Der Schachboom in Indien: Gespräch mit Ramesh (II)

von Thorsten Cmiel
03.10.2019 – Während des Opens von Abu Dhabi fand Thorsten Cmiel Gelegenheit, mit dem indischen Trainer R.B. Ramesh ein längeres Gespräch zu führen. Man erfährt, was alles in Indien passiert. Außerdem erhellte sich der Zusammenhang von Mondlandungen mit den Erfolgen im Schach.

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Indien: Hightech- und Schachnation

Gespräch mit Ramesh (Teil 2) über Indiens Ambitionen

Kurz vor unserem Gespräch hatte Indien eine unbemannte Raumsonde zum Mond geschickt. Nach den USA, Russland und China wäre Indien die vierte Nation, der eine Mondlandung gelänge – die Ankunft ist im September 2019 geplant. Es mache Inder stolz, wenn wieder etwas erreicht sei, so Ramesh. Im Gespräch wird mir immer wieder klar, wie wichtig für Inder Vorbilder und internationale Erfolge sind. Die indische Gesellschaft ist ambitioniert in vielerlei Hinsicht und bereit aufzuholen. Es scheint jedoch ebenfalls eine Mentalitätsfrage für Inder zu sein, bei Rückschlägen schnell an Selbstvertrauen zu verlieren.

Weltweiter Wettbewerb

Längst tobt ein weltweiter Wettbewerb um den Titel der Welthaupstadt im Schach. Ist es St. Louis, weil dort ein Finanz-Milliardär der Weltelite ein schickes Domizil gestiftet hat? Oder ist es immer noch Moskau in dem jedes Jahr das stärkste Open der Welt stattfindet? Vielleicht ist die eigentliche Hauptstadt des Schachs allerdings eine Stadt in Indien? Wie wäre es mit der Stadt in der Ramesh seine Schachschule eröffnet hat?

Chennai ist unzweifelhaft eine Schachhochburg. Das liegt vor allem an Vishy Anand, der seit etwa zehn Jahren wieder in seiner Geburtsstadt lebt und 2007 indischer Sportler des Jahres wurde. Anands erster besonders wichtiger Erfolg war 1987 der Gewinn der Juniorenweltmeisterschaft U20. Großmeister wurde er 1988; inzwischen erhält man den Titel eines Großmeisters automatisch, wenn man Juniorenweltmeister wird. Anand, geboren 1969, qualifizierte sich 1990 für das Kandidatenturnier. 1995 spielte Anand gegen Kasparow erstmals um die Weltmeisterschaft. Das Match fand im Südturm des World Trade Centers statt. Im Jahr 2000 gelang Anand der Gewinn des Fide-Weltmeister-Titels. 2007 dann errang er in Mexico-City den (echten) WM-Titel, den er 2013 nach drei vorherigen Titelverteidigungen (gegen Kramnik, Topalow und Gelfand) letztlich 2013 gegen Magnus Carlsen abgab. Gespielt wurde dieses Match in Chennai. Chennai ist mit knapp 9 Millionen Einwohnern die Hauptstadt der Region Tamil Nadu und ein beliebtes Reiseziel. Die Bevölkerung von Tamil Nadu macht mehr als 72 Millionen Einwohner aus und ist eine der reicheren Provinzen Indiens. An europäischen Maßstäben gemessen ist die gesamte Region Tamil Nadu allerdings nicht sehr fortgeschritten (das Pro-Kopf-Inlandsprodukt liegt bei 2700 $). Chennai hieß früher Madras, weshalb Vishy Anand den Beinamen „Tiger von Madras“ erhielt.

Vorbilder für Indien

Es ging in den 90er-Jahren darum, im indischen Schach den Spielern die Zuversicht zu geben, dass Inder gute Leistungen erbringen können. Lange Zeit gab es in Indien nur ein internationales Schachturnier und die ersten Plätze wurden zuverlässig von ausländischen Teilnehmern abgeräumt. So kamen beispielsweise Spieler aus Russland mit einer besseren Rating und indische Spieler verloren meistens ohne Chance gegen diese Spieler, weil es ihnen an Selbstvertrauen und Zuversicht fehlte. Es klingt bei Ramesh als hätten Inder noch in den 90er-Jahren ein Mentalitätsproblem gehabt. Als Ramesh selbst die Bayrische Meisterschaft mitspielte, wurde er gefragt, weshalb er dort mitspiele. Inder galten offenbar aus Sicht anderer Nationen als nicht genügend wettbewerbsfähig. Zumindest hat er die Frage so interpretiert. Heute, in Zeiten in denen indische Delegationen nach Turnieren im Ausland oft mit tausenden Rating-Punkten mehr im Gepäck zurückfahren, ist diese Sichtweise fast unvorstellbar. Beim aktuellen Worldcup sind zehn von 128 Teilnehmern aus Indien und kein Gegner wird sie unterschätzen. Sicher.

