Die indischen Talente in Gibraltar (2)

von Thorsten Cmiel
07.02.2018 – Indien erlebt einen Schachboom. Der erste Großmeister, den das Land hervorgebracht hat, war Vishy Anand. Er erhielt den Titel 1988, vor 30 Jahren. Mittlerweile hat Indien 50 Großmeister und eine ganze Reihe herausragender Talente. Drei der größten dieser Talente spielten auch beim Tradewise Open in Gibraltar mit. Thorsten Cmiel hat ihr Spiel beobachtet. (Foto: Gupta Pritha © John Saunders)

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Vishy Anand gilt als eines der größten Schachtalente aller Zeiten. Er ist der 15. Weltmeister der Schachgeschichte und war auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn auch im Schnell- und Blitzschach kaum zu besiegen. Auf dieser DVD spricht er über seine Laufbahn und präsentiert und analysiert die besten Partien seiner Schachkarriere bis zum Gewinn des Weltmeistertitels 2007 (in englischer Sprache).

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Wie es mit den drei indischen Talenten in Gibraltar weiterging

Der erste Teil dieser zweiteiligen Artikelreihe beschäftigte sich mit dem Spiel und dem Abschneiden der jungen indischen Talente Gupta Prithu, Nihal Sarin und Rameshbahu Praggnanandhaa beim Tradewise Open in Gibraltar. In Gibraltar wurden zehn Runden gespielt, der erste Artikel warf einen Blick auf die Situation nach fünf Runden. Mittlerweile ist das Open zu Ende gegangen (Levon Aronian gewann im Stichkampf) und es ist Zeit für eine Analyse des Spiels und der Ergebnisse der indischen Talente in den Runden sechs bis zehn.

Gupta Prithu, genannt "Prit"

"Prit" spielt erst seit vier Jahren Schach und ist nach dem Turnier in Gibraltar bereits Internationaler Meister. Nach fünf Runden war er mit (+2) bei vier Partien gegen starke Großmeister auf einem guten Weg in Richtung seiner ersten Großmeister-Norm, die ihm zugleich den Titel Internationaler Meister einbringen würde. In Runde 6 folgte dann ein recht ereignisarmes Unentschieden gegen Rasmus Svane (2595). In der siebten Runde spielte Prit mit Schwarz einen offenen Spanier, sein Gegner (GM mit 2553) griff zweimal fehl und Prit überspielte seinen Gegner im großen Stil, verpasste dann jedoch die Chance auf einen Sieg und die Partie endete Unentschieden. Ungenaues Spiel führte dazu, dass er gegen seinen nächsten Großmeister (wieder 2553) verlor. In Runde 9 kam es dann zu einer Begegnung mit einem Internationalen Meister (2492) aus Norwegen, den Prit besiegen konnte. Er hatte dadurch mit einer Performance von 2616 seine erste GM-Norm (mit +2) in der Tasche. In der letzten Runde musste er noch gegen seinen Landsmann Babu Lalith ran. Gegen eine Caro-Kann-Verteidigung holte er nichts aus der Eröffnung und verlor nach einem etwas gröberen Fehler. In der Februarliste hatte Prit eine Elo von 2373.

Partien

 

Der Gegnerschnitt von Gupta Prithu in Gibraltar betrug 2534. Er spielte in zehn Runden gegen sieben Großmeister, holte wie Pragg 5,5 Punkte und kam auf eine Performance von 2570. Das Turnier bringt ihm einen Ratingzuwachs von 50 Punkten.

Prithu Gupta nach seinem Sieg in Runde 9: "Die Luft ist raus."

Eröffnungen und was wir gesehen haben

Prit pflegt einen sehr aktiven Spielstil, bei dem er Risiken in Kauf nimmt. In der Regel spielt er 1.e2-e4 und greift danach gerne den gegnerischen König in komplexen Stellungen an – wie man das von einem Youngster erwarten kann. Allerdings wird er sich gegen die Caro-Kann-Verteidigung nach diesem Turnier vermutlich ein solideres Repertoire suchen müssen.

