Der vergessene WM-Kampf: Lasker-Capablanca, Berlin 1914
Die Schachgeschichtsschreibung hat sich bekanntermaßen darauf festgelegt, dass der Wettkampf
zwischen Wilhelm Steinitz und Johann Hermann Zukertort der erste Wettkampf um
die "Weltmeisterschaft" war. Auch vorher schon geisterte der Begriff des
"Weltmeister" durch die Schachszene, aber nie wurde ein Wettkampf offiziell "um
die Weltmeisterschaft" geführt. Nachdem Steinitz den Kampf gewonnen hatte,
war er von nun an der von allen anerkannte Weltmeister. Die Geschichte der Weltmeisterschaften nahm damit ihren Anfang. Doch im
weiteren Verlauf dieser Geschichte - besonders in der Frühzeit - ist nicht immer
ganz deutlich geworden, welcher der Wettkämpfe um die Weltmeisterschaft geführt
wurde und welcher ein freier Wettkampf war.
So wurde lange angezweifelt, ob Laskers Wettkampf gegen Schlechter, 1910 in
Wien und Berlin gespielt, überhaupt ein Weltmeisterschaftskampf war. Besonders
die geringe Anzahl von nur zehn Partien gab Anlass zu Zweifeln. Inzwischen gilt
aber als gesichert, dass es sich tatsächlich um einen WM-Kampf gehandelt hat.
Lasker, der den Kampf selber organsierte, und dafür von Schlechter die
Verwertungsrechte an den Partien übertragen bekam, hatte Probleme genug
Geldgeber zu finden und so wurde der Kampf am Ende auf nur zehn Partien reduziert.
Wie bekannt, konnte Lasker den Titel nur durch ein 5:5 im letzten Moment noch
verteidigen.
Anders verhält es sich mit dem angeblichen Weltmeisterschaftskampf zwischen Lasker
und Janowski 1909. In den Jahren 1909 und 1910 spielte Lasker gleich drei
Wettkämpfe gegen David Janowski, die allesamt von Janowskis Mäzen, dem Kunstsammler Nardus, finanziert wurden. Zwei dieser Wettkämpfe wurden später als WM-Kämpfe geführt.
Schließlich bezweifelte man aber, dass der Wettkampf zwischen Lasker und Janowski,
im Oktober/November 1909 in Paris gespielt, tatsächlich ein Kampf um die
Weltmeisterschaft war.
Janowski-Lasker, 1909
Inzwischen haben sich die Zweifel bestätigt. In alten
Zeitungen wurden Hinweise gefunden, dass dieses Match von Lasker nur zur
Vorbereitung auf den Wettkampf gegen Schlechter gespielt wurde - und selbst eben
nicht um die Weltmeisterschaft geführt wurde.
Ein anders Mysterium ist die lange Zeit von elf Jahren zwischen 1910 und 1921, in der Lasker
keinen einzigen WM-Kampf gespielt haben soll. Nun wurde jedoch ein sensationeller Fund bekannt, der nicht nur
die Schachhistoriker elektrisieren wird. Die Vorgeschichte ist ebenfalls
spannend und soll deshalb hier kurz geschildert werden: Eine der vielen großen Schachtreffs in Berlin war der Kerkaupalast in der
Behrenstraße 48 (Berlin Mitte).
Der Kerkau-Palast, rechts daneben Haus Trarbach (Behrenstraße 47), ganz
links: die Kaisergalerie (mit dem Turm)
Der Kerkau-Palast wurde 1910 erbaut und gehörte Hugo Kerkau. Kerkau war einer von drei Brüdern, die sich im
Billardspiel hervor getan hatten. Hugo Kerkau war sogar Billard-Weltmeister.
Hugo Kerkau
1901
schaffte der Berliner 7.156 Karambolagen in ununterbrochener Folge, was
Weltrekord war. Kerkau besaß vor dem Bau des Kerkau-Palasts schon das bekannte
Café Kerkau (Friedrichstraße 59/60, Ecke Leipziger Straße).
