Kalenderblatt: Artur Jussupow und sein
zweites Leben in Deutschland
Von Dagobert Kohlmeyer
Er ist erst 51 Jahre alt, aber schon eine
lebende Schachlegende. Artur Jussupow kann sein bisheriges Leben in zwei Teile
aufgliedern. Die ersten 30 Jahre verbrachte er in der Sowjetunion, wo sein
Talent frühzeitig entdeckt und entwickelt wurde. Dort reifte er zum
Weltklasse-Großmeister und WM-Kandidaten heran. Er wurde Juniorenweltmeister und
holte fünf Olympiasiege mit dem UdSSR-Team.

Seit genau 20 Jahren aber ist Artur in
Deutschland ansässig, er besitzt einen deutschen Pass und hat viele Kämpfe in
unserer Schach-Nationalmannschaft bestritten. Der Höhepunkt war dabei die
Silbermedaille bei der Schacholympiade Schnellschach. Was aber hat ihn im Mai
1991 bewogen, seine Heimat zu verlassen und von der Schachmetropole Moskau weg
in den tiefen Süden Deutschlands zu gehen? Es war ein einschneidendes Erlebnis,
das sein Leben von Grund auf veränderte.
Der Raubüberfall
Rückblende: Ein Jahr vor seinem Entschluss
fand im Mai 1990 in München ein SKA-Turnier statt, das Alexander Beljawski
gewann. Artur Jussupow teilte dort den zweiten bis vierten Platz. Mit seinem und
Beljawskis Preisgeld in der Tasche reiste er nach Moskau zurück. Die Sowjetunion
existierte zu diesem Zeitpunkt noch, und die Spieler mussten den Großteil des
Geldes im Sportkomitee abgeben. Dazu kam es zunächst nicht, denn Artur wurde in
seiner Wohnung überfallen. Er erinnert sich:
„Dieser Tag hat mein Leben entscheidend
verändert. Man denkt nicht, dass so etwas passieren könnte, aber der Vorfall
zeigt, dass unser Leben mitunter nicht so sicher ist, wie man es sich wünscht.
Kriminalität gibt es ja überall. Dennoch war es damals außergewöhnlich in der
Sowjetunion, weil der Staat alles kontrolliert hat. Aber sie waren anschließend
nicht in der Lage, das Verbrechen aufzuklären. Das war auch ein Grund für mich
wegzugehen. Ich kann heute nicht mehr jedes Detail des Überfalls rekapitulieren.
Aber es spielte sich etwa wie folgt ab:
Wir mussten ja bei der Einreise beim Zoll
alles deklarieren. Es ist also durchaus denkbar, dass jemand von den Beamten am
Flughafen in Moskau den Tätern einen Tipp gegeben hat. Und so kamen sie zu
meiner Wohnung und klingelten. Arglos öffnete ich und war damit den Banditen
ausgeliefert. Es waren drei oder vier. Sie schossen sofort auf mich. Ich merkte,
wie nervös sie waren, vielleicht standen sie auch unter Drogen. Es war eben mein
Fehler, dass ich die Tür sofort geöffnet habe, ohne zu fragen, wer dort draußen
steht. Kurioserweise haben die Einbrecher damals die Tasche mit dem Geld, das
ich zum Sportkomitee bringen wollte, nicht bemerkt. Nur andere Banknoten, die
mir gehörten, fanden sie.
Ich hatte einen Schock und realisierte erst
gar nicht, dass ich angeschossen wurde. Es war ein Bauchschuss, und ich hatte
Glück im Unglück, dass die Kugel an den lebenswichtigen Organen vorbeischlug. In
Moskau hat man das Geschoss noch nicht entfernt. Das geschah etwas später in
Brüssel. Bessel Kok und seine damalige Frau haben mir damals in dieser
schwierigen Situation sehr geholfen. Dafür bin ich ihnen noch heute dankbar. Das
ist der zweite Teil der Geschichte. An Brüssel habe ich sowieso nur beste
Erinnerungen. Dort gewann ich ein Jahr später mein WM-Kandidatenmatch gegen
Wassili Iwantschuk, wobei mir herausragende Partien gelangen. Da war ich schon
in Deutschland angekommen und hatte dadurch wohl frischen Wind und neue
Inspiration erhalten.“

Ankunft in München
Bei uns angekommen
Dennoch war der damalige Entschluss, nach
Deutschland zu gehen, natürlich eine schwierige Entscheidung. Wohl die schwerste
in Arturs Leben. Denn er wusste ja nicht, was ihn und seine junge Frau Nadja
erwarten würde. Eine sehr gute Starthilfe war das Angebot von Bayern München,
bei ihnen in der 1. Schach-Bundesliga zu spielen. Rückblickend sagt Jussupow
heute, dass er den Wechsel des Landes nie bereut hat. „Meine beiden Kinder sind
hier geboren. Inzwischen haben sie schon das Abitur gemacht und studieren
weiter. Das Leben hat einen ganz anderen Verlauf genommen. Deshalb ist dieser
20. Jahrestag heute für mich wirklich ein schönes Datum. Weil es damals eine
zweite Chance war, die man im Leben manchmal bekommt. Oder eine zweite Geburt.
Ich bin sehr froh, dass ich ein so schönes Land mit einer so großartigen Kultur
kennenlernen durfte. Es war sehr spannend. Anfangs konnte ich überhaupt kein
Deutsch, aber jetzt genieße ich die besseren Kontaktmöglichkeiten mit den
Menschen. Ich unternehme sehr viel, das macht mir einfach Freude. Immer entdecke
ich irgendwelche schönen Ecken in Deutschland, wenn ich unterwegs bin, ob beim
Simultan oder Schachunterricht. Es ist wirklich ein reizendes Land.“

