Direkt und offen: Ein Interview mit Ivan Sokolov

von Sagar Shah
16.01.2015 – Als Ivan Sokolov, 1968 in Jajce, Bosnien, geboren, 1987 Großmeister wurde, war er der damals jüngste GM der Welt und fünftjüngster GM aller Zeiten. Sokolov hat gegen Spieler wie Kasparov, Polgar, Anand, Kramnik und Topalov gewonnen. Im Interview spricht er u.a. über Kasparovs Schwächen, vergangene Zeiten und mögliche Herausforderer Carlsens. Mehr...

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Am Morgen nach Ende des großen Opens in Al-Ain sass ich im Restaurant des Hili Rayhaan in Al-Ain und wurde allmählich nervös. Ich hatte nur noch eine Stunde, dann musste ich von Al-Ain nach Dubai fahren, um mein Flugzeug noch zu erwischen. Am Abend zuvor hatte ich Ivan Sokolov in der Hotellobby getroffen und ihn um ein Exklusivinterview für ChessBase gebeten. Die Antwort kam sofort: “10.30 morgen früh, im Restaurant.” Beeindruckend schnell!

Doch als ich mit tausend Fragen im Kopf im Restaurant auf ihn wartete, machte ich mir Sorgen, ob er sich an unsere kleine Verabredung auch tatsächlich erinnern würde. Ich ging zur Rezeption und bat, mit ihm verbunden zu werden. “In einer Minute bin ich da”, meinte er. Als er kam, erklärte ich ihm meine Zeitnot. “Dann sollten wir keine Zeit verlieren”, meinte er. Schon bei meiner ersten Frage wusste ich, er würde nicht um den heißen Brei herumreden oder diplomatische Antworten geben. Das Interview würde sein wie Ivan Sokolov: direkt, geradeaus und auf den Punkt.

Sagar Shah beim Interview mit Ivan Sokolov in Al-Ain am 27. Dezember 2014

Sagar Shah: Wann hast du mit dem Schach angefangen?

Ivan Sokolov: 1974, da war ich sechs Jahre alt. Mein Vater, ein Amateurschachspieler, brachte mir die Regeln bei. Bald darauf wurde ich Mitglied im Bosna Schachklub und blieb es fast dreißig Jahre lang. Ich wurde besser, spielte in Jugendturnieren und so fing alles an.

SS: 1984 hattest du deine erste Elo-Zahl: 2235. Zwei Jahre später, 1986, warst du bereits IM, ein weiteres Jahr später, 1987, dann GM. Das ging ziemlich schnell!

IS: Damals gab es keine Ratingzahlen unter 2200. Deshalb wurden alle Spieler ohne Elo-Zahl wie 2200er behandelt. Der FIDE-Meister-Titel (FM) war einigermaßen wichtig, denn den hatten nicht viele Spieler. Um FM zu werden, brauchte man eine bestimmte Zahl von gewerteten Partien und eine Elo über 2300. Im Januar 1985 wurde ich FM, danach machte ich ziemlich schnell Fortschritte.

Als ich 1987 GM wurde, war ich 19 Jahre alt, das ist nach heutigen Maßstäben nichts Besonderes, aber damals war ich der jüngste GM der Welt und der fünftjüngste GM aller Zeiten. Nur Spassky, Tal, Fischer und Kasparov waren jünger GM geworden.

SS: Wolltest du nach dem GM-Titel Profi werden?

IS: Ich habe damals Jura studiert. Der GM-Titel wurde mir während des WM-Kampfs zwischen Karpov und Kasparov in Sevilla 1987 verliehen. Nachdem ich den Titel hatte, habe ich das Studium abgebrochen und mich ganz auf das Schach konzentriert.

Sokolov beim Al-in Classic, Dezember 2014 (Foto: Amruta Mokal)

SS: Hattest du auf deinem Weg zum GM-Titel Vorbilder?