Mit Schwarz spielte Prit gegen 1.e4 in diesem Turnier vor allem den klassischen Zug e7-e5. Er ist jedoch jederzeit für einen Najdorf-Sizilianer gut, wie er gegen Anna Muzychuk zeigte. In der kleinen Datenbasis, die wir von dem Inder haben, finden sich zwei Versuche mit Französisch. Einmal kam 1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sd2 h6!? aufs Brett. Auch mit dem Paulsen-Sizilianer hat er schon experimentiert. Es ist nicht verwunderlich, dass ein Spieler mit einer Erfahrung von gerade einmal vier Jahren noch kein festes Repertoire hat. Zurzeit ist das sicherlich noch ein Vorteil, weil die Gegner sich auch nicht vorbereiten können. Dauerhaft wird er vermutlich sein Repertoire weiter stabilisieren müssen.

Was sonst aufgefallen ist

Anders als Pragg und Nihal scheint Prit keine Probleme mit der Uhr zu haben. Bei ihm ist es eher andersrum. In der siebten Runde brachte er nicht die notwendige Ruhe und Disziplin auf, seine Partie durch einen relativ einfachen Schlag zu gewinnen. Er hat in seiner Entscheidungspartie in Runde 9 Nerven wie Drahtseile gezeigt. Es gab neben dem üblichen Glück, das jeder außer Magnus Carlsen in einem Turnier benötigt, bei Prit dramatische Momente, die seine außergewöhnliche Spielstärke zeigen.

Nihal Sarin

Nihal Sarin in Gibraltar (Foto: Sophie Triay)

Die erste Hälfte des Turniers war an Nihal komplett vorbei gelaufen. Einige seiner Gegner hatten viel zu niedrige Elo-Zahlen und so lag Nihal zur Mitte des Turniers bei der 50 Prozent-Marke. Doch in der sechsten Runde kam Nihal das Glück zur Hilfe und er gewann eine zeitweise verlorene Stellung gegen Dominik Horvath (2329) aus Österreich, Jahrgang 2003. Allerdings ist unklar, ob die Spieler diese Wende in Zeitnot überhaupt bemerkt haben. Dieser Sieg änderte alles. In der nächsten Partie gewann Nihal gegen das deutsche Jungtalent Vincent Keymer (2408), Jahrgang 2004, eine ordentliche Partie. Dann folgte Nihals erste Partie gegen einen Großmeister. Er gewann gegen Kiril Georgiev (2623) mit den weißen Steinen. Nach einem Remis gegen seinen Landsmann Chanda Sandipan (2579) kam in der letzten Runde ein Unentschieden gegen Rasmus Svane, Nihals dritter Großmeister (2595) in diesem Turnier. Durch seine erfolgreiche zweite Turnierhälfte konnte Nihal seinen Gegnerschnitt noch auf 2413 verbessern. Er erspielte fast genau seine Rating bei diesem Turnier (2523) und kam auf 6,5 Punkte (+3). In der Februarliste hatte Nihal 2532 – ohne Gibraltar.

Partien

 

Nihal nach seinem Sieg gegen Kiril Georgiev

Eröffnungen

Nihal spielt meist den Damenbauernzug, ist aber auch bereit, sich auf ein offenes Spiel einzulassen. Bemerkenswert: Nihal scheint mit seinen Gegnern gerne psychologische Spielchen zu treiben. So begann Nihal gegen Rasmus Svane mit dem bei ihm seltenen 1.c4, aber kam dann doch zu seinem bevorzugten Aufbau gegen den Nimzoinder. Der Eindruck bleibt, dass Nihal sich konkret auf seine Gegner vorbereitet und versucht, seine gewünschte Stellung auf das Brett zu bekommen. Mit Schwarz strebt er eine solide Aufstellung an. In einem früheren Interview hatte Nihal erwähnt, dass er Königsindisch im Repertoire habe, wofür allerdings bislang Belege fehlten. Doch in diesem Turnier spielte er gegen einen starken Spieler aus Indien tatsächlich eine der Hauptvarianten im Königsinder.

Was sonst aufgefallen ist

Nihal hat im Vergleich zu dem Turnier in London Fortschritte bei seinem Bedenkzeitverbrauch gemacht. Allerdings fehlten ihm in der ersten Hälfte die deutlich stärkeren Gegner. Insgesamt wirkt Nihal auch wegen seines soliden Eröffnungsrepertoires am stabilsten von den drei Youngstern. Der Vater von Nihal Chessbase India Anfang des Jahres ein Interview. Darin wird deutlich, welche Probleme Eltern eines Jugendtalents im Schach zu meistern haben. Der Vater wirkt sehr positiv auf seinen Sohn ein, indem er ihn nicht pusht und nach Niederlagen in Ruhe lässt. Vielleicht ist es sein Vorteil, dass die Eltern von Nihal selbst nicht Schach spielen.

