Doch natürlich wählte Anand „die
kämpferische Alternative 13…axb5“ (Stohl) und obwohl er von der Varianten
überrascht wurde, erhielt er bald einen Vorteil. Allerdings setzte sich der
junge Holländer zäh zur Wehr und hätte in Zeitnot sogar eine Gewinnstellung
herbeiführen können. So gesehen war seine Variantenwahl vielleicht doch nicht so
schlecht. Postny und Stohl setzen sich in ihren Beiträgen jedoch vor allem mit
dem ehrgeizigeren 13.Lh4 auseinander.
Partie:
Stellwagen,D - Anand,V 0-1
weiterführende Links:
Kasparov:
How to play the Najdorf Vol. 1
King: Power
Play 9 -
Schwerfiguren gegen Leichtfiguren
Anand:
My
career 1 und
My career 2
CBM 117
Kurzbeschreibung der Beiträge im Heft von CBM 117:
Beitrag Stohl
Beitrag Postny
Hier folgen die Passagen von Stohl bzw. Postny die
Einleitung und 13.Lb5 betreffend:
Von Igor
Stohl
In letzter Zeit gab es
einige interessante neue Partien, welche die anscheinend ruhigen
theoretischen Gewässer der berüchtigten Bauernraubvariante des Najdorfs
aufgewühlt haben. Doch um diese Entwicklungen in ihrem richtigen Kontext zu
verstehen, bedarf es einer historischen Erklärung von einiger Länge. Dies
liegt daran, weil in diesem sehr konkreten Abspiel auch ältere Partien
relevant sind und notwendig, um den ihm zugrunde liegenden taktischen Gehalt
zu erfassen.
Es ist mehr als 50 Jahre her,
dass der Damenausfall 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6
6.Lg5 e6 7.f4 Db6!? in der internationalen Praxis zu erscheinen begann.
Die überwiegende Reaktion von Weiß war anfangs das prinzipielle Bauernopfer
8.Dd2 Dxb2 9.Tb1 Da3, gefolgt von dem Zentrumsdurchbruch 10.e5!?.
Die Idee ist sehr natürlich; Weiß versucht, die Stellung aufzusprengen, um
seinen Entwicklungsvorsprung geltend zu machen.

Einer der ersten, der sich
auf die Seite von Schwarz schlug, war Alexander Tolush, ehemaliger Trainer
des zukünftigen Weltmeisters Boris Spassky und Großmeister mit einem
scharfen Blick für taktische Komplikationen. Er begriff, dass um die
Stellung geschlossener zu halten, Schwarz selbige zumindest teilweise öffnen
sollte, und zwar mit 10...dxe5 11.fxe5 Sfd7. In
Tal,M - Tolush,A 1-0 reagierte eine weitere zukünftige Legende mit
12.Se4. Dieser Zug und die gesamte brillante Angriffspartie sind eine
gute Illustration des Stils des jungen Tals, einst humorvoll so beschrieben:
"Erst zentralisiert er seine Figuren, dann opfert er sie". Tals Idee,
angereichert mit neuem Inhalt, wird das Hauptthema dieser Übersicht
darstellen.
Zwei Jahre nach seiner Partie
mit Tal eilte Tolush zur Rettung dieses Abspiels, und zwar mit 12...h6!.

Obwohl 12.Se4 aus dem
Rampenlicht wich, hat es auch in diesem Abspiel einige Aufregung gegeben,
als Weiß nach 12...h6 das überraschende und pittoreske 13.Lb5!?
entkorkte.