IS: Damals habe ich Freunden frenetisch Kasparov-Partien analysiert. Er war zwar Weltmeister, aber man wusste nicht, ob er wirklich besser als Karpov spielte, denn all ihre Wettkämpfe waren hart umkämpft. Aber ich will es einmal so sagen: für junge Spieler war sein Stil attraktiver als Karpovs. Dadurch gab Kasparov bei Eröffnungen und in der Eröffnungstheorie die Richtung vor. Ich weiß noch, dass Kasparov in einem der WM-Kämpfe regelmäßig 1.c4 spielte und plötzlich spielte die ganze Welt Englisch! So hatte Kasparov den größten Einfluß auf mich und ich habe seine Partien sehr sorgfältig untersucht. Neben Kasparovs gefällt mir auch Spasskys Stil. Ich glaube, er wird als Weltmeister unterschätzt und hat in der Schachgeschichte nicht den Platz erhalten, den er verdient. Er war sehr vielseitig und stark, vielleicht einer der besten Weltmeister. Was die Spieler der Vergangenheit angeht, so habe ich mir eine Menge Partien von Aljechin angeschaut.

SS: Wie bist du damals an Schachmaterial herangekommen?

IS: Die Dinge ändern sich unglaublich schnell. Eine regelmäßige Informationsquelle waren damals Zeitungsartikel. Viele Tageszeitungen hatten eine Schachspalte. Die Partien großer Turniere wurden per Telex an die Zeitungen geschickt. Sobald ich diese Partien in Zeitungen sah, schnappte ich mir eine Schere und schnitt die Partie aus, denn eine solche Gelegenheit durfte man nicht vorbeigehen lassen. Schließlich kam man nicht so einfach an diese Partien. Und wenn jemand damals von Turnieren kam, brachte er oft Turnierbulletins mit - gedruckt. Wenn so jemand einem diese Bulletins gab, galt das als großer Gefallen (lächelt). Es gab wenig Informationen und sie waren schwer zu bekommen. Alle hatten Notizbücher, in denen man die wichtigen Partien aufschrieb! Ich weiß noch, dass ich mich einmal intensiv mit Partien sowjetischer Großmeister beschäftigt habe, denn als ich einmal an einem großen Antiquariat vorbeiging, entdeckte ich ein paar Bücher über die sowjetischen Meisterschaften in den 50ern. Das waren vor allem Turnierbulletins mit allen Partien dieser Meisterschaften. Ich habe alle sofort gekauft, damit ich Partien hatte, die ich studieren konnte. Es ist schon seltsam, wie sich das Spiel seitdem verändert hat und wie die Informationen jetzt frei zugänglich sind.

SS: Bist du durch das Studium der Klassiker besser geworden?

IS: Definitiv. Heutzutage nehmen sich die jungen Spieler nicht mehr genug Zeit, um die Klassiker zu studieren, aber heutzutage gibt es jede Menge Schachmaterial und es gibt Leute, die sehr jung Großmeister werden. Sie kommen einfach viel leichter an Informationen. Zu unserer Zeit hätte man ein Genie sein können und hätte trotzdem Schwierigkeiten gehabt, so jung GM zu werden, denn es gab keinen Zugang zu Informationen und selbst wenn man den hatte, dann war es sehr schwer, diese Informationen aufzubereiten. Selbst ein Superschachgenie wie Kasparov ist erst mit 17 GM geworden, während man heute GMs sieht, die 13 oder 14 Jahre alt sind. Aber ich glaube auch, dass die Spieler ihren Zenit heute schneller erreichen. Das ist die Folge der Informationsexplosion.

Eine Partie gegen den Spieler, der mit 12 Jahren und 7 Monaten GM wurde!

SS: Kasparov war dein Idol, später hast du in Turnieren gegen ihn gespielt. Wie war das?

IS: Die Dinge hatten sich verändert. 1992 hatte ich zum ersten Mal über 2600 Elo und seitdem bin ich nie unter 2600 gefallen. 1992 hatte ich etwa 2630 und das war damals gut genug, um Platz 12 in der Weltrangliste zu belegen. Als ich 1996 das erste Mal gegen Kasparov spielte, hatte ich schon eine Menge Erfahrung. Ich hatte schon in Superturnieren wie Linares gespielt und auch gegen andere Weltmeister.

SS: 1999 hast du eine berühmte Partie gegen Kasparov gewonnen. Es wird gesagt, du seist besser vorbereitet gewesen als er. Kannst du etwas zu der Partie sagen?

