Königsjagd in 2300 Meter Höhe
Vishy Anand zeigte bei WM in Mexiko beste Leistung seiner Karriere
Von Dagobert Kohlmeyer
Das noble Sheraton
Historico Hotel in Mexiko-City war ab Mitte September eine Hochburg des
Weltschachs. Acht Superhirne grübelten im WM-Turnier über die besten Züge.
Nicht nur die mexikanische Hauptstadt, eine der gigantischsten dieser Welt,
lag im Schachfieber. Auf allen Kontinenten verfolgten Millionen Anhänger des
königlichen Spiels live im Internet die Rösselsprünge von Anand, Kramnik und
deren Rivalen. Der russische Weltmeister konnte seinen Titel nicht
verteidigen. Die Anhänger des Champions im Turniersaal und im Global Village
erlebten, dass seine Figurenmanöver diesmal nicht zum ersten Platz reichten.
Vishy Anands Sieg mit plus vier in dem Kategorie-21-Wettbewerb (!) wurde zum
größten Triumph in der Karriere des indischen Schachzauberers.
Kramniks Landsmann
Garri Kasparow hatte mit seiner Prognose Recht, dass Anand erster Anwärter
auf den Titel des Schachweltmeisters ist. Vor dem WM-Turnier in Mexiko-City
legte sich der frühere Schachzar und heutige Politiker sowie
Präsidentschaftskandidat fest. Kasparow nannte den Inder als Topfavoriten
für die Schachkrone, „weil Anand der beste Turnierspieler ist“. Kramnik
hingegen gilt als bester Match-Spieler, aber diese Meisterschaft war in
Mexiko nicht gefragt.
Nach dem ersten Drittel
lagen beide Favoriten noch gleichauf, dann siegte Anand zweimal, während
Kramnik nur remis spielte. In Runde 9 verlor der Russe gegen seinen
Landsmann Alexander Morosewitsch, womit seine Aussichten auf die
Titelverteidigung weiter schwanden. Anand diktierte ab dem zweiten Durchgang
das Geschehen allein und hielt Kramnik auch mit Schwarz im direkten
Vergleich stand. Drei Runden vor ultimo rangierte der Inder nach einem
erneuten Sieg mit komfortablen 1,5 Punkten Vorsprung an der Spitze. Damit
waren die Weichen in Richtung Sieg gestellt. Der Weltranglisten-Primus blieb
als Einziger unbesiegt und hielt die Konkurrenz auch in den restlichen
Spielen auf Distanz, um sich mit dem höchsten Lorbeer des Schachs schmücken
zu können.
Schon einmal trug Vishy
Anand die Krone des Weltschachbundes FIDE, aber seinen WM-Sieg im Jahre 2000
errang er in einem Knockout-Wettbewerb, nicht im Zweikampf, wie seit 1886 in
der Schachgeschichte üblich. Will man der FIDE glauben, hat nach Mexiko die
Turnierform als Spielmodus für die Schachweltmeisterschaft ausgedient. Die
internationale Föderation kehrt wieder zur bewährten Tradition zurück, den
Champion in einem Duell zu ermitteln.
Derlei Feinheiten des
WM-Reglements interessierten die mexikanischen Schachfans weniger.

Sie wollten spannende
Partien sehen und von den Geistesblitzen der Großmeister etwas lernen.
Überall wird dort Schach gespielt, auf Straßen und Plätzen, in Unis, Schulen
und Klubs.
Mexiko-City, das man
mit wenigen Worten nicht beschreiben kann, pulsiert wie immer. Für den
Besucher ist die Stadt der reine Wahnsinn. In einem ausgetrockneten Seebett,
aber 2 300 Meter hoch liegt der Moloch mit einer riesigen Fläche und über 20
Millionen Einwohnern. Chaotischer Verkehr, Smog und Kriminalität laden auf
den ersten Blick nicht zum Verwellen ein.

Alexandra Kosteniuk und Anatoly Karpov beim Stadtbummel
Als kulturelles Zentrum
mit bewegter Geschichte muss man die Stadt aber unbedingt erlebt haben. Und
die unglaubliche Schachbegeisterung dortzulande.

Beim „Festival de
Ajedrez Ciudad de Mexico 2006“ bot der im Zentrum gelegene Zócalo (Platz der
Verfassung) im vergangenen Oktober ein Schach-Spektakel, wie es die Welt
zuvor noch nicht gesehen hatte. 14 000 Teilnehmer trafen sich bei einer
Simultanveranstaltung, um einen neuen Rekord für das Guinness Buch zu
markieren. Der Aufbau von Tischen und Stühlen hatte schon in der Nacht
begonnen. Es war ein farbenfrohes Bild, wie sich das Areal ab 9 Uhr mit den
Teilnehmern füllte. Ganze Familien kamen, vom Opa bis zum Baby wollte jeder
dabei sein.


