50 Schachpartien...(4) Der magische Turm: Wilhelm Steinitz gegen Curt von Bardeleben

von Johannes Fischer
28.04.2017 – Ziel des Schachs ist es, den gegnerischen König Matt zu setzen. Aber die meisten Schachpartien werden nicht durch elegante Mattangriffe, sondern durch materielle Übermacht entschieden. Erst nimmt man dem Gegner die Figuren weg, dann setzt man ihn Matt. Materialopfer setzen diese schnöden Regeln des Materialismus außer Kraft, das macht sie so reizvoll. Manche Opfer wirken sogar beinahe magisch.

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Eines der berühmtesten Beispiele der Schachgeschichte für diese Magie liefert eine Partie zwischen Wilhelm Steinitz und Curt von Bardeleben, die Generationen von Schachspielern verzaubert hat. Gespielt wurde sie am 17. August 1895 in der zehnten Runde des Turniers in Hastings. Nach energischer Eröffnungsbehandlung dringt Steinitz mit seinem Turm auf die siebte Reihe ein und richtet dort Verwüstungen an, obwohl der Turm ungedeckt ist und mehrere Züge lang von Dame und König des Gegners geschlagen werden kann. Zumindest theoretisch.

 
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1.e41,166,62354%2421---
1.d4947,29855%2434---
1.Nf3281,60256%2441---
1.c4182,10256%2442---
1.g319,70256%2427---
1.b314,26554%2427---
1.f45,89748%2377---
1.Nc33,80151%2384---
1.b41,75648%2380---
1.a31,20654%2404---
1.e31,06848%2408---
1.d395450%2378---
1.g466446%2360---
1.h444653%2374---
1.c343351%2426---
1.h328056%2418---
1.a411060%2466---
1.f39246%2436---
1.Nh38966%2508---
1.Na34262%2482---
1.e4 e5 2.Nf3 Nc6 3.Bc4 Bc5 4.c3 Nf6 5.d4 exd4 6.cxd4 Bb4+ 7.Nc3 d5?! Die heutige Theorie hält 7...Nxe4 8.0-0 Bxc3 9.d5 für die kritische Variante. 8.exd5 Nxd5 9.0-0 Be6 10.Bg5 Be7 11.Bxd5 Bxd5 12.Nxd5 Qxd5 13.Bxe7 Nxe7 14.Re1 Durch den Abtausch von drei Leichtfiguren hat sich die Stellung vereinfacht, aber Weiß setzt darauf, dass Schwarz seine Entwicklung noch nicht abgeschlossen hat und der schwarze König noch im Zentrum steht. f6 15.Qe2 Qd7 16.Rac1 c6?!
Besser war 16...Kf7 und diese Stellung halten die Engines tatsächlich für ausgeglichen. Aber natürlich ist es nicht einfach, auf die Rochade zu verzichten. 17.d5! Eine energische Fortsetzung. Weiß räumt das Feld d4 für den Springer. cxd5 18.Nd4 Weiß droht vernichtend 19.Sf5. Kf7 Jetzt muss Schwarz trotzdem auf die Rochade verzichten. 19.Ne6 Mit der Drohung 20.Tc7. Rhc8 Was sonst? Nach 19...Rac8 gewinnt Weiß mit 20.Qg4 z.B. g6 21.Ng5+ Ke8 22.Rxc8+ Qxc8 23.Qxc8# Und nach 19...Nc6 20.Nc5 Qc8 gewinnt Weiß mit 21.Qh5+ z.B. g6 22.Qxd5+ mit vernichtendem Angriff. 20.Qg4 g6 21.Ng5+ Ke8
