Die Kandidatenturniere 1950, 1953 und 1956: Geschichten und Partien

von Johannes Fischer
06.03.2018 – Am 9. März beginnt das Kandidatenturnier 2018 in Berlin, der Gewinner spielt im November gegen Magnus Carlsen um die Weltmeisterschaft. Das Turnier in Berlin verspricht ein Schachfest zu werden, denn die Kandidatenturniere waren immer besondere Turniere und sie haben Schachgeschichte geschrieben - mit Skandalen, Dramen und brillianten Partien. Zeit für einen Rückblick.

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Die Kandidatenturniere 1950, 1953 und 1956

Das Kandidatenturnier Budapest 1950

Das erste Kandidatenturnier fand 1950 in Budapest statt. Zehn Teilnehmer spielten doppelrundig Jeder-gegen-Jeden, Regie führte die FIDE. Vorher war der Weltmeistertitel Privatsache gewesen, und der amtierende Weltmeister konnte sich aussuchen, gegen wen er seinen Titel wann aufs Spiel setzen wollte. Doch 1946 war Alexander Aljechin als amtierender Weltmeister gestorben und die FIDE übernahm die Organisation der Weltmeisterschaften. Das begann mit dem Weltmeisterschaftsturnier in Moskau und Den Haag 1948, in dem Mikhail Botvinnik neuer Weltmeister wurde. In Zukunft, so die Idee, sollte der Weltmeister seinen Titel alle drei Jahre verteidigen, aber nicht gegen einen Spieler seiner Wahl, sondern gegen den Sieger der Kandidatenturniere, in denen die besten Spieler der Welt gegeneinander antraten.

Doch das erste Kandidatenturnier wurde nicht nur durch starkes Spiel entschieden. Nach 18 Runden teilten sich Isaak Boleslavsky und David Bronstein mit je 12,0/18 Platz eins, aber wie Bronstein später zugab, war die Schlussphase des Turniers manipuliert. Zwei Runden vor Schluss lag Boleslavsky noch mit einem Punkt Vorsprung auf Bronstein alleine in Führung, aber dann drosselte er das Tempo und machte zwei kurze Remis – in Runde 17 gegen Alexander Kotov, in Runde 18 gegen Gideon Stahlberg, einen der schwächeren Teilnehmer. Damit konnte Bronstein gleichziehen. Er gewann in Runde 17 gegen Stahlberg und besiegte in der Schlussrunde Paul Keres:

 

Abschlusstabelle

Rg. Titel Name Land 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Pkt.
1 GM David Ionovich Bronstein
 
  ½½ 10 11 01 ½½ 12.0 / 18
2 GM Isaak Boleslavsky
 
½½   ½½ ½½ ½½ ½1 11 12.0 / 18
3 GM Vassily V Smyslov
 
01   ½½ ½1 10 ½1 ½½ ½½ 10.0 / 18
4 GM Paul Keres
 
½½ ½½   ½½ 10 ½1 ½½ ½1 ½½ 9.5 / 18
5 GM Miguel Najdorf
 
00 ½½ ½0 ½½   ½½ ½½ 11 ½1 ½½ 9.0 / 18
6 GM Alexander Kotov
 
01 ½½   ½1 10 10 ½1 8.5 / 18
7 GM Gideon Stahlberg
 
10 ½½ 01 ½0 ½½ ½0   ½½ ½½ ½½ 8.0 / 18
8 GM Andor Lilienthal
 
½½ ½0 ½½ 00 01 ½½   01 ½½ 7.0 / 18
9 GM Laszlo Szabo
 
½0 ½½ ½0 ½0 01 ½½ 10   01 7.0 / 18
10 GM Salo Flohr
 
00 ½½ ½½ ½½ ½0 ½½ ½½ 10   7.0 / 18

So mussten die Trainingspartner und Freunde – Bronstein heiratete später Boleslavskys Tochter Tatjana – einen Stichkampf um das Recht spielen, gegen Weltmeister Botvinnik anzutreten. Bronstein gewann diesen Stichkampf, der wahrscheinlich auch abgesprochen war.

In einem vertraulichen Gespräch mit seinem Schüler Albert Kapengut, der auch in Minsk lebte, gab Boleslavsky zu, dass nur ein paar der Partien [des Wettkampfs] echt gewesen sein, und um die letzte Partie überzeugender wirken zu lassen, hätten die beiden Spieler sogar eine Neuerung anwenden müssen, die sie entdeckt hatten. (Genna Sosonko, The Rise and Fall of David Bronstein, Elk and Ruby 2017, S. 50)

Allerdings brachten diese Manipulationen Bronstein kein Glück. Im Weltmeisterschaftskampf gegen Botvinnik 1951 fehlte ihm nur ein halber Punkt zum Titelgewinn und diese verpasste Chance hat Bronstein sein Leben lang verfolgt (der Wettkampf endete 12-12 Unentschieden, aber als Herausforderer brauchte Bronstein mindestens 12,5 Punkte, um neuer Weltmeister zu werden).

