"Dvoretsky's Endgame Manual": Ein Interview mit Karsten Müller

von Johannes Fischer
14.10.2020 – Viele Topspieler halten Mark Dvoretskys "Endgame Manual" für eines der besten Schachbücher aller Zeiten. Vor kurzem erschien jetzt im amerikanischen Verlag Russell Enterprises die fünfte Auflage dieses legendären Buches. In einem Interview mit Johannes Fischer spricht Karsten Müller, der diese Neuauflage bearbeitet hat, über seine Liebe zum Endspiel, und verrät, warum es Spaß macht, das Endspiel zu studieren und warum Dvoretskys Buch etwas ganz Besonderes ist.

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Johannes Fischer: Hallo Karsten, du giltst als einer der größten Endspielexperten der Welt. Vor kurzem erschien jetzt die fünfte Auflage des legendären Endgame Manual von Mark Dworetsky, und du hast diese Neuauflage bearbeitet. Die erste russische Version des Buches erschien 2002. Was macht dieses Buch so besonders, dass es mittlerweile fünf Auflagen gibt?

Karsten Müller: Es ist eines der besten Schachbücher, die es überhaupt gibt. Es hat sich durchgesetzt, weil es Dworetsky gelungen ist, das Endspielwissen so darzustellen, dass das Endspielstudium Spass macht.

Dworetsky hat sein Buch Endgame Manual genannt, "Endspielhandbuch". Welches Ziel verfolgt das Buch und wie handlich ist es wirklich?

Das Ziel des Buches beschreibt Dworetzki in seiner Einleitung so:

Die Theorie des Endspiels zu beherrschen, ist eigentlich nicht schwierig! Alles, was sie dazu kennen müssen, ist eine überschaubare Anzahl charakteristischer (in der Regel elementarer) Positionen, die wichtigsten Regeln, Einschätzungen und typischen Vorgehensweisen. Die Frage ist, wie man aus Tausenden von Endspielen, die in Büchern analysiert werden, die wesentlichen herausfindet?

Dieses Buch soll ihnen dieses Minimum an notwendigen Informationen, als Grundlage für Ihre persönliche Endspieltheorie, zur Verfügung stellen.

Natürlich ist es mittlerweile mit 440 Seiten etwas unhandlich geworden, aber es ist noch gut in der Hand zu halten...

Wie unterscheidet sich die fünfte Auflage von vorherigen Auflagen? Was wurde ergänzt, was wurde weggelassen?

Das lässt sich in einem kurzen Interview nicht vollständig beantworten. Ich bin alle Beispiele und den Text durchgegangen, und habe in Absprache mit Alex Fishbein viele Kleinigkeiten geändert und  mitunter auch Übersetzungsprobleme geklärt.

Dvoretsky hatte vor seinem plötzlichen und unerwarteten Tod 2016 schon eine Liste mit Korrekturen erstellt, und "Chessable" hat uns Zugriff auf die Kommentare von Leuten gegeben, die das Buch dort gelesen und studiert haben.

Aber auch andere haben geholfen: So hat Erwin L'Ami mir per Email Analysen zu einem theoretisch sehr wichtigen Endspiel geschickt. Generell kann man sagen, dass die Verteidigungsmöglichkeiten in den Vancura-Stellungen in der alten Literatur unterschätzt wurden. Und L'Ami's neue Verteidigung in der Steckner-Stellung (siehe 9-168a) ist eine Vancura-artige Verteidigung, genau wie Giris neue Verteidigung (siehe 9-208e).

Alex und ich haben alle Aufgaben sorgfältig geprüft. Ein paar davon haben wir verworfen, ein paar haben wir geändert, damit es immer nur genau eine Lösung gibt. Und Alex hat auch die gesamte Debatte über die Kantorovich/Stecker Stellungen besser strukturiert.

Die Diskussion der Philidor-Stellung (9-17a) ist jetzt klarer, und hat mehr Diagramme bekommen, weil die Stellung so wichtig ist. Philidors zweites Verteidigungsmanöver (das ich in meinen Arbeiten meist Karstedt-Verteidigung nenne) ist jetzt klarer dargestellt.