Ehrengast des Festivals
war Anatoli Karpow. Der Exweltmeister kennt die Schachbegeisterung in
Lateinamerika von vielen Besuchen in der Region.


Ob in Argentinien,
Brasilien, Chile, Kuba, Venezuela oder Mexiko, überall wird das königliche
Spiel mit Leidenschaft betrieben. Etliche Schachschulen in den genannten
Ländern tragen Karpows Namen. In vielen Staaten des Subkontinents hat das
Schulschach große Bedeutung und findet zunehmend Eingang in die Lehrpläne.
Karpow hat sich in zwei mexikanischen Provinzen umgesehen und erzählt
begeistert: „Sie haben ein staatliches Programm aufgelegt, den
Schachunterricht zu verstärken. Kubanische Trainer bilden dort Pädagogen für
diese Schulen aus.

Schach ist klar auf dem
Vormarsch“. Kein Wunder, dass nach Argentinien 2005 jetzt Mexiko die Ehre
erhielt, die Schach-WM auszurichten.
Oldies but Goldies
Erfahrung hilft in
keiner Sportart so viel wie im Schach, zeigte auch das WM-Turnier in
Mexiko-City. Am Ende lagen mit Vishy Anand und Boris Gelfand die beiden
Ältesten (und zwischen ihnen Kramnik) vorn.
Während der Sieg des
Weltranglisten-Primus Anand (37) keinen überraschte, bedeutete Gelfands
geteilter zweiter Rang eine kleine Sensation.

Der knapp 40-jährige
Figurenakrobat gehört seit zwei Jahrzehnten zur Weltspitze und hat seinen
Zenit eigentlich überschritten. In der Höhe von Mexiko-City spielte Gelfand
jedoch wie in seinen besten Tagen. In Runde 7 hielt er mit Schwarz auch
Weltmeister Wladimir Kramnik (Russland) stand, der zum Schluss nicht mehr
Punkte erzielte als der Israeli selbst. Kramnik musste am Ende noch mächtig
zulegen, um Gelfand einzuholen. Man darf wohl künftig bei Turnieren auf
Top-Niveau weiter mit Boris, dem Unverwüstlichen, rechnen.
Der in Minsk geborene
Großmeister erlernte die hohe Kunst des Schachs in der UdSSR, ehe er Ende
der 90er Jahre nach Israel auswanderte, wo er Brett 1 des Nationalteams
besetzt. Gelfand bevorzugt einen feinen strategischen Stil und gilt bereits
heute als lebender Klassiker. Seine besten Partien hat er geistreich
kommentiert und in einem Sammelband veröffentlicht. Das Buch kam in
englischer und in deutscher Sprache heraus und steht seit zwei Jahren auf
der Bestsellerliste der modernen Schachliteratur.
Ein Blick in die
Schachgeschichte zeigt, dass Brett-Genies wie guter Wein mit dem Alter immer
besser werden können. Nicht jeder natürlich, aber Ausnahmen bestätigen
bekanntlich die Regel. Der deutsche Weltmeister Emanuel Lasker saß 27 Jahre
auf dem Thron und gewann das legendäre Schachturnier 1924 in New York, als
er schon 55 Jahre zählte. 1935 in Moskau wurde er noch einmal Dritter.
Der Wahlschweizer
Kortschnoi, genannt „Viktor der Schreckliche“, verkörpert seit fast fünf
Jahrzehnten Weltspitze und verwirrt heute selbst mit 76 Jahren die
Konkurrenz mit seinem Husarenstil.
Auch im Amateurbereich
gibt es eindrucksvolle Beispiele, wie fit Schachveteranen noch sein können.
Berlins ältester aktiver Spieler Walter Wuthcke (SC Rochade) wurde im
September 93 Jahre (!) Er feierte seinen Geburtstag mit starken Zügen bei
einem Turnier im hauptstädtischen Vorort Fredersdorf. In dem Open spielte
ein elfjähriger Junge mit. In welcher Sportart gibt es so etwas, dass
zwischen den Teilnehmern eines Wettbewerbs eine Altersdifferenz von 82
Jahren liegt!
Auf den Titel einen
Tequila
Nach dem
letzten Zug im Sheraton Hotel von Mexiko-City erklärte der neue Weltmeister:
„Sie können sich vorstellen, wie happy ich jetzt bin“.

Ganz
entgegen seiner Gewohnheit trank Vishy gemeinsam mit seiner Frau Aruna einen
Schluck Tequila. Grund genug dazu hatte er. Anand brachte den begehrten
Titel ins Mutterland des Schachs zurück.