[Event "Hoogovens"] [Site "Wijk aan Zee"] [Date "1999.01.26"] [Round "9"] [White "Sokolov, Ivan"] [Black "Kasparov, Garry"] [Result "1-0"] [ECO "E59"] [WhiteElo "2610"] [BlackElo "2812"] [Annotator "Ivan Sokolov"] [PlyCount "55"] [EventDate "1999.01.16"] [EventRounds "13"] [EventCountry "NED"] [EventCategory "17"] [Source "ChessBase"] [SourceDate "1999.04.01"] {Die Analysen zu dieser Partie sind Auszüge aus Sokolovs Buch "The Strategic Nimzo Indian."} 1. d4 Nf6 2. c4 e6 3. Nc3 Bb4 4. e3 O-O 5. Bd3 d5 6. Nf3 c5 7. O-O Nc6 8. a3 Bxc3 9. bxc3 Qc7 10. Qc2 dxc4 11. Bxc4 e5 12. Bd3 Re8 13. e4 {Ein raffinierter Zug, der mir viele Erfolge gebracht hat. Er führt zu Komplikationen. Wenn Schwarz gut vorbereitet ist und sich am Brett an die richtigen Züge erinnert, dann hat er nichts zu befürchten. Ja, wenn Weiß nicht aufpasst, kann er sogar schnell schlechter stehen.} exd4 $1 14. cxd4 Bg4 15. e5 Bxf3 16. exf6 Nxd4 17. Bxh7+ Kh8 18. fxg7+ Kxg7 19. Bb2 Rad8 20. gxf3 Rh8 {Die geschwächte weiße Königsstellung führt dazu, dass Schwarz die Figur zurückgewinnt und mit der besseren Bauernstruktur verbleibt. Aber die Dinge sind alles andere als einfach.} 21. Kh1 {Den weißen Läufer sofort zu schlagen, sieht vielleicht logisch aus, aber dann bleibt der schwarze König in einer unangenehmen Fesselung auf der Diagonale a1-h8 und ist deshalb nicht zu empfehlen. Aber es wirkt logisch und auch den besten der Welt kann so ein Fehler unterlaufen.} Rxh7 22. Rg1+ Kh8 23. Rg3 Qe5 24. Rag1 Rh4 $6 (24... Qh5 25. R1g2 f6 {war eine bessere Verteidigung.}) 25. Qc1 Kh7 $2 {Dies ist keine Stellung, in der man Zeit verlieren sollte, aber es war klar, dass Kasparov mit seiner Stellung alles andere als zufrieden war.} 26. Qb1+ Kh8 27. Qf1 Qe6 28. Qg2 {Weiß hat alle seine Schwerfiguren auf die g-Linie gebracht und wird im nächsten Zug Matt setzen. Das war einer der schönsten Momente meiner Schachkarriere.} 1-0

IS: Ich schaffte es, Kasparov in eine psychologisch unangenehme Lage zu bringen. Aber wie? Nun, Kasparov mag es, wenn die Leute Angst vor ihm haben, und wenn man ihm zeigt, dass man keine Angst hat, dann fühlt er sich eingeschüchtert und ist viel weniger selbstbewusst. Und durch die von mir in der Partie gewählte Variante habe ich ihm ganz klar gezeigt, dass ich weder vor ihm noch vor seiner Vorbereitung Angst hatte. Das gefiel ihm nicht. Und dann musste er sich an seine Vorbereitung erinnern, aber auch ein Spieler mit einem solch phantastischen Gedächtnis wie Kasparov kann sich nicht so einfach alles merken. Er erinnerte die richtige Partie, aber nicht den richtigen Zug. Als er merkte, dass er sich nicht an die richtige Variante erinnern konnte, brach er schnell zusammen. Er hatte eine etwas schlechtere Stellung, aber verlor in wenigen Zügen. Seine Stellung war noch recht gut spielbar, aber dann unterlief ihm der schreckliche Patzer Kh7.

SS: Wie war das, als du bemerkt hast, dass Kh7 ein Fehler war, nach dem du gewinnen konntest?

