Das fiese fxg3 im Caro Kann

von Marco Baldauf
12.04.2020 – Die im Dezember erschienenen DVDs zur Caro Kann Verteidigung übersahen im Zweispringerspiel eine Variante, die sich als sehr gefährlicher weißer Ansatz entpuppt. Muss deswegen 3...Sf6 als Antwort begraben werden und sich nach anderen Wegen umgesehen werden? Für mich als Autor wurde es jedenfalls Zeit, sich der Idee dieses Zuges etwas ausführlicher zu widmen.

Caro-Kann - Berliner Geheimvarianten Band 1 und 2 Caro-Kann - Berliner Geheimvarianten Band 1 und 2

Auf den DVDs legt Baldauf ein vollständiges Schwarzrepertoire gegen den Zug 1.e4 vor. Baldauf legz besonderen Wert darauf, die Varianten nicht nur auf Vereinfachung und Remis auszulegen, sondern eine Gewinnwaffe an die Hand zu geben.

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Als vor wenigen Monaten meine zweiteilige Caro Kann DVD erschien wusste ich bereits sehr bald, an welcher Stelle der Schuh drücken wird. Eine erste Rezension von Christian Höhte merkte schon im Januar an, dass der Zug 9.fxg3 leider fehle, ebenso ereilte mich privat das Feedback von Freunden, die mich auf die Variante aufmerksam machen wollten. Vergangene Woche veröffentlichte dann Conrad Schormann eine nahezu enthusiastische Rezension zu meinen Berliner Geheimvarianten, welche man als Autor natürlich geschmeichelt zur Kenntnis nimmt. Doch auch hier das Haar in der Suppe: im Zweispringerspiel riskiere Schwarz ein Desaster, da die Partie zwischen Vachier Lagrave und Nakamura vom Sinquefield Cup 2019 nicht eingearbeitet wurde und 9.fxg3 verschwiegen wird.

Maxime Vachier-Lagrave beim Sinquefield Cup 2019 | Foto: Justin Kellar / Grand Chess Tour

Es wurde also höchste Eisenbahn, diese Scharte im Repertoire auszuwetzen. Die Grenkefreie Osterzeit nutzte ich daher, meine Gedanken zu dieser Variante zu sortieren und auf Papier zu bringen. Schließlich sollen die Berliner Geheimvarianten auch den weißen Geheimvarianten ihr Tribut zollen.

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Wie ich fxg3 bereits als Idee verwarf, bevor der Zug überhaupt auf dem Brett war

Zum ersten Mal hatte ich Anfang des Jahres 2017 die Chance, den genialen Zug fxg3 im Zweispringerspiel aufs Analysebrett zu bekommen - doch wie so viele andere Spieler vor mir, scheiterte auch ich kläglich...Es war zu Beginn meiner Zeit als Caro Kann Spieler, das Repertoire befand sich noch im Aufbau, Lücken klafften allerortens. In einer Analysesession wollte mich mein Trainigspartner Arik Braun für 3...a6!? gegen das Zweispringerspiel erwärmen.

 

Die Idee des Zuges lautet, so ließ ich es mir damals erklären, dass Schwarz nach der natürlichen Zugfolge 4.d4-Lg4 5.h3 den Läufer etwas weniger sorgenvoll nach h5 zurückziehen kann. Denn Weiß hat wegen des Bauern auf a6 nun nicht die Möglichkeit auf d5 - 6.exd5-cxd5 - zu tauschen und 7.Lb5+ folgen zu lassen - ein Vorgehen, das den schwarzen Läuferrückzug nach 3...Lg4 4.h3-Lh5?! zumindest zu einer hochgradig riskanten Geschichte macht. Der Tempoverlust 3...a6 erweist sich hier als Gold wert - auch wenn fairerweise zu betonen ist, dass auch die Stellung nach 5...Lh5 sehr gefährlich für Schwarz ist.

 

Was dies alles mit fxg3 zu tun hat? Nun ja, einst davon überzeugt, dass 4.d4 es Schwarz zu leicht macht, schien es mir eine gute Option für Weiß zu sein, 3...a6 mit dem prophylaktischen 4.h3 zu kontern. Arik war gut gelaunt und hochzufrieden - ich war in die Falle getappt. Denn nun kann Schwarz mit 4...Sf6 in eine verbesserte Version von 3...Sf6 überleiten. Dass der Zug h3 hierbei nicht ins weiße Konzept passt, ist nach den Zügen 5.e5-Se4 6.Se2-Db6 7.d4-e6 zu sehen: 8.Sg3 sei hier schlicht nicht möglich. Damit war das Thema fxg3 bereits abgehakt bevor wir auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht hatten.

 

Wie Conrad Schormann in seinem sehr lesenwerten Blog völlig richtig schreibt, ist das Schlagen Richtung Zentrum dem normalen Vereins- wie dem Top-Ten-Spieler in Fleisch und Blut übergegangen. fxg3 wird nicht einmal angesehen, man sträubt sich ganz intuitiv gegen einen solchen Zug. Hat man ihn jedoch erstmal auf dem Brett, so sieht man wohl schnell die Vorzüge der offenen f-Linie.