Dagobert Kohlmeyer und Artur Jussupov 1991 in Hamburg
Mit seiner Schachakademie hat Artur großen
Erfolg und auch mit seiner Tigersprung-Reihe, die von der FIDE als beste
Lehrbücher des Jahres 2009 ausgezeichnet wurde. Gemeinsam mit seinem früheren
Trainer Mark Dworezki schrieb er einige Bestseller über alle Partiephasen, die
in mehreren Sprachen erschienen. „Als Trainer hat man ein größeres Feedback, als
wenn man als Großmeister zu Hause im Kämmerlein sitzt, sich auf Turniere
vorbereitet oder in verschiedenen Wettbewerben spielt. Das ist ebenfalls eine
neue Erfahrung, die ich in meinem zweiten Leben gemacht habe.“

Auf Wunsch einiger Schachfreunde stellte ich
Artur die Frage, wie er die Tatsache beurteilt, dass in Deutschland sehr viele
Schachfreunde den Trainerschein machen, aber ihre Zöglinge im internationalen
Maßstab häufig keine nennenswerten Erfolge erreichen. Seine Antwort: „Es ist
eine komplizierte Geschichte. Sie hängt sehr viel mit Schachtraditionen
zusammen. Ein zweiter Aspekt ist die Frage, wie gut diese Ausbildung wirklich
ist. Man muss nicht unbedingt ein starker Großmeister sein, wenn man Erfolg als
Schachtrainer haben will, aber es bedarf einer echten, gediegenen Ausbildung. In
Russland gibt es da natürlich eine sehr lange Tradition. Diese ist in
Deutschland nicht in dem Maße vorhanden. Ich erinnere mich zum Beispiel an die
Festveranstaltung zum 125. Jubiläum des deutschen Schachbundes im Jahre 2002 in
Leipzig. Dort wurde über viele Probleme gesprochen, aber es fiel kein einziges
Wort über die Trainerausbildung. Das ist vielleicht in kurzen Worten eine
Erklärung, wo hierzulande noch Reserven liegen. Die FIDE-Akademie in Berlin ist
eine gute Einrichtung. Aber dort werden ja vorwiegend ausländische Trainer
ausgebildet.“

Das Schachspiel und sein Wert
Über das Spiel der Spiele könnte Artur
stundenlang philosophieren. Bei einem unserer jüngsten Gespräche sagte er:
„Schach ist für mich eine unglaublich wichtige Sache. Es hat mich auch als
Mensch geformt. Ich habe durch die intensive Beschäftigung mit dem Spiel viele
Qualitäten gewonnen, die man im Leben braucht, zum Beispiel Konzentration,
Verarbeitung von Informationen, strategisches Denken. Dazu gehört auch die
Fähigkeit, mit Siegen und Niederlagen vernünftig umzugehen. Alles das habe ich
dem Schach zu verdanken. Ich glaube an die große gesellschaftliche Bedeutung des
Denksports. Er kann sehr zur Entwicklung junger Menschen beitragen. Das ist ein
ungeheurer Wert. Hier liegt auch unser Potential, das wir noch mehr ausschöpfen
sollten. In dieser hektischen Computerwelt, wo es oft nur um Schnelligkeit geht,
kann Schach als Oase der Ruhe und Konzentration ein Gegengewicht schaffen. Und
man erlernt viele Dinge, die zum Beispiel für eine wissenschaftliche Karriere
wichtig sind. Durch Schach lernt man, mit Informationen zu arbeiten und eigene
Ideen zu entwickeln, die Gedanken und Pläne des Gegners einzuschätzen, zu
analysieren und zu verarbeiten. Das ist für junge Menschen eine unglaublich
wichtige Sache. Viele Kinder, die im Schach erfolgreich sind, tanken dadurch
Selbstbewusstsein für das ganze Leben. Auch wenn sie nicht Großmeister oder
Schachprofi werden, so profitieren sie davon für ihren Beruf, für ihre weitere
Entwicklung und können eine erfolgreiche Karriere in anderen Bereichen starten.

Mit Robert von Weizsäcker in Bonn
Deshalb ist es wichtig, dass es nicht nur
eine Schachpresse oder spezielle Webseiten wie ChessBase gibt, sondern dass auch
Tageszeitungen regelmäßig über Schach berichten, eine wöchentliche Schachecke
haben und Veranstaltungen wie Simultanspiele organisieren. Das gehört zur Kultur
einer guten Redaktion. Denn Schach ist und bleibt ein Teil des Weltkulturerbes.
Es gibt keinen anderen intellektuellen Sport, der einen so großen Reiz hat und
den Menschen so viel Nutzen bringt. Das Spiel auf den 64 Feldern ist einfach ein
phantastisch konstruiertes Abbild des Lebens. Es symbolisiert zwar den Kampf
zweier Armeen, aber dieser geschieht mit friedlichen Mitteln.“
Am Ende unseres Gesprächs waren wir uns
einig: Man kann und sollte noch viel mehr über dieses Thema reden. Wichtig ist,
dass wir alle dazu beitragen, Schach noch populärer zu machen.