Den Springer kann Schwarz wegen seiner ungedeckten Dame auf d7 natürlich nicht nehmen. 22.Rxe7+! Ein starker Zug, der allerdings mehr Berechnung erforderte, als es zunächst scheint. Kf8 Aber der Partiezug 22...Kf8 stellt Weiß tatsächlich vor Probleme: die Dame auf g4 hängt, der Springer hängt, der Turm auf e7 sowieso, außerdem droht Schwarz auch noch, den Turm auf c1 zu nehmen - und die weiße Grundreihe ist schwach. Was soll Weiß machen? 22...Kxe7 23.Re1+ Kd6 gewinnt Weiß mit dem Damenschwenk 24.Qb4+ z.B. Rc5 Nach 24...Kc6 folgt 25.Rc1# und nach 24...Kc7 25.Ne6+ Kb8 26.Qf4+ Rc7 27.Nxc7 Qxc7 setzt Weiß mit 28.Re8# Matt. 25.Re6+ und Weiß gewinnt Haus und Hof. 23.Rf7+! Der Turm bleibt auf der siebten Reihe und gibt weiter Schach! Kg8 Auch auf f7 kann der Turm nicht genommen werden: 23...Qxf7 24.Rxc8+ Rxc8 25.Qxc8+ Qe8 26.Nxh7+ und Weiß verbleibt mit einer Mehrfigur. 24.Rg7+!
Eine phantastische Stellung. Der weiße Turm richtet weitere Verwüstungen auf der siebten Reihe an und kann wieder nicht geschlagen werden. 24...Kh8 Nach 24...Kf8 gewinnt Weiß mit 25.Nxh7+ Kxg7 26.Qxd7+ 25.Rxh7+ Hier endete die Partie. Statt in aller Form aufzugeben, stand Curt von Bardeleben, der die schwarzen Steine führte, auf, und verließ ohne weitere Erklärungen den Turniersaal. Er kam auch nicht zurück, sondern ließ seine Zeit ablaufen und brachte sich so in den Ruf, einer der schlechtesten Verlierer der Schachgeschichte zu sein. Wie er hinterher erklärte, störte ihn der Applaus, der immer wieder aufbrandete, wenn eine der Partien des Turniers zu Ende gegangen war. Wahrscheinlich wollte er vor allem nicht dabei sein, wenn die Zuschauer das Ende dieser Partie bejubelten. Denn er wusste, wie die Partie zu Ende gehen würde. Genau wie Steinitz. Der frühere Weltmeister wartete, bis die Zeit seines Gegners abgelaufen war, dann zeigte er, wie er von Bardeleben Matt setzen wollte: 25.Rxh7+ Kg8 26.Rg7+ Kh8 27.Qh4+ Kxg7 28.Qh7+ Kf8 29.Qh8+ Ke7 30.Qg7+ Ke8 31.Qg8+ Ke7 32.Qf7+ Kd8 33.Qf8+ Qe8 34.Nf7+ Kd7 35.Qd6#
1–0
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Steinitz,W-Von Bardeleben,C-1–01895C54Hastings International Masters10

Eine phantastische Partie, die Steinitz für die beste Leistung seines Lebens hielt. Berühmt wurde Steinitz allerdings weniger durch solche brillanten Angriffe, sondern als Begründer des Positionsspiels und durch seine Erkenntnis, dass viele der zu seiner Zeit üblichen stürmischen Opferangriffe überstürzt waren und bei guter Verteidigung keinen Erfolg gehabt hätten.

Geboren wurde Steinitz am 17. Mai 1836 in Prag, etwas über ein Jahr vor Paul Morphy, der am 22. Juni 1837 in New Orleans zur Welt kam. Zu Beginn seiner Schachkarriere nannte man Steinitz gerne den „österreichischen Morphy“, denn er verfügte über hervorragende taktische Fähigkeiten und spielte im Stile seiner Zeit eine ganze Reihe opferfreudiger Angriffspartien. Ein Beispiel:

 
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1.e4 e5 2.Nc3 Nf6 3.f4 d5 4.d3 dxe4 5.fxe5 Ng4 6.Nxe4 Nxe5 7.d4 Ng6 8.Nf3!?
Ein zweischneidiger Zug, der ein Figurenopfer vorbereitet. 8...Qe7? Schwarz nimmt die Einladung an und vernachlässigt seine Entwicklung, um Material zu gewinnen. Interessanterweise beurteilen moderne Engines die Stellung nach dem weißen Figurenopfer bereits als verloren für Schwarz. Mit 8...Be7 mit etwas besserer Stellung für Weiß konnte er den Schaden begrenzen. 9.Bd3 f5 10.Bg5 Qe6 11.0-0 fxe4 12.Bxe4 Bd6 Nach 12...Qxe4 13.Re1 Qe7 14.Qd3 sind die weißen Figuren einfach zu aktiv, z.B. Nd7 15.Bxe7 Bxe7 16.Ng5 und Weiß hat vernichtenden Angriff. 13.Ne5 Bxe5 14.dxe5 Nd7 15.Qh5 Weiß hat eine Figur weniger, aber Schwarz ist nicht entwickelt und der schwarze König steht sehr gefährdet. Ndf8 16.Rad1 Bd7 17.h3
Bemerkenswert ist an dieser Partie unter anderem, wie Weiß trotz der geopferten Figur nichts überstürzt und in Ruhe seine Stellung verstärkt. 17...Rg8 18.Kh1! Ein prophylaktischer Zug, der gegen ein mögliches Damenschach auf b6 gerichtet ist. Qb6 19.e6! Mit diesem Bauernopfer öffnet Weiß Linien für seine Türme. Bxe6 20.Rd2 a5 21.b3 a4 Schwarz ist erstaunlich hilflos. 22.Rfd1 Bd7 23.Rxd7! 27 Weiß krönt seinen Angriff mit einer kleinen Kombination. Nach 23....Sxd7 24.Lxg6+ Dxg6 25.De3+ wird der schwarze König bald Matt gesetzt.
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Steinitz,W-Neumann,G-1–01870C29Baden-Baden9

Dieser hübsche Sieg gelang Steinitz im Turnier in Baden Baden 1870, in dem er Platz zwei hinter Adolf Anderssen belegte. Für Steinitz eine Enttäuschung, denn nach Wettkampfsiegen gegen die besten Spieler seiner Zeit galt er damals bereits als bester Spieler der Welt. 1866 gewann er 8:6 (kein Remis) gegen Anderssen und im gleichen Jahr besiegte er Henry Edward Bird mit 9,5:7,5. 1870 demolierte er Joseph Henry Blackburne mit 5,5:0,5 und 1872 schlug er Johann Hermann Zukertort mit 9:3. In Turnieren war Steinitz allerdings nicht ganz so überlegen. In Paris 1867 belegte er den dritten Platz hinter Ignaz von Kolisch und Gustav Neumann und auch in Dresden 1867 musste er Neumann den Vortritt lassen und mit dem zweiten Platz vorlieb nehmen.

Der für ihn enttäuschende zweite Platz in Baden-Baden brachte Steinitz dazu, sein Spiel zu überdenken. Danach spielte er vorsichtiger, positioneller und erfolgreicher. 1886 trat Steinitz nach vielen Querelen im Vorfeld zu einem Wettkampf gegen Zukertort an – dem ersten offiziellen Weltmeisterschaftskampf der Schachgeschichte.

Zeitgenössische Aufnahme des Wettkampfs zwischen Steinitz (rechts) und Zukertort (links)

Nach fünf Partien lag Steinitz mit 1:4 zurück, aber am Ende gewann er überzeugend mit 10:5 (fünf Partien endeten Remis) und wurde der erste Weltmeister der Schachgeschichte. In diesem Wettkampf zeigte Steinitz mehr positionelles Verständnis als sein Gegner. Die folgende Partie ist typisch.