Im Kapitel über Springerendspiele haben wir viele Entdeckungen gemacht, zum Beispiel in dem berühmten Lasker vs Nimzowitsch Endspiel (3-7). Wir haben auch die Einschätzung des Endspiels 4 gegen 3 am Königsflügel geändert, denn wir sind zu dem Schluss gekommen, dass Weiß lediglich gute Gewinnchancen hat, aber nicht auf Gewinn steht, wie früher meist behauptet wurde. Zugleich haben eine Reihe von Wegen aufgezeigt, die zum Remis führen.

Rausers Remiszone (4-2) wird vollständig dargestellt, um sie klarer zu machen, und die Bährsche Regel (1-126) haben wir in der Neuauflage klarer formuliert und zugleich haben wir auch die Ausnahmen von dieser Regel erwähnt. Das war gar nicht so leicht. Fast so, als ob man ein mathematisches Theorem formulieren und beweisen muss. Hier haben Alex und ich lange Diskussionen geführt, bis wir beide zufrieden waren. Doch wie bei der Arbeit mit Mark haben wir immer eine Lösung gefunden, auf die wir uns alle einigen konnten.

Im Vorwort zur fünften Auflage bezeichnet Vladimir Kramnik, der als ausgesprochener Endspielexperte gilt, Dvoretskys "Endgame Manual" als eines der besten Bücher, die in letzter Zeit erschienen sind, und meint, dass dies ein Buch für Profis und für Amateure ist. Hat er Recht, ist das "Manual" ein Endspielbuch für Jedermann?

Ja ich meine schon. Denn Dvoretsky hat das Material, das jeder kennen sollte, ja extra markiert. Dieser Grundlagenkurs ist dann auch gar nicht so umfangreich und für Amateure ideal. Profis sollten natürlich tiefer schürfen, und das Buch bietet dafür sehr reichhaltiges Material.

Mark Dvoretsky, Dvoretsky's Endgame Manual, 5th edition, bearbeitet von Karsten Müller, Russell Enterprises 2020

Dworetsky ist im September 2016 gestorben, aber noch zu Lebzeiten genoss er als Trainer einen legendären Ruf. Allerdings gelten seine Bücher und vor allem die dort veröffentlichten Trainingsbeispiele auch als sehr anspruchsvoll. Auch das "Endgame Manual 5" wirkt auf den ersten Blick so beeindruckend wie einschüchternd: 440 dicht bedruckte Seiten mit Analysen, Aufgaben, Text. Wie stark muss man sein und wieviel muss man arbeiten, um Nutzen aus dem "Endgame Manual 5" zu ziehen?

Je mehr man arbeitet, desto mehr Nutzen wird man daraus ziehen.

Lohnt diese Mühe – und macht das Spaß?

Ich meine ja, und konnte in aller Regel auch meine Schüler davon überzeugen.

Welchen Sinn hat das Endspielstudium denn überhaupt? Ich weiß, dass viele Trainer und gute Spieler behaupten, dass man das Endspiel studieren sollte, um besser zu werden, aber ich habe den Eindruck, die meisten Schachspieler verwenden den Großteil ihrer Zeit trotzdem auf das Studium der Eröffnungen. Was verständlich ist: die Eröffnung kommt in jeder Partie vor, Endspiele nur gelegentlich.

Aber Endspiele helfen beim tieferen Verständnis des Spiels. Die genauen Stärken und Schwächen der einzelnen Figuren können erst im Endspiel in Reinform studiert werden. Außerdem kommen zum Beispiel Turmendspiele in der Praxis sehr oft vor. Zumindest die sollte man deswegen studieren. Und die Endspieltheorie ist ziemlich konstant. Man muss sie nur einmal lernen und profitiert dann ein Leben lang davon.

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Durch verbesserte Engines wie Fat Fritz und die Erweiterungen der Tablebases ändert sich auch die Endspieltheorie. Welchen Einfluss hatte das auf die Bearbeitung des "Endgame Manuals"?

