Der älteste Schachclub der Welt: Teil 1 (1809—1914)
Von Richard Forster & Christian Rohrer
Obwohl sich seit den 1770er Jahren in London und Paris erste Schachclubs bildeten,
waren organisierte Schachzirkel im Jahr 1809, dem Gründungsjahr der Schachgesellschaft
Zürich, noch sehr selten. Bis zum Sturz des "Ancien Régime" 1798 durch Napoleon
war Schach, wie die meisten anderen Spiele, in vielen Teilen der alten Eidgenossenschaft
verboten.
Es ist daher wenig überraschend, dass von den Anfängen der Schachgesellschaft
Zürich zu jener Zeit kaum Notiz genommen wurde. Zürich war damals eine kleine
Stadt mit etwa 11.000 Einwohnern und noch immer von starken Festungsmauern umgeben.
Die Zeitungen berichteten seinerzeit eher über Entwicklungen in fernen Ländern
als über lokale Angelegenheiten. Über das, was in der Stadt passierte, schwiegen
sie sich aus — die einfachste Strategie, um Zensur durch die Behörden zu
vermeiden. Pressefreiheit gab es in Zürich erst ab 1829.
Die erste Jahresrechnung der Schachgesellschaft Zürich vom 9. Februar 1810.
Es ist wohl eher Zufall, dass wir heute vom vermutlichen Gründungsjahr der Schachgesellschaft
Zürich wissen. Belege für diese frühe Zeit liegen in Form von einem Dutzend
Jahresrechnungen vor, einige lose Papiere, die ein Clubmitglied mit Weitsicht
in den 1830er Jahren zusammenheftete. Ohne diese Dokumente hätten wir von den
ersten 12 Jahren des Vereins keine Kenntnis — es hätte diese Jahre, jedenfalls
in unserer Erinnerung, nicht gegeben.
Von Beginn an war der Verein durch eine gesellschaftlich sehr breit gefächerte
Mitgliederschaft gekennzeichnet. Erschienen in späteren Jahren angesehene Ärzte,
reiche Bankiers und berühmte Nobelpreisträger auf der Mitgliederliste (freilich
auch zusammen mit einigen eher zweifelhaften Persönlichkeiten), so repräsentierten
die 6 Vereinsgründer die künstlerische und gewerbliche Seite der Stadt. Künstler
und Gewerbetreibende gehörten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Zürich
zu den treibenden Kräften unter den gesellschaftlichen Gruppierungen. Die Gründer
waren Sigmund Spöndli (Staatskassier der Stadt Zürich), Leonhard Ziegler (Papierfabrikant),
Johann Escher (Kolonialwarenhändler) sowie die drei Maler Heinrich Maurer, Carl
Schulthess und Heinrich Schulthess.
Heinrich Maurer (1774-1824), erster Präsident der Schachgesellschaft Zürich.
In den 1820er Jahren stieg die Zahl der Mitglieder auf über 20. Der Verein begann
Wettkämpfe gegen Winterthur durchzuführen, der 20 Kilometer nordöstlich gelegenen
Schwesterstadt. Heinrich Meister — nomen est omen, war er doch ein starker
Spieler — war hierbei die treibende Kraft auf Zürcher Seite. Soweit dokumentiert,
wurden alle 4 Wettkämpfe zwischen 1822 und 1826 von Zürich gewonnen. Es bleibt
indes offen, ob diese Überlieferung Resultat überlegener Spielstärke der Zürcher
oder nur deren cleverer Archivierungsstrategie war. Der Winterthurer Club ging
bald danach ein, um 1846 neu zu erstehen.
Im 20. Jahrhundert gewann die Schachgesellschaft Zürich durch die Ausrichtung
internationaler Turniere an Ansehen. Die gleiche Art unternehmerischer Einstellung
deutete sich schon 1825 an, als der unermüdliche (und unersättliche) Heinrich
Meister Schachfreunde aus dem ganzen Land im Kurort Baden zusammentrommelte,
unweit von Zürich gelegen. Obwohl viel von jener Korrespondenz bewahrt ist,
die zum Treffen führte, sind nähere Informationen über das erste "Eidgenössische
Schachturnier" rar, das vom 31. Juli bis 2. August 1825 im Gasthof "Engel" in
Baden stattfand. Nur eine kurze Notiz über die Ergebnisse der Zürcher Spieler
ist überliefert.
"Turniertabelle" von Baden 1825.