 
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1.d4 d5 2.c4 e6 3.Nc3 Nf6 4.Nf3 dxc4 5.e3 c5 6.Bxc4 cxd4 7.exd4 Jetzt ist eine klassische Stellung mit isoliertem Damenbauern entstanden. Der Damenbauer ist eine Schwäche, aber die weißen Figuren stehen aktiver. Vereinfacht ausgedrückt setzt Weiß auf dynamisches Figurenspiel, während Schwarz versucht, die Stellung mit dem Tausch von Leichtfiguren zu vereinfachen und ein vorteilhaftes Endspiel zu erreichen. Be7 8.0-0 0-0 9.Qe2 Nbd7 10.Bb3 Nb6 11.Bf4 Nbd5 12.Bg3 Qa5 13.Rac1 Bd7 14.Ne5 Rfd8
Steinitz spielt prinzipiell. Er bringt den Turm in die d-Linie, um Druck auf den Bauern d4 auszuüben und den Punkt d5 zu stützen. 15.Qf3?! Moderne Engines spielen nicht prinzipiell, sondern konkret. Und sehen Weiß hier nach 15.f4 klar im Vorteil. Aber Engines hin oder her - wie die Partie zeigt, hat Steinitz die Prinzipien der Stellung besser verstanden als sein Gegner. 15...Be8 16.Rfe1 Rac8 17.Bh4 Nxc3 18.bxc3 Qc7 19.Qd3 Nd5 20.Bxe7 Qxe7 21.Bxd5 Rxd5 22.c4 Rdd8 23.Re3?! Weiß setzt auf Angriff, aber dafür ist seine Stellung einfach nicht gut genug. Qd6 24.Rd1 f6 25.Rh3
25...h6! Steinitz will gar nicht wissen, ob das weiße Springeropfer korrekt ist, sondern pariert die weißen Drohungen, um im weiteren Verlauf der Partie die weißen Bauernschwächen auf c4 und d4 auszunutzen. 26.Ng4 Qf4 27.Ne3 Ba4 28.Rf3 Qd6 29.Rd2 Bc6 30.Rg3 f5 Spätestens jetzt diktiert Schwarz das Geschehen. Die weißen Figuren stehen unharmonisch und Weiß geht an der Schwäche seiner Zentrumsbauern zugrunde. 31.Rg6 Be4 32.Qb3 Kh7 Der weiße Turm hat sich verirrt und Schwarz steht auf Gewinn. Weiß versucht noch ein paar Tricks, aber die helfen ihm nicht. 33.c5 Rxc5 34.Rxe6 Rc1+ 35.Nd1 Qf4 36.Qb2 Rb1 37.Qc3 Rc8 38.Rxe4 Qxe4 Nach 38...fxe4 39.Qxc8 Qxd2 40.Qf5+ rettet sich Weiß tatsächlich in ein Dauerschach. Aber nach dem Textzug steht Weiß auf Verlust.
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Zukertort,J-Steinitz,W-0–11886D26World-ch01 Steinitz-Zukertort +10-5=59

Seine Glanzpartie gegen von Bardeleben spielte Steinitz zum Ende seiner Karriere. Ein Jahr zuvor, 1894, hatte er seinen Weltmeistertitel an Emanuel Lasker verloren, fünf Jahre später, am 12. August 1900 starb er nach einer Reihe von Anfällen geistiger Verwirrung als armer Mann im New Yorker Staatsirrenhaus Wards-Island an Herzversagen.

50 Partien, die jeder Schachspieler kennen sollte

1. McDonnell - Labourdonnais
2.Die Unsterbliche: Adolf Anderssen - Lionel Kieseritzky
3. Paul Morphy: Einfach, kraftvoll, stark

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"Berliner Fenstersturz - das tragische Ende eines Exzentrikers" - Unter diesem Titel liefert Michael Negele auf der Webseite des Deutschen Schachbundes einen ausführlichen und informativen Überblick über das Leben von Curt von Bardeleben.


Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".

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