IS: Es war ein bisschen merkwürdig, denn wir hatten beide noch viel Zeit auf der Uhr. Ich hatte gesehen, dass ich ihn nach der Vertrippelung auf der g-Linie Matt setzen würde. Kasparov hatte innerlich bereits aufgegeben. Er hatte seine Rolex wieder ans Handgelenk gelegt, die Schokolade lag nicht mehr neben dem Brett und er hatte seine Jackett wieder an. Im Prinzip hat er gesagt: "Na los, mach' deinen Zug und wir haben es hinter uns!" Doch dann habe ich mir gesagt: "Moment einmal - wann kriege ich das nächste Mal eine Stellung gegen Kasparov, in der ich ihn mit einem Zug erledigen kann? Vielleicht nie! Und wie viel Zeit habe ich auf der Uhr? 40 Minuten! Nun gut, dann lassen wir uns doch Zeit! Schauen wir uns die wunderbare Stellung an, schauen wir uns an, wie unglücklich er ist (Garry sieht wirklich elend aus, wenn er auf Verlust steht), es gibt keinen Grund, etwas zu überstürzen! Also nahm ich mir zehn Minuten Zeit, danach machte ich den Zug und er gab sofort auf (lächelt).

Robert von Weizsäckers Team bei der Kampagne zur Wahl des ECU-Präsidenten 2010.
 

SS: Deinen Sieg gegen Judit Polgar 2003 beim Turnier in Hoogeven hat mich ebenfalls sehr beeindruckt.

[Event "Hoogeveen Essent Crown"] [Site "Hoogeveen"] [Date "2003.10.17"] [Round "5"] [White "Sokolov, Ivan"] [Black "Polgar, Judit"] [Result "1-0"] [ECO "E12"] [WhiteElo "2695"] [BlackElo "2722"] [Annotator "Ivan Sokolov"] [PlyCount "83"] [EventDate "2003.10.12"] [EventRounds "6"] [EventCountry "NED"] [EventCategory "18"] [Source "ChessBase"] [SourceDate "2004.02.03"] {Die folgenden Analysen sind ein Auszug aus Sokolovs Buch "Sacrifice and Initiative in chess".} 1. d4 Nf6 2. c4 e6 3. Nf3 b6 4. Nc3 Bb7 5. a3 d5 6. cxd5 Nxd5 7. Qc2 Nxc3 8. bxc3 Be7 9. e4 O-O 10. Bd3 c5 11. O-O Qc8 12. Qe2 Ba6 13. Rd1 Rd8 14. h4 cxd4 15. cxd4 Bxd3 16. Rxd3 Nd7 17. Bg5 f6 18. Bf4 Qb7 19. h5 Rac8 20. Rad1 Qa6 21. e5 f5 {Weiß muss im Zentrum vorstoßen.} 22. d5 $1 exd5 (22... Nc5 23. d6 $44) 23. Nd4 Rf8 24. Qf3 ({Eine gute und sichere Alternative ist} 24. Bh6 $1 {hält den Mehrbauern fest. Während der Partie habe ich das nicht gesehen.} Nc5 25. Rg3 Qxe2 26. Rxg7+ Kh8 27. Nxe2 $16) 24... Nc5 { Jetzt haben wir die kritische Stellung erreicht. Schwarz konsolidiert sich und wenn Weiß gewinnen will, dann wahrscheinlich nur mit einem Königsangriff. Ich fürchtete jedoch - und mit gutem Grund -, dass meine Initiative nach dem logischen Dxd5 verpuffen und die Stellung verflachen würde. Weiß hat am Königsflügel deutlich mehr Angreifer als Schwarz Verteidiger, denn die Dame auf a6 ist im Moment außer Spiel. Ein energisches Vorgehen am Königsflügel sieht logisch aus. Deshalb spielte ich} 25. h6 $1 { Wie bei einem gewöhnlichen Angriff gegen den rochierten König beginnt der Angriff, indem man die schützenden Bauern vor dem König entfernt.} g5 $1 26. Bxg5 $1 Bxg5 27. Qh5 { Dies ist die Stellung, die ich bei meinem intuitiven Opfer h6! einschätzen musste. Ich konnte nicht alle Varianten berechnen, aber es gab eine Reihe von Gründen, meiner Intuition zu vertrauen: A) Das Verhältnis von Angreifern zu Verteidigern ist überwältigeng gut für mich (die schwarze Da6, der Sc5 und der Tc8 tun nichts zur Verteidigung ihres Königs); B) Der schwarze Bauer f5 wird fallen und dann hat Schwarz abgesehen vom Bauern h7 keine Bauern mehr, die seinen König schützen, was immer ein gutes Argument für den Angreifer ist; C) Der weiße Bauer auf h6, die Dame auf h5 und das Manöver Sf5, Tf3 (g3) weben ein Mattnetz um den schwarzen König; • D) Der weiße Turm auf d3 (den zu schlagen Schwarz keine Zeit hat) steht ausgezeichnet und wird über g3 und f3 in den Kampf eingreifen. Nein, ich konnte nicht alles durchrechnen, aber ich hatte viele Gründe meiner Intutition zu vertrauen.} Bf4 28. Rf3 Bxe5 29. Nxf5 Qb7 30. Rxd5 Rce8 31. Qg5+ Kh8 32. Rxe5 Rxe5 33. Ne7 $3 {Wenn man den rochierten König Matt setzen will, braucht man oft einen Springer!} Re1+ 34. Kh2 Qb8+ 35. Rg3 Rxe7 (35... Ne6 36. Qg7+ Nxg7 37. hxg7#) 36. Qxe7 Ne6 37. Qxe6 Qf4 38. a4 a6 39. Qxb6 Rb8 40. Qe3 Qh4+ 41. Rh3 Qf6 42. Qc3 1-0