Das nächste Turnier sollte erst 1868 stattfinden. In der Zwischenzeit focht
die Schachgesellschaft Zürich eine Reihe von Wettkämpfen aus. Einer von diesen,
1847/48 ausgetragen, bestand in 2 Korrespondenzpartien gegen die "Lesegesellschaft"
in Basel. Zürich ging in beiden Partien leer aus.
Lesegesellschaft Basel — Schachgesellschaft Zürich
Fernpartie, Mai—November 1847
1. e4 e5 2. Sf3 Sc6 3. Lb5 Sd4 4. Sxd4 exd4 5. c3 Lc5 6. 0-0 Se7 7. b4 Lb6
8. c4 c5 9. bxc5 Lxc5 10. d3 0-0 11. g4 Sg6 12. h3 Dh4 13. Kg2 h5
14. Th1 d5 15. exd5 hxg4 16. hxg4 Dxg4+ 17. Dxg4 Lxg4 18. Sd2 Se5 19. Kg3 a6
20. La4 b5 21. cxb5 Ld7 22. Se4 Lb6 23. La3 Tfc8
24. Th5 Sg6 25. Lb3 axb5 26. Lb4 Lc7+ 27. d6 Ld8 28. Tah1 Le6 29. f4 Lxb3 30.
axb3 1:0.
Martin Senn — Dr. Joseph Schilling
Zürich, 18. November 1857
Eines der ältesten überlieferten Endspiele der Schachgesellschaft. Das Spiel
endete so: 1. Txg7+ Txg7 2. Sf6+ Kh8 3. Dxh6+ Th7 4. Df8 matt.
Weiss gewinnt auch nach dem etwas zäheren 1…Kh8 mittels 2. Tg8+! Kxg8 3. Sf6+
Kf7 4. Dh5+ Kf8 (oder 4…Kg7 5. Dg4+) 5. Dxh6+ Tg7 6. Dh8+ Kf7 7. De8 matt.
Die Turnierserie, die 1868 ihren Lauf nahm, dauerte bis 1879. Sie führte dazu,
dass sich fast jährlich die Schachfreunde der 3 grossen Vereine der Ostschweiz
trafen: Zürich, Winterthur und St. Gallen, die sich in der Ausrichtung der Veranstaltung
abwechselten. Zudem wurden Gäste aus Basel, Bern, Schaffhausen, Luzern und aus
anderen Orten stets herzlich willkommen. Anders als 1825 wurden die Resultate
sorgfältig von der Schachgesellschaft Zürich aufbewahrt.
Turnierresultate vom Ostschweizerischen Schachturnier 1868.
Die Regeln waren noch immer recht informell — die Schachfreunde spielten
gewöhnlich gegen wen und so häufig sie wollten (nur nicht gegen Mitglieder des
eigenen Clubs). Am Ende des Tages wurden Gewinne und Verluste für jeden Verein
zusammengezählt. Mehr als einmal führte dieses Berechnungssystem zu einer schweren
Niederlage des ausrichtenden Vereins. Der Grund für den "Heimnachteil" war recht
offensichtlich: Schwächere Spieler nahmen die Mühen der Reise seltener auf sich
als die stärkeren und ehrgeizigeren, so dass der ausrichtende Verein gewöhnlich
eine geringere durchschnittliche Spielstärke als die anderen Clubs aufwies.
Der historische Baugarten bildete 1876 die Szenerie des Siebten Ostschweizer
Turniers.
Die 1880er Jahre begannen für die Schachgesellschaft schlecht. Sie stand kurz
vor der Auflösung, ehe sie von Max Pestalozzi (1857—1925) gerettet wurde,
ein entfernter Verwandter des berühmten Pädagogen. Pestalozzi reorganisierte
den Verein 1887, und zwei Jahre später lud er Schachfreunde aus der ganzen Schweiz
zu einem Turnier ein, das bald als Erstes Schweizerisches Schachturnier in die
Annalen eingehen sollte.
Die Turnier-Ordnung von Zürich 1889.
74 Spieler fanden sich im "Pfauen" ein, heute der Sitz des bekannten Zürcher
Schauspielhauses. Bei diesem Turnier wurde wohl zum ersten Mal das "Schweizer
System" verwendet, das in den folgenden 15 Jahren von seinem Erfinder Dr. Julius
Müller (1857—1917), einem Lehrer in Brugg, kontinuierlich verbessert wurde.