Vom königlichen Spiel
weiß Vishy alles, erreicht hat er jetzt auch alles: Als absoluter
Weltmeister ist er am Ziel seiner Träume. Im harten Wettkampf der acht
Matadore entthronte der Tiger von Madras den bisherigen Champion Wladimir
Kramnik, der die Schachkrone nach seinem Sieg über Garri Kasparow in London
sieben Jahre lang getragen hatte. Die anderen beiden Mitfavoriten unter den
Puppenspielern von Mexiko, Peter Leko und Levon Aronian, konnten kein
ernsthaftes Wort im Kampf um Sieg und Plätze mitreden.
Anand löste Kramnik
nicht nur ab, er bleibt nach Erscheinen der Oktober-Liste des Weltverbandes
FIDE mit nunmehr 2801 ELO-Punkten auch Weltranglisten-Erster. Schon 15 Jahre
zählt Vishy zur absoluten Schach-Elite. Mit unzähligen Turniersiegen hat er
sich längst einen Platz in der Geschichte des alten Spiels gesichert.
Viermal gewann Anand den begehrten Schach-Oscar. Vor Mexiko bestritt er
schon drei WM-Kämpfe. 1995 in New York gegen Kasparow und 1998 in Lausanne
gegen Karpow verlor er. Im Jahre 2000 gewann Anand die
FIDE-Weltmeisterschaft und damit seinen ersten großen Titel. Es war jedoch
nicht die prestigeträchtige Krone des klassischen Schachweltmeisters.
Gleichwohl wurde der stets freundliche Star von seinen Fans stürmisch
gefeiert. Der Empfang in seiner Heimatstadt Madras, dem heutigen Chennai,
war überwältigend, die Bewunderung für ihn in Mexiko jetzt ähnlich groß.
Mit sechs
Jahren hat Vishy Anand das Spiel von seiner Mutter erlernt. 1987 wurde er
Jugendweltmeister und erster Großmeister Indiens. Danach ging seine Karriere
als Schachprofi nur steil nach oben. In der Schnelligkeit des Denkens
übertrifft Anand alle anderen Spieler. Deshalb gewinnt er die meisten
Wettbewerbe mit verkürzter Bedenkzeit. In Blitzspiel ist er fast
unschlagbar. Anand verliert nie eine Partie durch Zeitüberschreitung und
muss sein Limit auf der Uhr selten ausnutzen. Ein Schachkommentator nannte
ihn darum „Speedy Gonzales.“
Der indische
Nationalheld, zu Hause mehrfach Sportler des Jahres, zeigte sich in der
Höhe von Mexiko in bestechender Form. Keiner manövrierte in dem langen,
harten Turnier so schlau und sicher wie Anand. Als einziger Teilnehmer
verlor er keine Partie und lag am Ende einen ganzen Punkt vor Kramnik und
Gelfand.
Der Russe muss aber
jetzt nach dem Verlust seiner Krone keinen Karriereknick befürchten. Im
nächsten Jahr erhält Kramnik laut Beschluss des Weltschachbundes FIDE ein
WM-Revanchematch gegen den Sieger von Mexiko-City. Der neue Schachkönig
Anand ist dann nicht Herausforderer, sondern der Titelverteidiger. Die
Chancen stehen sehr gut, dass der Wettkampf in Deutschland stattfinden kann.
Kramnik:
„WM-Duell mit Anand wird epochales Ereignis“
Nach dem
Turnier analysierte Wladimir Kramnik im Gespräch mit der Moskauer Zeitung
„Sport Express“ den WM-Verlauf und vor allem seine eigene Leistung Unter
anderem sagte er: „Eine Schlüsselpartie war mein Remis gegen Grischuk, wo
ich den Gewinn verpasste. Ich hätte sonst plus 2 gehabt und wäre an der
Spitze dran geblieben. Danach bescherte mir die Auslosung vier
Schwarzpartien aus fünf. Das war eine schwere Aufgabe. Normal ist ein
Farbenwechsel nach jedem Spiel. So viele Schwarzpartien aber kosten zu viel
Kraft.“