Das hatte natürlich einen großen Einfluss. Besonders in den bislang veröffentlichten Analysen von Springer- und Turmendspielen sind viele Fehler aufgetaucht. Aber die Essenz der Endspieltheorie ist dennoch weitgehend konstant. Die Einschätzung der berühmten Eckpfeilerendspielstellungen ändert sich in der Regel nicht. Im Gegensatz zur Eröffnungstheorie, die Moden unterworfen ist.

Du hast das Buch zusammen mit Alex Fishbein bearbeitet. Wie seid ihr dabei vorgegangen?

Ich habe Listen mit Änderungsvorschlägen erstellt, und Alex hat diese Vorschläge geprüft, und auch geprüft, ob es richtig angemessen ist, in diesen Fällen die Darstellung von Dworetsky zu ändern. Außerdem hat Alex in Rücksprache mit mir längere Passagen in den Kapiteln über Springer- und über Turmendspiele umgeschrieben.

Dabei erwies sich der Zeitunterschied zwischen Hamburg und den USA als sei produktiv, und an manchen Tagen konnten wir zusammengerechnet fast 24 Stunden arbeiten. Wenn ich morgens an den Rechner gegangen bin, habe ich oft viele Mails von Alex und Hanon (Russell, der Herausgeber des Buches) gefunden. Die konnte ich bearbeiten und an Alex und Hanon zurückschicken. Sie haben dann morgens meine Anmerkungen gefunden, und konnten die bearbeiten. Und wenn ich in Hamburg zu Bett gegangen bin, dann hatten die beiden noch Zeit, meine Anmerkungen zu bearbeiten und mir ihre Änderungen zu schicken - die ich dann am nächsten Morgen gelesen habe. Ein produktiver Arbeitsrhythmus.

Nun gibt es eine ganze Reihe von Büchern über das Endspiel. Was macht Dvoretsky anders und was macht er besser?

Sein Material ist über viele Jahrzehnte gereift und er hat es mit zahllosen Schülern ausgiebig getestet. Das merkt man dem Buch deutlich an. Außerdem bietet es eine gute Mischung aus Beispielen, Erklärungen und einigen wenigen Anekdoten.

Mark Dvoretsky bei der Analyse (Foto: Amruta Mokal)

Du bist leidenschaftlicher Endspielfan und hast viele DVDs und Bücher über das Endspiel veröffentlicht. Was begeistert dich so am Endspiel?

Ich bin promovierter Mathematiker und Endspiele sind wie reine Mathematik mit etwas Geometrie. Sie haben eine eigene Schönheit und Faszination. Wenn ein Beweis gefunden wurde, dann ist die Sache damit abgeschlossen. Endspiele sind keinen Moden unterworfen. Eröffnungsanlaysen fühlen sich dagegen eher wie statistische Mathemtik an und ich mochte reine Mathematik schon immer weit mehr.

Hast du ein Lieblingsendspiel, und gibt es einen Spieler, dessen Art, Endspiele zu spielen, dich ganz besonders begeistert?

Ich würde gerne zwei Beispiele anführen. Beide sind mit Fehlern von mir verbunden. Das erste Beispiel stammt aus einer 1993 in München gespielten Partie Shirov vs Lautier:

 

Das zweite Beispiel stammt aus dem ersten Weltmeisterschaftskampf zwischen Karpov und Kasparov, der in Moskau von Herbst 1984 bis Frühjahr 1985 stattfand.

 

Wenn man nicht genug Zeit hat, den ganzen Dvoretsky zu studieren, was und wie sollte man studieren, um sich die wichtigsten Grundkenntnisse im Endspiel anzueignen?

Man sollte den von Dvoretsky ausgewählten Grundkurs studieren, also nur die grau hinterlegten Teile des Endgame Manuals.

Eine letzte Frage zum Abschluss: wie kann man ganz generell den Genuss am Endspiel kultivieren und entwickeln?

Remisangebote konsequent ablehnen, günstigen Abwicklungen ins Endspiel nicht aus dem Wege gehen, die eigenen Endspiele genau unter die Lupe nehmen, eine eigenen Datenbank mit den wichtigsten Stellungen erstellen und immer mal wieder durchgehen, gute Bücher und DVDs studieren.

Danke für das Interview!

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Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".

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