David Bronstein 1968 (Foto: Erich Koch, Wikipedia)

Kandidatenturnier Zürich 1953

Drei Jahre nach dem Turnier in Budapest kam es zum zweiten Kandidatenturnier, in Zürich 1953. Es war ein Mammutturnier: 15 Teilnehmer traten in Doppelrunden gegeneinander an und so hatte jeder Teilnehmer 28 Partien zu absolvieren. Bis heute ist Zürich 1953 eines der berühmtesten Turniere der Schachgeschichte, nicht zuletzt wegen des legendären Turnierbuchs Zürich 1953, das viele Schachspieler für eines der besten Schachbücher halten, das je geschrieben wurde. Offizieller Autor dieses Schachklassikers ist Bronstein, aber die Idee zu diesem Buch hatte Bronsteins Mentor Boris Vainshtein, seines Zeichens hochrangiger und einflussreicher KGB-Offizier. Vainshtein schrieb auch "den gesamten erzählerischen Teil", Bronstein steuerte nur die Analysen bei. (Vgl. Sosonko, The Rise and Fall, S. 139)

Dieses Turnierbuch hat einige der in Zürich 1953 gespielten Partien berühmt gemacht. Zum Beispiel Euwes Sieg gegen Efim Geller, in dem man eines der erstaunlichsten Turmopfer der Schachgeschichte bewundern kann:

 

The Art of Defence

Eine schlechtere Stellung verteidigen zu können, ist eine äußerst wertvolle, zugleich aber wenig verbreitete Fähigkeit. Aber zum Glück kann man das ja lernen! Lassen Sie sich vom Technikexperten Sergei Tiviakov in die Kunst der Verteidigung einweihen.

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Legendär ist auch Alexander Kotovs Partie gegen Yuri Averbakh, in der der weiße König mit Damenopfer zum Verhör gebeten wird.

 

King's Indian: A modern approach

Bologan: "Wenn Sie diese DVD sorgfältig studieren und die interaktiven Aufgaben lösen, dann erweitern Sie ihr Schachverständnis und Ihr Königsindisch-Vokabular und gewinnen mehr Partien."

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Doch Bronstein konnte seinen Erfolg aus Budapest in Zürich nicht wiederholen. Er landete am Ende zusammen mit Paul Keres und Reshevsky mit je 16,0/28 auf dem geteilten zweiten bis vierten Platz. Turniersieger wurde Vassily Smyslov.

Abschlusstabelle

Rg. Titel Name Land 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 Pkt.
1 GM Vassily V Smyslov
 