Café Kerkau, Ecke Friedrichstraße, Leipziger Straße
Die Herren spielten
Schach und Billard. Im ersten Stock gab es einen Damensalon. Seit 1901
hatte hier die Berliner Schachgesellschaft ihren Sitz. Später wurde das Café als
"Café Zielka Euqitable" weitergeführt, nach 1929 als "Moka Efti."
Schach gehörte zum Unterhaltungsprogramm stets dazu.
Der Kerkau-Palast war mit drei Stockwerken sogar noch größer als das Café Kerkau. Der Besitzer hatte nicht weniger als 48 Billardtische aufstellen lassen.
Der Kerkau-Palast
48 Billardtische
Das Konzert-Café
Auch hier wurde ausgiebig Schach gespielt. 1910 war der Palast schon Schauplatz
der Weltmeisterschaft zwischen Lasker und Janowski gewesen. Lasker gewann
mühelos. Das Haus stand in der Behrenstraße 48, einem sehr prominenten Ort, unweit des
Brandenburger Tores. Die Behrenstraße ist eine Parallelstraße zur Flanierstraße
"Unter den Linden".
Die Behrenstraße heute (Karte: berlin.de)
Zu den Prominenten, die hier im Laufe der Zeit ihren Wohnsitz hatten, gehörten
neben diversen Bankiers und Künstlern der Mathematiker Leonhard Euler (im 18.
Jahrhundert), Heinrich Heine (während seiner Berliner Studienzeit 1821/22 im 3.
Stock des Hauses Nr. 71/72), der preußische Staatsminister Hans Graf von Bülow
(Haus Nr. 66), der Literaturnobelpreisträger Paul Heyse, und später der heutige Ex-Bundeskanzler
Gerhard Schröder. Das Hotel Adlon reichte ebenfalls bis zur Behrenstraße.
Während des Zweiten Weltkrieges wurden im Zuge des Bombenkrieges auch weite Teile
von Berlin Mitte zerstört. Eine Reihe von Gebäuden überlebten die Zerstörung, wenn auch zum Teil nur als Fassade. Eines der erhaltenen Gebäuden war
das Haus Behrenstraße 48, das Haus, in dem sich einst der Kerkau-Palast befunden
hatte.
Unter den Linden, rechts die Rückseite des Kerkau-Palasts
Während der DDR-Zeit geschah mit diesem Haus das, was mit vielen Häusern
in der DDR geschah - nichts.
Gebäudeerhaltung in der DDR
Die DDR hatte nicht die Mittel, es abzureißen und ließ die
Gebäude unbeachtet verfallen. Zum Glück - denn so überdauerten viele
Vorkriegsgebäude, die im Westen im Zuge von "Altstadtsanierungen"
einfacheren
Renditeabschöpfungen zugeführt wurden, die Zeit. Doch dann kam die
Wiedervereinigung und mit dieser große Begehrlichkeiten gegenüber den Berliner
"Filetstücken". Im Juni 1994 wurden das Haus Trarbach mit seiner
Wilhelminischen
Fassade und auch der daneben stehende Kerkau-Palast abgeräumt und durch
Neubauten ersetzt. Die erhaltenswerten Gebäude wurden von der Berliner
Stadtverwaltung nicht rechtzeitig unter Denkmalschutz gestellt, um sie für die
Nachwelt zu erhalten.
Die Behrenstraße heute, viel hübscher als damals (Foto: Stadtentwickung Berlin,
Inge Johanna Bergner)
Das heutige Rosamerin-Karee (Foto:
Stadtentwickung Berlin, Inge Johanna Bergner)
Beim Abriss des Kerkau-Palast fand man in einem verschlossenen Teil des Keller in einem alten Archívschrank eine
Kladde mit seltsamen Inschriften und Hinweisen auf einen Schachwettkampf.
Alter Keller in der Behrenstraße 48 (Foto:
Berliner Stadtentwicklung)
Das seltsame Buch wurde an den Deutschen Schachbund geschickt und die
Umstände seines Fundes in einem Begleitschreiben dokumentiert. Das war 1994.