Doch auch mit diesem
Ausfall kam Schwarz zurecht. Zunächst einmal kann er praktisch ein Remis
forcieren mit 13...hxg5 14.Tb3 Dxa2 (hier ist 14...axb5
15.Txa3 Lxa3 16.Dxg5 ziemlich riskant, siehe
Quinteros,M - Browne,W ½-½) 15.Dc3 axb5 (vielleicht sogar
15...Sc6 16.Lxc6 bxc6 17.0-0, und jetzt verdient nicht 17...c5? aus
Sieiro Gonzalez,L - Vera,R 0-1, sondern 17...Sxe5!? wie in
Quinteros,M - Sunye Neto,J 1-0 nähere Betrachtung.) 16.Dxc8+ Ke7
17.0-0 Da7 18.Td3! Sxe5!, und jetzt sollte Weiß 19.Sc5
(19.Txf7+?! aus
Papp,G - Womacka,M ½-½ reicht nicht aus) spielen mit Dauerschach wie in
Shabalov,A - Areshchenko,A ½-½.
Davon abgesehen verdient
sogar die kämpferische Alternative 13...axb5!? 14.Sxb5 hxg5
15.Sxa3 Aufmerksamkeit, wonach beide Schlagmöglichkeiten auf a3 spielbar
und unklar sind. Die relevanten Beispiele sind
Garbarino,R - Saldano Dayer,H ½-½,
Platonov,I - Minic,D ½-½ und
Vogelmann,P - Loeffler,W 0-1, und letztere Partie zeigt, dass Schwarz
sogar mehr als nur Ausgleich anstreben kann.
Von
Evgeny Postny
Thema des aktuellen
Artikels ist die folgende Variante: 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6
5.Sc3 a6 6.Lg5 e6 7.f4 Db6 8.Dd2 Dxb2 9.Tb1 Da3 10.e5

Die Geschichte der
Najdorf-Variante reicht in die Mitte des 20. Jahrhunderts zurück. Das
Abspiel mit 6.Lg5, gefolgt von dem Bauernopfer 8.Dd2 , war der
echte Prüfstein für die Schwarzspieler. Das aggressivste Abspiel, 10.e5,
genoss in den 50er-60er Jahren große Beliebtheit. Doch Schwarz gelang es,
sich erfolgreich zu verteidigen, vor allem dank
Bobby Fischer, der es fast
jedesmal, wenn er sich der 6.Lg5-Variante gegenüber sah, wagte, die
Herausforderung anzunehmen. Er gewann in den Sechzigern mehrere überzeugende
Partien. Danach verlor das Bauernopfer allmählich seinen Reiz und wurde in
Topturnieren ein ziemlich rarer Gast. Es ist leicht zu sehen, dass in den
letzten Jahrzehnten das Abspiel 6.Lg5 aufs theoretische Nebengleis geschoben
und durch den Englischen Angriff 6.Le3 und 7.f3 ersetzt wurde.
Aber erst vor wenigen Monaten
wurde das Interesse an der Bauernraubvariante wiedererweckt, und zwar nach
zwei vernichtenden Siegen Teimour Radjabovs, einem der gegenwärtig
weltbesten Spieler. Besonders beeindruckte mich dabei sein Erfolg über
Sergey Karjakin, der bekannt ist für seine ausgezeichnete
Eröffnungsvorbereitung.
Der Zug 10.e5 ist eine
sehr logische Entscheidung, der Verteidigungsspringer wird vertrieben. Weiß
versucht, seinen Entwicklungsvorsprung dazu zu nutzen, sofort die Stellung
aufzusprengen und den entblößten schwarzen Monarchen zu attackieren. Konkret
öffnet dieser Zug die d-Linie und exponiert das Feld d8 für potentielle
Mattdrohungen. Zudem wird, nach dem Rückzug des schwarzen Springers, das
wichtige e4-Feld frei für den weißen Springer, der sich in den Angriff
einschalten kann.
Allerdings ist der Zug
10.e5 auch verpflichtend. Falls Schwarz es schafft, seine Entwicklung
friedlich abzuschließen, könnte er am Ende einfach mit Mehrmaterial
verbleiben. Darum muss das Spiel von Weiß extrem präzise und konkret sein.
10...dxe5 11.fxe5 Sfd7

12.Se4

Dies ist der Zug, an dem sich
heutzutage die Gemüter erhitzen. Die Haupterwiderung lautet 12...h6
(12...Dxa2 13.Tb3 - siehe
Tal,M - Tolush,A 1-0, während 13.Td1 h6 14.Lh4 zum unten untersuchten
Hauptabspiel führen kann).
13.Lb5!?

Ein spektakulärer Zug. Ich
kann die Weißspieler nur bedauern, dass dieser Zug... lediglich zu
Dauerschach führt, nahezu forciert. Eine Musterpartie ist
Shabalov,A - Areshchenko,A ½-½. Versuche für Weiß wie für Schwarz, das
Dauerschach zu vermeiden und auf Gewinn zu spielen, funktionieren nicht, wie
in den Partien
Quinteros,M - Browne,W ½-½ und
Papp,G - Womacka,M ½-½.