Auf dem Weg zum Großmeistertitel: Miaoyi Lu, 14 Jahre alt

von Thorsten Cmiel
25.03.2024 – Im Reykjavik Open 2024 spielte ein junges chinesisches Mädchen, Miaoyi Lu, groß auf. Ihre Mutter, Yuanyuan Xu, ist ebenfalls Frauen-Großmeisterin. Schon jetzt ist erkennbar, dass ihre 14-jährige Tochter in Kürze an ihr vorbeizieht und den IM-Titel und danach den Titel eines Großmeisters erringen wird. | Fotos: Hallfríður Sigurðardóttir | Reykjavik Open

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Bereits 2020 stellte André Schulz das zehnjährige Mädchen in eine Reihe mit Yifan Hou. Zurecht. Gestoppt wurde die Chinesin auf ihrem Weg in die Weltspitze durch die pandemiebedingte 15-monatige Reisepause. Mutter und Tochter sind aktuell auf Europatour und spielen ein Turnier nach dem anderen. Erst im Februar 2024 erzielte Miaoyi ihre erste IM-Norm im norwegischen Kragero. Unter ihren neun Gegnern in Norwegen waren sechs Großmeister, ein Internationaler Meister und eine Frauengroßmeisterin. Sie holte einen halben Punkt über den Durst. In der letzten Runde besiegte Miaoyi ihre Mutter in einem Feld mit zwanzig Teilnehmern – die eigene Mutter oder den Vater zu besiegen ist ein Ereignis, das viele Spieler in ihrer schachlichen Vita erwähnen. Selten holt man gleichzeitig eine wichtige Titelnorm.

Miaoyi Lu im Jahre 2020 | Foto: David Halter

Es folgte ein Frauengroßmeisterturnier in Belgrad. Es begann mit einem erneuten Sieg mit den weißen Steinen gegen die Mutter. Die jüngere Chinesin erzielte zwar eine ausreichende Performance (2474), allerdings spielten nur zwei IM-Titelträger mit.(*) In Island kam jetzt eine weitere IM-Norm hinzu und die Chinesin schraubt zudem ihre Elozahl deutlich über die notwendigen 2400. In den zwei letzten Turnieren (Belgrad, Reykjavik) gewann Miaoyi trotz inzwischen reduziertem Faktor (20) 45 Ratingpunkte.

Einige ausgewählte Situationen aus Rejkyavik sollen die hervorragende Leistung und das spielerische Potential von Miaoyi Lu belegen.

In der dritten Runde hielt die Chinesin ein etwas schlechter stehendes, aber haltbares Turmendspiel gegen einen isländischen Großmeister ohne Problem Remis. Das spricht für sich selbst und die gute technische Ausbildung.

In der vierten Runde folgte ein Remis gegen den Carlsen-Bezwinger, Alisher Suleymenov. Der Kazache hatte mehrfach frühzeitig den Tausch des weißfeldrigen Läufers, ein Standardmotiv in dieser Art des Franzosen, ausgelassen. Vielleicht wollte er kämpfen. In jedem Fall hätte sich seine Spielweise rächen können. Vielleicht war der Respekt zu groß und die Zeit zu knapp, in jedem Fall konnte Miaoyi in großem Stil zum Schluss gewinnen, begnügte sich jedoch mit einem Remis durch eine dreifache Stellungswiederholung.

In der Folgerunde kam es zur Partie mit dem legendären Vassily Ivanchuk. Der hatte kein Interesse an einem harten Fight und die Partie endete schnell friedlich. In der sechsten Runde spielte Miaoyi gegen einen schlechter eingeschätzten Isländer. Die Eröffnung brachte ihr deutlichen Vorteil nach einer frühen Ungenauigkeit ihres Gegners. Was dann passierte kann vermutlich nur mit heraufziehender Zeitnot erklärt werden. Der Vorteil der Chinesin verkleinerte sich nach einer starken Verteidigung ihres Gegners und nach einem groben Fehler, der die eigene Grundreihe vernachlässigte, sollte diesmal eigentlich die Erfahrung entscheiden. Es kam nochmals anders…

In der siebten Runde gewann Miaoyi eine strategische Glanzpartie gegen einen weiteren, diesmal englischen Großmeister. Die Verwertung des strategischen Vorteils erfolgte ohne erkennbaren Makel inklusive einiger taktischer Finessen.

Es folgte ein Remis gegen einen türkischen Großmeister, der gegen Miaoyi die Berliner Verteidigung spielte. Die Partie war nicht sonderlich ereignisreich. Die Chinesin sicherte sich durch das Ergebnis die IM-Norm. In der letzten Runde konnte Miaoyi (Jahrgang 2010) mit einem Sieg gegen den erfahrenen islandischen Großmeister Hedinn Steingrimsson (Jahrgang 1975) durch einen Sieg sogar eine GM-Norm erzielen. Vielleicht war diese Chance der Grund dafür, dass sie letztlich ihre Stellung überzog und verlor.

Die junge Chinesin Miaoyi Lu scheint eines der größten weiblichen Talente des letzten Jahrzehnts zu sein. Es wird spannend sein ihre weitere Entwicklung und ihre Partien zu verfolgen. Die Frage ist meines Erachtens nur, ob sie wirklich Hou Yifan oder Judit Polgar folgt und Frauentitel verschmäht.

(*) Auf einigen Social Media Kanälen wurde mitgeteilt, dass Miaoyi die Normen für den IM-Titel bereits zusammen hat. Der Weltschachbund FIDE ändert ständig seine Titelregulierungen und eventuell ist mir eine Änderung entgangen. Außerdem hat die Chinesin in allen drei Turnieren zusammen genügend IM- und GM-Titelträger. Das möglicherweise notwendige Erzielen einer weiteren Norm ist nur eine Frage von Wochen und Gelegenheiten.

Partien (unkommentiert)

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Thorsten Cmiel ist Fide-Meister lebt in Köln und Milano und arbeitet als freier Finanzjournalist.