Durch ein Versehen, dessen Ursache nicht mehr geklärt werden kann, blieb die
Sendung jedoch ungeöffnet und verschwand im Archiv des Schachbundes - so ähnlich
wie die Bundeslade in dem ersten Indiana Jones-Film in einem unbeachteten Archiv
verschwand. Nun wurde die Sendung zufällig wiedergefunden und geöffnet. Der
Inhalt ist für Schachhistoriker fast ebenso explosiv wie der Inhalt der
Bundeslade.
Das Päckchen enthielt nämlich ein Büchlein, in dem offenbar die Partien einer
Schachweltmeisterschaft notiert ist, von der die Öffentlichkeit bisher nichts
wusste.
Überraschender Fund
Tatsächlich enthält die Kladde die Partien eines Wettkampfes, der offenbar
im Juli 1914 im Kerkau-Palast
zwischen Lasker und Capablanca um die Weltmeisterschaft geführt wurde. Bisher war nur
bekannt, dass Lasker und Capablanca nach dem Turnier in St. Petersburg 1914 in
Berlin einen Blitzwettkampf gespielt haben - Capablanca gewann diesen mit 6:3. Anscheinend
wurde aber auch noch kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges dieser WM-Kampf
ausgetragen.
Fein säuberlich notierte Partien
Zusammen mit dem Notationsbuch wurde auch noch eine Ausgabe des
in großen Teilen verschollenen 1914er -Jahrgangs der Vossischen Zeitung gefunden (Ausgabe vom 16.
Juli 1914), die die Authentizität der Notationen bestätigt.
Vossische Zeitung vom 16. Juli 1914
Leider gibt es
einen Wermutstropen für die Schachfreunde, die sich auf die Veröffentlichung
der Partien freuen. Das Buch enthält nämlich einen deutlichen Eigentumsvermerk.
Lasker hat bekanntermaßen zu seiner Zeit mehrfach versucht, die Rechte an
seinen Partien ausschließlich für sich zu beanspruchen. Damals hat man sich
einfach darüber hinweg gesetzt. Doch beim DSB ist man vorsichtig:
"Wir werden sicher nicht einfach die Partien veröffentlichen und dann einen
kostspieligen Prozess mit den Lasker-Erben riskieren, möglicherweise sogar vor
einem Gericht in den USA", ließ der DSB verlauten. Der DSB will die Rechtslage
zusammen mit der Emanuel-Lasker-Gesellschaft, die Kontakt zu den Lasker-Erben
aufgenommen hat, gewissenhaft prüfen lassen und die Partien erst
veröffentlichen, wenn alle Risiken ausgeräumt sind. "Das kann Jahre dauern",
weiß man beim DSB. Nicht einmal das Ergebnis des Wettkampfes will man
veröffentlichen, bevor der DSB-Justiziar grünes Licht gegeben hat.
Natürlich fragt man sich, wie es kommt, dass dieser Weltmeisterschaftskampf
völlig in Vergessenheit geraten konnte. Dies muss in diesem Fall mit dem
Ausbruch des Ersten Weltkrieges zusammenhängen. Capablanca, so weiß man, reiste
überhastet aus Berlin ab, als sich die Anzeichen für den Beginn des
"Weltenbrandes" verdichteten - vielleicht war das der Grund, warum er den
Wettkampf nie erwähnte. Vielleicht brach er den Wettkampf vorzeitig ab? Lasker verlor
möglicherweise den Wettkampf oder lag anscheinend zurück
und wollte deshalb kein Aufhebens darum machen. Nun erscheint auch
Laskers "Rücktritt" als Weltmeister 1920 in einem anderen Licht. Möglicherweise
hatte er den Titel ja schon 1914 verloren - nur wurde dies wegen der Umstände
nie offiziell.
Es scheint also, dass die Schachgeschichte demnächst einen weiteren
Weltmeisterschaftskampf zu verzeichnen hat. Zum Glück gibt es wenigstens keinen
neuen Weltmeister, sonst käme die ganze Zählung durcheinander. Aber wer weiß,
was die Archive noch alles für die Schachfreunde bereit halten.
Deutscher Schachbund...
Abriss in Berlin Mitte (Berliner Zeitung)...
Stadtentwicklung in Berlin-Mitte...
Berliner Schachcafés (beim Berliner Schachverband) ...