Junge Schachspieler als Vorbilder

Indien hat eine Bevölkerungszahl wie ein Kontinent. Zuletzt wurde die Zahl der Inder im Land auf 1,368 Milliarden Einwohner geschätzt. Dadurch ist Indien bei etwas Euphorie natürlich rein zahlenmäßig eine potentielle Fundgrube für viele Talente in jeder Sportart oder Wissenschaft. Tatsächlich gibt es inzwischen unterhalb der Riege der Topspieler Schulschachaktivitäten mit unvorstellbaren Teilnehmerzahlen. Zuletzt kamen neue Großmeister fast im Monatsrhythmus hinzu. Der letzte aktuelle und 64. indische Großmeister ist der 15jährige Prithu Gupta, kurz Prit.

Tatsächlich zeigt ein Blick in die Teilnehmerliste der kürzlich gespielten Kadetten-Weltmeisterschaften (U8-U12) in China, dass dort vor allem Nationen wie China, die USA und Indien die größten Delegationen stellen. Allerdings sprang diesmal kein Podiumsplatz für Indien heraus. Die erfolgreichsten Nationen waren Russland, China und die USA. Interessanterweise die drei Nationen, die vor Indien auf dem Mond gelandet sind.

Der Blick auf die stärksten, etwas älteren Jugendlichen der Geburtsjahrgänge 2003 bis 2007, also Teens im Alter von 12 bis 16, zeigt eine indische Dominanz in der Spitze. Acht von 15 der zurzeit (September-Liste 2019) stärksten Jugendlichen sind aus Indien. Auch eines der in der Zukunft vielleicht größten Talente ist indischstämmig.

Indische Dominanz im Jugendschach

Schauen wir auf die Welt-Top3-Spieler der Geburtsjahrgänge 2003 bis 2007, also Jugendliche, die in diesem Jahr 12 bis 16 Jahre alt werden, an.

Mit dem Geburtsjahr 2009 führt übrigens ein indischstämmiges Kind die Weltrangliste mit 2377 an.

Eine Geschichte über ein Talent indischer Abstammung, das für die USA spielt.

Nationalheld und Inspiration für die jüngere Generation

Der erste indische Schachgroßmeister und spätere Weltmeister, Vishy Anand, ist überregional und auch außerhalb der Schachszene in Indien bekannt. Eine große Inspiration war zudem beispielsweise Harikrishna, der Leute in seiner Region motivierte. Harikrishna, inzwischen in der erweiterten Weltspitze (aktuell im September 2019 Nummer 16) angekommen, war 2004 Juniorenweltmeister und ist einer der ersten Spieler, die früh von Ramesh gecoacht und trainiert wurden. Jetzt ist Ramesh erneut sein Coach in der Nationalmannschaft. Heutzutage sind die Kids Nihal, Pragg und Gukesh eine Inspiration für die jüngere Generation.

Anand nimmt seine Aufgabe als nationaler Hero und Idol offenbar gerne wahr und lädt immer wieder Junggroßmeister zu sich nach Hause ein. ChessBase India veröffentlichte dazu schon mehrere Beiträge: 

https://chessbase.in/news/Vishy-Anand-Sports-Illustrated

https://chessbase.in/news/Prithu-Gupta-visits-Vishy-Anand

https://chessbase.in/news/Gukesh-and-Pragg-at-Anand-s-house

Sponsoring

Die Teilnahme an internationalen Turnieren ist teuer: Zu den hohen Reisekosten aus Indien addieren sich die Kosten der Unterbringung. Immer wieder überrascht mich der Erfindungsreichtum der Inder bei der Finanzierung. Die Regierung sponsert beispielsweise die Reisekosten für einige Top-Jugendliche. Als ich an der Rezeption im Hotel in Abu Dhabi anstehe, sagt die Frau an der Rezeption zu einem indischen Delegationsleiter, der mit einem Dutzend Jugendlichen angereist ist, dass die Rechnung bereits von einem Unternehmen beglichen wurde. Erfreulich denke ich mir.

Für einen inzwischen etwas älteren Schüler von Ramesh, Chitambaram Aravind, fanden sich bei einer Crowdfunding-Aktion private Sponsoren für dessen Reisekosten.

Praggnanandhaa hat sich ein vierjähriges Stipendiat aus den USA erspielt, das seine Reise- und Trainingskosten covern soll. Zudem prangt auf seinem Anzug das Logo des Sponsors Ramco, einem Softwareunternehmen, das auch die Nationalmannschaft unterstützt. 

Anfang September 2019 schloss Nihal einen offenbar sehr gut dotierten Sponsorenvertrag ab mit einer Molkerei.

Gukesh, der zweitjüngste Großmeister aller Zeiten, scheint ebenfalls Sponsoren zu finden.

Einen wichtigen Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit Indiens leistet auch der unermüdliche Sagar Shah, der Chefredakteur bei Chessbase India. Zuletzt meldete er, dass ein Container mit Büchern verschiedener Verlage in Indien angekommen ist. Die Bücher gibt es mit Rabatten für Inder, da die Preise sonst für viele seiner Landsleute nicht erschwinglich wären. Rabatte gibt es ebenfalls für Produkte von ChessBase.

Eine aktuelle Aktion war ein Trainingslager mit Vladimir Kramnik in Frankreich bei dem Sagar und Frederic Fiedel, einer der Gründer von ChessBase, eine Idee umgesetzt haben. Auch für diese Veranstaltung fand sich ein indischstämmiges Unternehmen als Sponsor.

 


Thorsten Cmiel ist Fide-Meister lebt in Köln und Milano und arbeitet als freier Finanzjournalist.

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