ein Remis angeboten hat.

Im Video oben spricht Anand über die klassischen Partien des Wettkampfs. Seine Sicht auf die drei Partien des Stichkampfs übermittelte er in einer Sprachnachricht - die wichtigsten Aussagen werden im Folgenden transkribiert. | Foto: Amruta Mokal

Der Schnellschach-Tiebreak

Ich hatte den Eindruck, dass die Dinge in den Schnellpartien für Fabiano sehr schnell schief gegangen sind. In der ersten Partie gab es einen kritischen Moment, in dem Magnus gleich in der Eröffnung e4 gezogen hat.

Carlsen vs Caruana, Tiebreak, Partie 1

 

Fabiano war mit der Absicht in den Stichkampf gegangen, auf der Uhr nicht ins Hintertreffen zu geraten und sich seine Zeit besser einzuteilen. Aber vielleicht ist dies eine der Stellungen, in denen man ein bisschen Zeit investieren muss, um sich klar darüber zu werden, was man machen will. Nach 0-0, Sge2 und Lg2 hat Magnus genau das bekommen, was er wollte. Deshalb hätte Fabi überlegen können, ob er vorher ...Lxc3 oder etwas Ähnliches spielt. Die Stellung, zu der es in der Partie kam, war unangenehm für Fabiano, obwohl er einigermaßen vernünftig gespielt hat. Einen interessanten Moment gab es, als er …Sb7 anstelle des Partiezugs …Sb5 hätte spielen können.

Carlsen vs Caruana, Tiebreak, Partie 1

 

Ich glaube, eine Ungenauigkeit wie ...Sb5 kann man sich noch erlauben. Ich glaube, Fabiano hat die Ressource …Sd4 gesehen und das Gefühl gehabt, er könnte die Stellung danach halten. Die vielen Feinheiten, die dann entstehen, zu berechnen, ist sehr schwer. Wenn man solche Stellungen hält, gibt einem das Selbstvertrauen. Es hätte einen großen Unterschied gemacht, wenn Fabiano die Partie Remis gehalten hätte und da hat nicht viel gefehlt. Typisch ist auch, dass der Spieler, der alles tut, nach ein paar Fehlern gewinnt. Man verliert solche Stellungen nie nach nur einem Fehler, man verliert sie nach zwei oder drei Fehlern. Fabiano ist die Partie allmählich entglitten. Erst hat er seinen Bauern nicht nach c3 gezogen, dann hat er das Turmschach nicht gegeben, und ein kleiner Fehler hier und ein kleiner Fehler da - das summiert sich. Respekt für Magnus, der in dieser Situation so klar gesehen hat, dass Te7+ der entscheidende Zug war. Mit diesem Sieg hat Magnus sein Selbstvertrauen zurückgewonnen. Ich weiß, wie wunderbar es sich anführt, mit einem Punkt Vorsprung in Führung zu gehen, wenn man lange vergeblich nach einem Durchbruch gesucht hat.

 
 
Den Bauern auf g7 zu nehmen, führt zu Remis. Magnus hat erst ein Schach auf e7 gegeben, um den schwarzen König zurück zu treiben, und dann erst auf g7 genommen, was zu einem gewonnenen Turmendspiel führt.

In der zweiten Partie hat Fabiano das Gegenspiel unterschätzt, das Schwarz nach c5 und c6 bekommt. Man braucht mehr Zeit, um zu erkennen, dass der scheinbare Vorteil des Weißen trügerisch ist.

 
 
Fabianos Plan mit c5-c6 war ehrgeizig. Er bekam einen Freibauern, aber sein König auf e1 war sehr anfälllig und fiel einem sehr starken Angriff zum Opfer.

In Partie drei hat Fabiano versucht, in einer hoffnungslosen Situation weiter zu kämpfen. Am Ende hatte er ein paar ganz kleine Chancen. Es hat sich gezeigt, dass auch Magnus Nerven hat. Nachdem Weiß e5 gespielt und Vereinfachungen herbeigeführt hat, kam plötzlich …Db2!

 

Für einen kurzen Moment sah das gefährlich für Carlsen aus. Der Zug Sd7 von Weiß war ein Fehler, aber danach hat sich Carlsen wieder gefangen und ist mit der Dame nach d6 gegangen, um die Stellung zu stabilisieren.

 

Danach hat Fabiano noch ein oder zwei Fehler gemacht und es war vorbei. Aber eine solche Partie zu verlieren kann man niemandem wirklich vorwerfen. Wenn man mit zwei Punkten im Rückstand liegt, dann ist die Lage ziemlich hoffnungslos. Am Ende hat Magnus seine Stärke im Schnellschach gezeigt. Ich glaube, seine Fähigkeit, alle Arten von Stellungen zu spielen und einigermaßen vernünftig zu spielen ist in diesen Situationen ein großer Vorteil für ihn.

Herzlichen Glückwunsch Magnus Carlsen! | Photo: Niki Riga

Vishy Anand | Foto: Amruta Mokal


Sagar Shah ist ein junger Internationaler Meister aus Indien. Er ist zugleich ausgebildeter Wirtschaftsprüfer und würde gerne der erste indische Wirtschaftsprüfer sein, der Großmeister wird. Sagar berichtet leidenschaftlich gerne über Schachturniere, denn so begreift er das Spiel, das er so liebt, besser. Aus Leidenschaft für das Schach betreibt er auch einen eigenen Schachblog.

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