IS: In meinem Büchern “Sacrifices and initiative in Chess” und “Winning Chess Middlegames” habe ich das Konzept des intuitiven Opfers erläutert. Diese Partie gefällt mir sehr, aber es gibt auch ein paar Partien, die mir genauso gut gefallen, zum Beispiel meine Partie gegen Vishy Anand in Wijk Aan Zee 1996 oder die gegen Topalov aus dem gleichen Jahr und auch meine Partie gegen Kramnik.

Ivan und Judit in Georgien, März 2014 (Foto: Fiona Steil-Antoni)

SS: Über Garry Kasparov haben wir bereits gesprochen. Was denkst du über seinen Erzrivalen Anatoly Karpov?

IS: Bei den meisten Gegnern verrät die Körpersprache, für wie gut oder schlecht sie ihre Stellung halten, aber bei Karpov wusste man das nie, denn meistens war er am Brett sehr ruhig. In der Analyse nach der Partie war er immer überzeugt, in jeder beliebigen Stellung den besten Zug finden zu können. Es gibt eine berühmte Anekdote über Karpov: Während der Analyse nach einer Partie meinte sein Gegner einmal zu ihm: “Hier stehe ich klar besser.” Karpov antwortete ruhig: “Ja, aber in ein paar Zügen wirst du etwas schlechter stehen.”. (lacht)

SS: Gegen Vishy Anand hast du mehr als 15 Mal gespielt. Was sind seine besonderen Stärken und was denkst du über den WM-Kampf 2014?

IS :Anand ist extrem talentiert. Zu Beginn seiner Karriere war er für sein schnelles Spiel berühmt, aber damals hat er durch das schnelle Spiel auch viele Dinge übersehen. Dann ist er als Spieler gereift und fand einen Ausgleich zwischen seiner raschen Schachauffassung und der Notwendigkeit, weniger impulsiv zu sein, um die besten Züge zu finden. Zusammen mit den vielen Jahren, die er an der Spitze war, dem hohen Niveau seiner Vorbereitung, einem guten Team und der Hingabe an das Ziel, in der Weltspitze zu bleiben, hat ihn zu dem Schachspieler gemacht, der er ist.

Das letzte WM-Match war sehr interessant, denn Anand ist mit einer ganz anderen Einstellung in diesen Wettkampf gegangen als beim ersten Match. Grob vereinfacht gesagt, glaube ich, dass er beim ersten Wettkampf geglaubt hat, er würde verlieren, aber beim zweiten kämpfen wollte. Seine Eröffnungswahl und die Art, wie er das Mittelspiel behandelt hat, zeigt eindeutig, dass er im zweiten Wettkampf eine ganz andere Einstellung als im ersten Wettkampf hatte. Schade, dass er die Chance nicht genutzt hat, die ihm Carlsen durch seinen Fehler in der sechsten Partie gegeben hat. Nicht, weil ich einen speziellen Favoriten in diesem Wettkampf hatte, sondern weil es sehr interessant gewesen wäre zu sehen, wie Carlsen reagiert, wenn er unter Druck ist und im Match hinten liegt, wenn nicht mehr viele Partien zu spielen sind. Offen gesagt, hat Carlsen unter Druck bisher nicht so starkes Schach gezeigt. Das haben wir beim Kandidatenturnier 2013 gesehen. Das haben wir auch in ein paar Partien der Olympiade gesehen und auch in seiner Partie gegen Anand, in der ihm dieser alberne Patzer unterlaufen ist. Sobald er das Tempo diktieren konnte, wurde sein Spiel auch besser. Jetzt müssen wir auf einen anderen Wettkampf warten, um zu sehen, wie er mit solchem Druck umgeht.