Chessbase India Video - der Vater von Nihal

Pragg

Rameshbabu Praggnanandhaa, genannt "Pragg", wurde am 10. August 2005 in Chennai geboren (Foto: Sophie Triay)

Pragg ist der jüngste der drei großen indischen Talente – er wird im August 13 Jahre alt. In Runde 6 gewann Pragg seine Partie gegen den Holländer Eric De Haan (2304), der auf eine IM-Norm hoffte. Danach folgte ein überzeugender Sieg gegen den indischen Großmeister Gopal (2593). Doch in Runde 8 verpasste ihm sein Landsmann Sethuraman (2646) einen Knockout und danach brauchte Pragg in den letzten zwei Runden zwei Siege gegen starke Großmeister, um eine Großmeisternorm zu machen. Doch nach einem Remis in Runde 9 gegen den Kroaten Marin Bosiocic (2628) waren die Normträume ausgeträumt. In der letzten Runde spielte Pragg dann gegen seinen fünften Großmeister: Benjamin Gledura aus Ungarn (2612). Pragg verlor recht schnell.

Partien

 

Pragg wirkte in Gibraltar überspielt. Man sollte beachten, dass Pragg nach Stockholm (27. Dezember bis 5. Januar) ein Rundenturnier in Charlotte, North Carolina, einschob. Das GM-Norm-Turnier mit neun Runden wurde an nur fünf Tagen, vom 11. bis zum 15. Januar, gespielt. Am 23. Januar ging es in Gibraltar weiter. Pragg ist zwölf Jahre alt und jettet derzeit von einem Turnier zum nächsten. Vielleicht war die derbe Niederlage am Schlusstag in Gibraltar ein Warnzeichen für alle Beteiligten, dass eine weitere Rekordjagd und Turnierhetze der schachlichen Entwicklung des Jungen nicht helfen wird, im Gegenteil. In manchen, allerdings nur wenigen Situationen, hatte Pragg in Gibraltar neben seinen dramatischen Niederlagen auch das Glück des Tüchtigen.

Zurück zum Turnier: Praggs Gegnerschnitt lag nach der erhofften Leistungssteigerung in der zweiten Hälfte bei 2470. Für eine Großmeisternorm wäre ein Ergebnis von +4 notwendig gewesen. Pragg erspielte bei 5,5 Punkten (+1) eine Performance von 2506.

Eröffnungen

Der überzeugende Sieg gegen Gopal zeigt das bereits ausgeprägte Spielverständnis von Pragg. In der Eröffnung versucht er oft, einfach nur eine spielbare Stellung zu erhalten. Vermutlich sollte er an seinem Repertoire arbeiten, statt unsinnige Turniere zu spielen. Gegen 1.e2-e4 musste Pragg zuletzt empfindliche Niederlagen im Spanier einstecken, vielleicht tut ihm ein hier eine Erweiterung seines Repertoires gut. Nihal beispielsweise setzt seine Gegner schon in der Eröffnung gerne unter Druck, auch wenn er dabei manchmal nur blufft. Es wäre interessant zu sehen, wie Großmeister reagieren würden, wenn Pragg sie mit ihrem eigenen Repertoire konfrontieren würde.

Schlussbetrachtung

Insgesamt spielten die drei indischen Talente in Gibraltar sehr stark. Jeder von ihnen gewann mindestens eine Partie gegen einen Großmeister. Die letzte Runde von Prit sollte man getrost vergessen. Bei ihm war die Spannung seit der Vorschlussrunde raus. Nihal wirkt derzeit am stabilsten, auch wenn er durch den missglückten, zu vorsichtigen Turnierstart keine Chancen auf eine Norm hatte. Pragg wird an seinem Repertoire arbeiten müssen. Spielen die drei in diesem Jahr noch einige Turniere – und Pragg hoffentlich nicht zu viele -, dann werden vermutlich mindestens zwei von ihnen dieses Jahr noch Großmeister werden.


Thorsten Cmiel ist Fide-Meister lebt in Köln und Milano und arbeitet als freier Finanzjournalist.

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