In der kritischen Variante des Zweispringerspiels mit 3...Sf6 hat die handelsübliche Engine bei einer Suchtiefe von 20 eine relativ eindeutige Präferenz für 9.hxg3. Erst sehr viel tiefer grabend fängt sie an, Gefallen an 9.fxg3 zu finden. Mir ist von verschiedenen Seiten zu Ohren gekommen, dass wir das Konzept 9.fxg3 dem neuronalen Netzwerk Leela zu verdanken haben.

 

Ist 3...Sf6 damit erledigt?

Auf meiner DVD versuche ich immer ehrlich zu sein und Probleme in meinen Repertoirevorschlägen offen anzusprechen. Daher gilt auch hier: ja, 9.fxg3 ist ein gefährlicher Ansatz. Ja, 9.fxg3 hat in den wenigen Partien zu miesen Ergebnissen für Schwarz geführt. Ja, Nakamura sah in der Stammpartie gegen MVL nicht gut aus. Ja, 9.fxg3 sollte einen besser nicht unvorbereitet treffen, denn Schwarz muss wissen, was zu tun ist. Als ich in der aktuellen Bundesligasaison von 1.Sf3-Spieler Petar Arnaudov mit 1.e4 überrascht wurde und nach drei Zügen relativ klar war, was er sich gegen mein Caro Kann ausgekocht haben könnte, so wich ich seiner Vorbereitung mit 3...dxe4 lieber doch aus und holte problemlos ein Remis.

 

 

Wie ich auch auf meiner DVD im Einführungsvideo zum Zweispringerspiel zeige, ist 3...dxe4 insbesondere in Verbindung mit 8...Dxc2 eine interessante und unternehmungslustige Alternative zu 3...Sf6. Doch werfen wir nun einen Blick auf die entstehenden Stellungen nach 9.fxg3

Totgesagte leben länger

Schwarz nimmt auf d4 - entweder sofort oder nach dem Einschub 9...Sc6 10.0-0, sodass folgende Stellung als Ausgangsstellung gelten kann.

 

In der Stammpartie MVL-Nakamura kam hier das logische 11.De2. Wichtig zu verstehen ist, dass dieser Zug den e5 nochmals überdeckt und damit die Drohung Sg5 aufstellt - f7 ist aufgrund der offenen f-Linie die Achillesferse der schwarzen Stellung. Daher muss dies dringend mit 11...h6 unterbunden werden. Weiß kommt nun am Königsflügel erstmal nicht voran. Patrick Zelbel versuchte, nach 11.De2-h6 mit 12.Sh4? die Partie sofort zu gewinnen, sah nach dem coolen 12...Ld7 vermutlich jedoch ein, dass 13.Dh5 einfach mit 13...0-0-0! gekontert wird und Weiß sich verrannt hat.

 

Da der Überfall auf den schwarzen König nicht gelingt, so muss Weiß die Sache etwas langsamer angehen. MVL wie auch nach ihm sein Sekundant Etienne Bacrot und andere starke Spieler bauten sich mit 12.a3 gefolgt von b4 auf. Damit möchte Weiß den Bauern d4 umzingeln, der nach Zügen wie Lb2, Df2 und evtl auch b5 öfters angegriffen als gedeckt werden kann. Mein Vorschlag ist es, 12.a3 mit 12...Ld7 zu beantworten und b4 immer mit ...a6 zu kontern. Das nimmt den Schubser b5 raus und bereitet eine mögliche Springerwanderung über a7 nach b5 vor.

 

Die zentrale wie heikle Frage in diesem Stellungstyp lautet: wohin mit dem schwarzen König. Eine klare Antwort kann ich hier leider nicht geben, denn es hängt von der konkreten Stellung ab. Prinzipiell möchte ich jedoch sagen, dass Flexibilität nicht schadet und Schwarz als nächstes erstmal mit 14...Le7 fortsetzen sollte. Schauen wir uns an, was passiert, wenn sich Weiß plump den Bauern auf d4 zurückholt: 14.Lb2-Le7 15.Df2-Dc7! - wir nehmen den e5 aufs Korn, sodass 16.Sxd4 an 16...Sxe5 mit klarem schwarzen Vorteil scheitert. Überdeckt Weiß den e5 mit 16.Tae1, so können wir bequem kurz rochieren und nach 17.Sxd4 mit 17...a5! Druck auf den schwarzen Damenflügel ausüben. Der König steht hier auf g8 sicher, da Weiß mit Lb2 und Sd4 zwei Figuren vom Königsflügel wegbewegt hat.

 

So leicht bekommt man es in der Regel nicht gemacht. MVL spielte früh g4 und beließ den Läufer auf c1 - an eine kurze Rochade ist unter diesen Umständen (erstmal) nicht zu denken.

 

Nicht voreilig rochieren - Flexibility is key!