SS: Du meinst, Carlsen könne mit Druck nicht besonders gut umgehen. Trotzdem ist er auf eine Elo-Zahl von 2881 gekommen. Welche Gründe gibt es dafür?

IS: Carlsen ist sehr vielseitig. Manche Spieler unterschätzen seine Fähigkeiten, komplizierte Stellungen zu spielen. Es ist einfach nur ein Klischee, dass er nur in technischen Stellungen gut ist, aber in kompIexen Stellungen nicht. Nehmen wir zum Beispiel die neunte Partie im Wettkampf gegen Anand 2013, der Nimzo-Inder, den er mit Schwarz gewonnen hat. 90 Prozent aller Spieler hätten in dieser Stellung Todesangst gehabt und wären Matt gesetzt worden. Er hat diese Stellung sehr gut behandelt. Bei meiner Arbeit an “Sacrifice and Initiative in chess” habe ich ein paar gute Angriffspartien gefunden, in denen Carlsen mit Weiß gegen den Sizilianer gespielt hat. In technischen Stellungen fühlt er sich allerdings wohler. Das steht auf einem anderen Blatt, aber wenn er mit dem Rücken zur Wand steht, dann kann er komplizierte Stellungen genauso gut spielen. Diese Vielseitigkeit und sein Talent haben ihn meiner Meinung nach zu einem großen Champion gemacht.

Ivan Sokolov spielt gegen den 14-jährigen Magnus
beim Hoogeveen Essent Turnier 2004 (die Partie wurde Remis)

SS: Wer wird Carlsens nächster Herausforderer?

IS: Schwer zu sagen. Viele tippen auf Caruana, aber mir fällt es schwer, mich dem anzuschliessen, denn Caruana spielt Schach, das ich einfach nicht verstehe. Ich kann in seinem Spiel keine klare Linie erkennen.

SS: Kannst du das noch weiter ausführen? Seine Züge sind normalerweise immer die erste Wahl des Computers.

IS: Genau deshalb kann ich ihnen nicht folgen! (lacht) Was die anderen potentiellen Kandidaten betrifft, so glaube ich, dass Aronian seinen Zenit überschritten hat, Nakamura nicht so gut ist, wie er glaubt und Grischuk zwar gute Form zeigt, aber nicht mehr so jung ist. Man muss sehen, ob jemand wie Wesley So, der vor kurzem in die USA gezogen ist, sich entwickeln wird, oder ob Giri seinen Aufwärtstrend fortsetzen kann. Das werden wir sehr bald wissen, denn diese Jungs sind alle noch recht jung und werden in ein oder zwei Jahren große Fortschritte machen. Vielleicht ist auch Yu Yangyi aus China ein Kandidat. 2012 und 2013 habe ich zwei Mal gegen ihn gespielt und war nicht sonderlich beeindruckt. Aber was er in Qatar gezeigt hat, war schon sehr beeindruckend. Er erteilte Giri mit Schwarz eine positionelle Lehrstunde. Kramnik scheint gegen ihn einen Fehler gemacht zu haben, aber Yu hat ihn in der entscheidenden Partie des Turniers besiegt. Er ist noch jung und man kann nie wissen. Er könnte einer der möglichen Kandidaten für einen WM-Kampf gegen Carlsen sein.

Sokolov setzt auf die jungen Talente Wesley So, Anish Giri und Yu Yangyi

Teil II des Interviews folgt in Kürze


Sagar Shah ist ein junger Internationaler Meister aus Indien. Er ist zugleich ausgebildeter Wirtschaftsprüfer und würde gerne der erste indische Wirtschaftsprüfer sein, der Großmeister wird. Sagar berichtet leidenschaftlich gerne über Schachturniere, denn so begreift er das Spiel, das er so liebt, besser. Aus Leidenschaft für das Schach betreibt er auch einen eigenen Schachblog.

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