Das Turnier fand am 1. und 2. Juni 1889 statt. Zwei Spieler blieben unbesiegt:
Max Pestalozzi selbst und der Student Artur Popławski (1860—1918), der
auch viele Erfolge in seinem Heimatland Polen erzielte.
Max Pestalozzi, Organisator und Sieger des Ersten Schweizerischen Schachturniers.
Artur Popławski, mit Pestalozzi Co-Sieger im Ersten Schweizerischen Schachturnier.
Die Schachgesellschaft Zürich stand als treibende Kraft hinter dem 1889 frisch
gegründeten Schweizerischen Schachverein. Max Pestalozzi spielte eine hervorgehobene
Rolle, zunächst als Aktuar und später auch als Präsident. In den Jahren 1895,
1903 und 1909 führte die Schachgesellschaft erneut die nationalen Meisterschaften
durch, wobei jedes Mal ein neuer Rekord an Teilnehmern, Preisen oder Dauer erreicht
wurde.
Leon Pasternak — Hans Fahrni
5. Schweizerisches Schachturnier, Zürich, Juni 1895
1. h4 e5 2. g3 Lc5 3. Lg2 d5 4. d3 Df6 5. e3 Se7 6. c3 Sbc6 7. d4 exd4 8.
cxd4 Lb4+ 9. Sc3 Dg6 10. Ld2 Lg4 11. Db3 0-0 12. Lxd5 Sxd5 13. Dxd5 Tfe8 14.
Dc4
14…Dc2 15. Tc1 Dxb2 16. Tb1 Da3 17. d5 Se5 18. Db3 Da6 19. f3 Sd3+ 20. Kd1
Sf2+ 21. Kc1 La3+ 22. Tb2 Df1+ 23. Kc2 Dd3+ 24. Kc1 Lxb2+ 25. Dxb2 Sxh1 26.
fxg4 Df1+ 27. Kc2 Dxg1 0:1.
1909 fiel die Austragung der nationalen Meisterschaft mit dem 100-jährigen Bestehen
der Schachgesellschaft Zürich zusammen. Um den Anlass zu feiern und um Zeit
für ein zusätzliches Bankett zu schaffen, wurde die Dauer des Turniers auf 4
Tage ausgedehnt — zu jener Zeit ein riskantes Unternehmen, waren doch alle
Teilnehmer Amateure und stellte für viele von ihnen die Reise ein sehr seltener
Luxus dar.
Die Jubiläumsschrift der Schachgesellschaft Zürich von 1909. Eine handliche
Broschüre von 55 Seiten.
Ursprünglich hatte der Verein allerdings noch viel grössere Pläne für ein internationales
Turnier geschmiedet. Wegen des Widerstandes anderer Vereine und der Schwierigkeit,
hinreichende Geldmittel aufzutreiben, wurde die Absicht aufgegeben. Sie sollte
freilich einige Jahre später wieder aktuell werden...
Hauptturnier
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
1. M. Henneberger (SK Bern) * 1 ½ – ½ 1 1 – – – 4
2. P. Johner (SK Bern) 0 * 1 1 ½ 1 – – – – 3½
3. W. Henneberger (SK Bern) ½ 0 * ½ 1 – – 1 – – 3
H. Johner (SK Bern) – 0 ½ * – – 1 – ½ 1 3
5. H. Guyaz (CE Genève) ½ ½ 0 – * – ½ – – 1 2½
Ch. Kühne (CE Genève) 0 0 – – – * – 1 ½ 1 2½
J. Martin (Lavey) 0 – – 0 ½ – * 1 1 – 2½
8. P. Raascke (SG Winterthur) – – 0 – – 0 0 * 1 1 2
9. K. Kunz (SG Winterthur) – – – ½ – ½ 0 0 * 0 1
E. Mandl (SG Zürich) – – – 0 0 0 – 0 1 * 1
Obwohl das Turnier damit eine nationale Veranstaltung blieb, zog es einige
internationale Gäste wie Theodor von Scheve und Jacques Mieses an. Sie sahen
ein Ergebnis, das vermutlich bis heute einzigartig in der Geschichte nationaler
Meisterschaften ist: ein "doppelter Doppelsieg", denn es standen zwei Brüderpaare
an der Spitze! Sowohl die Johner-Brüder als auch die Henneberger-Brüder, damals
für Bern am Start, waren über Jahrzehnte herausragende Persönlichkeiten des
Schweizer Schachs. Als Spieler, Komponisten, Autoren und Theoretiker errangen
sie grossen Ruhm. Später wurden aus Hans Johner, Paul Johner und Walter Henneberger
langjährige Mitglieder der Schachgesellschaft Zürich.