In dieser
Turnierphase verlor Kramnik auch seine einzige Partie von Mexiko. Er zog den
Kürzeren gegen seinen Landsmann Alexander Morosewitsch, der sich für die
Hinrunden-Niederlage beim Champion rächte. „Es war Morosewitschs Tag, an
einem solchen kann er jeden schlagen“, räumte Kramnik ein. Und er erklärte,
warum er in dieser Runde etwas riskierte: „Mir gefiel die Tabellensituation
nicht. Anand lag vorn und es galt, auch mit Schwarz zu gewinnen. Das ging
schief und nur noch ein Wunder konnte mir helfen, den Titel zu holen.“
Kramnik
lobte Anand als echten Turnierkämpfer, der jede sich bietende Chance nutzte,
auch gegen ihn. „Nur ein Sieg im direkten Duell mit Anand hätte mir helfen
können. Aber unsere beiden Partien, in denen ich das Spiel diktierte,
endeten leider remis.“
Sein für
nächstes Jahr von der FIDE anberaumtes WM-Revanchematch gegen Anand
bezeichnete der Russe gegenüber „Sport Express“ als epochales Ereignis. „Wir
beide sind die erfolgreichsten Schachmeister der Ära nach Kasparow“, betonte
er. Seit 1993 marschieren wir auf gleicher Höhe. Er hat einige Turniere mehr
gewonnen, ich habe mehr WM-Matches für mich entschieden.“ Das kommende Duell
wird den Schlusspunkt hinter die Streitfrage setzen, wer von uns stärker
ist“.
Schon
klopft nach Kramniks Worten eine mächtige Welle junger Talente an die Tür
und in einiger Zeit „werden wir ihr nicht mehr standhalten können“. Das sei
ein Gesetz des Sports, des Lebens.
Kramnik
erklärte in dem Interview auch, warum das WM-Match gegen Anand für ihn
persönlich so wichtig ist: „Mir war es vergönnt, WM-Zweikämpfe gegen die
besten Spieler der Gegenwart zu gewinnen: Kasparow, Leko, Topalow. Jetzt
führt mich das Schicksal mit dem fantastischen Anand zusammen. Ich werde
mich ganz ernsthaft vorbereiten und glaube, dass ich die Schachkrone nach
Russland zurückholen kann.“
Der
entthronte Champion will jetzt etwa drei Wochen Urlaub machen, denn er sei
sehr müde. („Noch einen Durchgang in Mexiko, und wir Spieler wären alle
krankenhausreif gewesen“). Im November bestreitet Kramnik zwei Turniere in
Moskau: das Tal-Memorial und die Blitzweltmeisterschaft.
Anand:
WM-System ist zu kompliziert
Vishy Anand
kam einen Tag später in der Moskauer Sportzeitung ebenfalls zu Wort und
zeigte sich mit seiner Leistung von plus 4 in einem Turnier dieser
Wertigkeit verständlicherweise sehr zufrieden.

„Es
war für mich das Turnier des Jahres“. Der „absolute“ WM-Titel von Mexiko sei
sehr wertvoll, aber sein Sieg im FIDE-Championat von 2000 sei ihm genauso
lieb, auch wenn er von manchem als nicht so bedeutend empfunden wurde. Anand
erinnerte daran, dass es damals eine andere Situation mit zwei Weltmeistern
gab und fügte hinzu: „Das heutige WM-System erscheint mir als zu
kompliziert. Ich denke, es könnte einfacher und gerechter sein. Ich verhehle
nicht, dass die FIDE viel Gutes tut, aber sie ändert zu oft die Regeln. Kaum
hast du dich an einen Modus gewöhnt, wird ein neuer eingeführt. Ich hoffe,
dass geht nicht so weiter.“
Anand
relativierte in dem Gespräch auch Kramniks Aussage vom epochalen Match
zwischen beiden. „Für mich war es am wichtigsten, dieses Turnier hier zu
gewinnen. Über die Möglichkeit eines Matchs gegen Kramnik habe ich bisher
noch nicht nachgedacht. Das ist eines der Privilegien, die die FIDE
großzügig vergibt. Mir erscheint das sonderbar. Ich neige nicht dazu, das
bevorstehende Duell gegen Kramnik in eine so grandiose Kategorie einzuordnen
wie er. Ich denke, dieses Turnier in Mexiko war genauso wichtig. Das Match
mit Kramnik wird der nächste Schritt in meiner Karriere sein und nichts
anderes.“
Anand
betonte noch, dass er auch in diesem Zweikampf mit seinem Vorgänger auf dem
Thron alles geben werde. Jetzt sei aber erst einmal Erholung angesagt. In
ein paar Wochen will der neue Weltmeister aus Indien dann wieder zu den
Figuren greifen. Er wird ebenfalls wie Kramnik beim Tal Memorial in Moskau
starten. Und danach wie jedes Jahr in Wijk aan Zee, in Linares usw. Eben ein
spielender Weltmeister sein, der überall gern gesehen ist. Die Fans von
Vishy Anand wird es freuen. Auch in Deutschland natürlich, wenn Vishy Anand
weiter wir bisher für den Bundesliga-Primus OSC Baden-Baden am ersten Brett
die Figuren setzt.