  11 ½½ ½1 ½½ ½½ 11 ½0 ½½ ½½ ½½ ½½ 11 18.0 / 28
2 GM Paul Keres
 
00   ½½ ½1 ½½ ½1 ½½ ½½ 11 ½1 ½½ 11 16.0 / 28
3 GM David Ionovich Bronstein
 
½½   11 ½½ ½½ ½0 ½½ ½½ ½½ 01 ½½ ½½ 16.0 / 28
4 GM Samuel Herman Reshevsky
 
½0 ½½ 00   ½½ ½½ ½½ 10 ½½ ½1 ½1 ½1 11 16.0 / 28
5 GM Tigran V Petrosian
 
½½ ½0 ½½ ½½   ½½ ½½ 00 ½½ ½½ 11 ½1 11 15.0 / 28
6 GM Miguel Najdorf
 
½½ ½½ ½½ ½½   00 ½0 ½½ ½½ ½½ 11 14.5 / 28
7 GM Efim P Geller
 
00 ½0 ½1 ½½ ½½ 11   ½0 01 ½½ 01 ½1 01 ½½ 14.5 / 28
8 GM Alexander Kotov
 
½1 ½½ ½½ 01 ½½ ½1   10 00 10 01 14.0 / 28
9 GM Mark E Taimanov
 
½½ ½½ ½½ 11 10 01   10 ½½ ½½ ½0 11 14.0 / 28
10 GM Yuri L Averbakh
 
½½ ½½ ½0 ½½ ½1 ½½ 01   ½½ ½½ 11 00 13.5 / 28
11 GM Isaak Boleslavsky
 
½½ 00 ½½ ½0 ½½ ½½ 10 11 ½½ ½½   ½0 ½½ ½1 ½½ 13.5 / 28
12 GM Laszlo Szabo
 
½½ 10 00 ½½ 01 ½½ ½½ ½1   ½½ 13.0 / 28
13 GM Svetozar Gligoric
 
½0 ½0 ½0 ½½ ½0 ½1 ½½   ½1 11 12.5 / 28
14 GM Max Euwe
 
00 ½½ ½½ 00 10 00 ½0 ½½ ½0   11.5 / 28
15 GM Gideon Stahlberg
 
00 ½½ 00 00 ½½ 10 00 11 ½½ 00   8.0 / 28

Doch der entscheidende Schritt zum Weltmeistertitel gelang Smyslov nicht: wie Bronstein 1951 kam er beim Weltmeisterschaftskampf gegen Botvinnik 1954 nicht über ein 12-12 Unentschieden hinaus und Botvinnik konnte den Titel erneut knapp verteidigen.

Dieses Unentschieden muss eine bittere Enttäuschung für Smyslov gewesen sein, aber er ließ sich davon nicht entmutigen und gewann 1956 in Amsterdam das Kandidatenturnier zum zweiten Mal in Folge.

Abschlusstabelle

Rg. Titel Name Land 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Pkt.
1 GM Vassily V Smyslov
 
  ½½ ½½ ½1 ½½ 11 ½1 ½1 ½1 11.5 / 18
2 GM Paul Keres
 
½½   ½½ ½½ ½½ ½½ ½0 10.0 / 18
3 GM Tigran V Petrosian
 
½½ ½½   ½½ ½0 ½½ 01 ½½ 9.5 / 18
4 GM Boris Vasilievich Spassky
 
½½ ½½   ½1 ½0 ½0 ½½ ½½ 9.5 / 18
5 GM David Ionovich Bronstein
 
½0 ½1 ½0   ½½ ½½ 9.5 / 18
6 GM Laszlo Szabo
 
½½ ½½ ½½ ½1 ½½   ½½ 01 9.5 / 18
7 GM Efim P Geller
 
00 ½½ 10 ½1   11 9.5 / 18
8 GM Miroslav Filip
 
½0 ½1 ½½ 00   01 8.0 / 18
9 GM Oscar Panno
 
½0 ½½ ½½ ½½ ½½ 10   8.0 / 18
10 GM Hermann Pilnik
 
½0 10   5.0 / 18

Smyslov verlor in Amsterdam nur eine einzige Partie – gegen den 19-jährigen Spassky, der hier den ersten Anlauf auf den Weltmeisterthron unternahm. Spassky landete am Ende auf dem geteilten dritten bis siebten Platz, aber nach diesem verheißungsvollen Beginn sollten weitere neun Jahre vergehen, bis Spassky nach einem geteilten ersten bis vierten Platz beim Interzonenturnier 1964 in Amsterdam wieder zu den Weltmeisterkandidaten zählte.

Ausgesprochen gut für Smyslov lief es in Amsterdam jedoch gegen seinen Landsmann Efim Geller, den Smyslov mit 2-0 besiegte. Ohnehin hatte Geller in Kandidatenturnieren Probleme mit Smyslov: vier Mal haben sie gespielt, vier Mal hat Smyslov gewonnen. Wenn die beiden nicht in Kandidatenturnieren aufeinander trafen, punktete Geller besser: Die ChessBase Mega Datenbank enthält 56 Partien, die Geller und Smyslov im Laufe ihres Lebens gegeneinander gespielt haben. Elf Mal gewann Geller, acht Mal Smyslov und 37 der Partien endeten mit Remis. Im Kandidatenwettkampf 1965, in dem die beiden direkt aufeinander trafen, war Geller ähnlich überlegen wie Smyslov zuvor in den Kandidatenturnieren: Geller gewann 5,5:2,5 (3 Siege, 5 Remis).

Durch seinen zweiten Sieg im Kandidatenturnier durfte Smyslov zum zweiten Mal gegen Botvinnik um die Weltmeisterschaft spielen. Mit Erfolg: Smyslov gewann den WM-Kampf 1957 klar mit 12,5-9,5 und war damit neuer Weltmeister. Doch das Glück dauerte nur ein Jahr, denn im Revanchekampf 1958 holte sich Botvinnik den Titel mit einem 12,5-10,5 Sieg zurück und so war Smyslov auch beim Kandidatenturnier 1959 dabei.

Vassily Smyslov 1977 (Foto: Koen Suyk, via Wikimedia Commons)

Demnächst: Die Kandidatenturniere 1959 und 1962...

Webseite Kandidatenturnier


Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".

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