Turnierfavorit Paul Johner (1887—1938).
Das Jubiläumsturnier der Schachgesellschaft Zürich wurde erst in der letzten
Runde in einer spannenden Partie zwischen Turnierfavorit Paul Johner und Moriz
Henneberger entschieden:
Paul Johner — Moriz Henneberger
19. Schweizerisches Schachturnier, Zürich (5), 18. Juli 1909
1. e4 e5 2. Sf3 Sc6 3. Lb5 a6 4. La4 Sf6 5. d3 d6 6. c4 Le7 7. h3 0-0 8.
Le3 Ld7 9. Sc3 Se8 10. g4 g6 11. Lh6 Sg7 12. Lxc6 bxc6 13. Dd2 f6 14. 0-0-0
Tf7 15. Tdg1 Dc8 16. Se1 f5? 17. gxf5 gxf5 18. f4! Lf6 19. Sf3 exf4 20. Dxf4
fxe4 21. Sg5 Lxg5 22. Dxg5 Dd8
Der entscheidende Moment der Partie und der Meisterschaft. Das Damenopfer auf
g7 sticht ins Auge, doch scheint Schwarz gerade noch davonzukommen: 23. Dxg7+
Txg7 24. Txg7+ Kh8 25. Sxe4 Dh4! 26. Lg5 Dxe4! oder 23. Dxg7+ Txg7 24. Lxg7
Kf7 25. Ld4!? c5! 26. Tg7+ Ke6 27. Le3 Dh8! 28. Thg1 Tf8 29. Sxe4 Tf1+ etc.
23. Dg2?
Nach langem Überlegen entscheidet sich Johner, seine Dame nicht herzugeben,
doch wählt er den falschen Rückzug. Nach 23. Dd2! mit Deckung des Lh6 wäre Schwarz
in grösster Not gewesen.
23…Df6
Nun gelingt es Henneberger, sich zu befreien. Der Angriff auf den Läufer gewinnt
das nötige Tempo, um den Damentausch zu erzwingen.
24. Lg5 Df3!
25. Sxe4 Dxg2 26. Txg2 Lf5 27. Sf6+ Kh8 28. Kd2 Se6 29. Sh5 Sxg5 30. Txg5
Lg6 31. Te1 Tb8 32. b3 Tbf8 33. Sg3 Tf2+ 34. Te2 c5 35. h4 T8f3 36. h5 Lf7 37.
Ke1 Txe2+ 38. Kxe2 Tf4 39. Ke3 Th4 40. Tf5 Kg7 41. Tf4 Th3 42. Kf2 Th2+
43. Ke3?
Ein schwerer Fehler. Nach 43. Kg1! Txa2 44. Sf5+ Kh8 45. Sxd6 hat Weiss keinerlei
Probleme.
43…Lxh5 44. Sxh5+ Txh5 45. Tf2 Te5+ 46. Kf4 h6 47. a3 a5 48. Tg2+ Kf7 49.
Tb2 Kf6 50. Th2 Tf5+ 51. Ke4
Nach der Zeitnotphase war nun die Zeitkontrolle von 50 Zügen in 2 Stunden erreicht
und das Spiel wurde abgebrochen. Später wurde die Stellung abgeschätzt und der
Punkt Schwarz zugesprochen, der damit das Turnier gewann.
Moriz Henneberger, Sieger des Zürcher Turniers von 1909.
Im nächsten Teil wird nachzulesen sein, wie der älteste Schachclub der Welt
auch in der internationalen Turnierszene bekannt wurde.
Die Schachgesellschaft Zürich feiert ihr 200-jähriges Bestehen mit spektakulären
Turnieren im August 2009, an denen Anand, Kasparow, Kortschnoj und viele
andere Schachlegenden teilnehmen. Die zwei Jahrhunderte Zürcher Schachgeschichte
sind in der soeben erschienenen Jubiläumsschrift anschaulich dargestellt:
Richard Forster: Schachgesellschaft Zürich 1809 bis 2009. Eine helvetische Schachgeschichte
in zwei Jahrhunderten mit einem Personen- und Turnierlexikon. 576 Seiten, mit
über 300 Abbildungen und mehr als 500 Diagrammen, Partien und Fragmenten.
Nähere Informationen zur Bestellung und ein Exzerpt finden sich unter http://www.sgzurich2009.ch/pages/book.php.