Dies stellt wohl die kritische Stellung der gesamten Variante dar. Nochmals betont: kurze Rochade scheint Schwarz in der Kombination Lc1 und g4 nicht zu überleben - auch wenn die Engine bei geringer Tiefe das weiße Potenzial gerne unterschätzt. Als Beispielvariante: 15.Ld2-0-0? 16.Tae1-Sa7 17.g5!-h5 18.Sh4-g6 und man könnte für einen kurzen Augenblick der Illusion verfallen, Schwarz stehe solide. Doch bei genauerem Hinsehen gewinnt hier das brachiale 19.g4 als auch das etwas stilvollere 19.Tf6 - und Schwarz fällt auseinander.

 

Daher sollte klar sein, dass der schwarze Monarch eher am Damenflügel landen sollte. Roven Vogel spielte in einer interessanten Partie mit dem armenische Großmeister Ter Sahakyan gar 13...0-0-0 und stellte ...a6 sowie ...Le7 erstmal zurück, doch die verlorene Flexibilität des schwarzen Königs macht es Weiß einfacher. MVL zog in der kritischen Stellung 15.Tb1 - ein starker prophylaktischer Zug gegen 0-0-0. Sehr gut gefällt mir auch Nakamuras Reaktion darauf: 15...Sa7!

 

Der Mattläufer auf d3

Der Springer macht Platz für den Läufer, der über b5 abgetauscht werden soll - ganz im Stile eines Caro Kann Spielers, der in einer Franzözischen Struktur gelandet ist! Dabei geht es weniger darum, den Ld7 loszuwerden - ich sehe ihn in dieser Variante nicht als das typische Problemkind - sondern muss das weiße Monster auf d3 abgetauscht werden. Denn dieser verhindert durch seine Strahlkraft in Richtung h7 zum einen die kurze Rochade, sein Blick nach b5 und a6 erschwert zum anderen die lange Rochade. Last but not least: ist der Läufer auf d3 weg, so wird der rückständige Bauer auf c2 als Schwäche markiert und Schwarz hat eine Angriffsmarke auf der c-Linie. MVL wählte daher 16.Lb2 und Nakamura antwortet mit 16...Sb5 - so einfach gewinnt Weiß den geopferten Bauern nicht zurück. In der Partie folgte nun das logische 17.Df2 und nun möchte ich Nakamuras 17...Dc7 mit 17...Tc8 verbessern.

 

Weiß hat mit seinem letzten Zug nicht nur den d4 ein drittes Mal angegriffen, sondern auch den Blick Richtung f7 geworfen und zudem eine Fesselung auf der Diagonale g1-a7 aufgestellt. Während jedoch Abzüge wie 18.Sg5 keine Drohung darstellen - auf f7 gibt es aktuell nur ein einziges Schach zu holen - gilt es, 18.a4 abzuwehren, das wir gerne mit ...Sc3 beantworten würden. Daher scheint 17...Tc8N eine interessante Verbesserung der Partie darzustellen. 18.Sxd4 wird nun einfach mit 18...0-0 beantwortet, der König steht abermals sicher am Königsflügel: die Springer werden abgetauscht und Schwarz hat aufgrund des Plans ...Lb5 keine Probleme. Interessanter ist hingegen 18.Kh1-0-0 19.g5!

 

Was diese Stellung nun von der oben besprochenen Variante nach 15.Ld2 0-0? unterscheidet? Die weißen Figuren stehen weniger gut gewappnet für den Königsangriff, zudem hat Schwarz mit ...Sc3 nebst ...Se4 eine wichtige Verteidiungsressource zur Verfügung. Die Stellung nach 19...hxg5! 20.Dg3-Sc3 21.Sxg5-Lxg5 22.Dxg5 Se4! ist völlig ok für Schwarz. Die Diagonale des Ld3 ist verschlossen, es folgt ...La4 mit Druck gegen c2. Falls zwei Schwerfiguren auf der h-Linie auftauchen, so findet der König nach ...f5 einen Weg ins Freie.

 

Zum Abschluss sei betont, dass auch Nakamuras Lösung 17...Dc7 ausreicht. Erst 19...f6 ist ein Fehler, das clevere 19...Sa7 mit der Idee 20...Lb5 sollte Schwarz Ausgleich sichern.

Fazit: 9.fxg3 ist definitiv ein interessanter Ansatz und bereitet den Caro Kann Spielerinnen und Spielern mit Sicherheit etwas Kopfschmerzen. Hat man die Stellung jedoch verstanden und ein Gespür entwickelt, wann der König nach g8 und wann nach c8 kommt, so sehe ich eine zweischneidige Stellung, die wir mit offenen Armen begrüßen sollten. Den deutlich solideren Ansatz stellt 3...dxe4 dar.

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Marco Baldauf, Jahrgang 1990, spielt seit seinem sechsten Lebensjahr Schach. Zwei Mal wurde er Deutscher Jugendmeister, seit 2015 spielt er für die Schachfreunde Berlin in der Bundesliga. Für Chessbase schreibt er gelegentlich auf der Homepage, kommentiert live oder versucht sich als Autor von Fritztrainern.

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