Ein Interview mit Miguel Najdorf - Teil 1
Von José Luis Barrio
Schach lernte Miguel Najdorf im Alter von 9 und schon bald spielte er es mit Leidenschaft.
Am Anfang war es schwer für mich. Meine Mutter hat meine Schachbretter, Bücher und die Figuren sogar verbrannt. Alles. Sie hat gesagt, ich wäre besessen, ich würde nur noch Schach spielen. Sie wollte, dass ich Arzt werde. Ich bin keiner geworden, aber ich habe zwei Töchter, die Ärztinnen sind. Auf eine Art habe ich ihre Wünsche damit erfüllt, nicht wahr?
Najdorf wurde am 15. April 1910 in Warschau geboren. Später studierte er Mathematik, mit 18 gewann er sein erstes internationales Turnier und bei der Schacholympiade 1935 spielte er für Polen am dritten Brett. Er heiratete und wurde Vater. Dann kam der Bruch.
Die polnische Mannschaft bei der Schacholympiade 1935 — Najdorf ist Zweiter von rechts
Ich wurde zweimal geboren, ohne je gestorben zu sein.
Sein zweites Leben begann 1939 in Buenos Aires. Najdorf spielte bei der Schacholympiade in Buenos Aires am zweiten Brett für Polen, doch am 1. September, kurz nach Beginn der Olympiade, marschierte Deutschland in Polen ein und der Zweite Weltkrieg begann.
Meine Frau war in Polen, denn sie hatte die Grippe und konnte nicht mit mir nach Buenos kommen. Meine dreijährige Tochter war ebenfalls noch in Polen. Meine Eltern, meine vier Geschwister, Cousinen, Tanten und Onkel...
Was haben Sie getan? Wie haben Sie sich gefühlt?
Ich war überwältigt, aber ich konnte nichts tun, ich konnte fast nichts tun. Jahrelang habe ich auf das Schach gehofft — ich habe gespielt, Geld gespart, ich dachte, wenn ich berühmt werde, dann könnte jemand in Polen davon erfahren, jemand aus meiner Familie. Ich habe im Versicherungsgeschäft gearbeitet, aber ich habe auch Krawatten verkauft, Süßwaren, was immer ich auch verkaufen konnte. 1946 bin ich nach Warschau gefahren. Niemand war da. Alle waren in den Gaskammern der Nazis gestorben. Auch meine kleine Tochter.
Don Miguel, wie haben Sie es geschafft, weiter zu leben?
Ich glaube, indem ich gekämpft habe. Ich ging nach New York, in der Bronx lebte ein Großonkel von mir. Als ich dort hingefahren bin, sah ich jemanden in der U-Bahn, der eine polnische Zeitung gelesen hat, und ich ging zu ihm hin und sprach ihn an, er war in einem Konzentrationslager gewesen. Er stammte aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Warschau. Ich hatte viele Verwandte und ein paar von ihnen lebten in dieser Stadt. Wir unterhielten uns weiter und es war unglaublich: er war mit einer Cousine ersten Grades von mir verheiratet. Ich weiß es noch wie heute, wir sind in Harlem ausgestiegen und in ein Café gegangen. Wir waren die einzigen Weißen dort und haben uns angeschaut und beide geweint.
Sind Sie danach noch einmal nach Warschau zurückgekommen?
Sehr oft...
Hat sich die Stadt verändert? Was fühlen Sie, wenn Sie die Stadt sehen?
Alles hat sich verändert, ich fühle und denke jetzt wie ein Argentinier.
Fidel Castro, Oscar Panno und Miguel Najdorf
Was möchten Sie noch wissen? Ich helfe Ihnen, ich bin Journalist. Lesen Sie meine Kolumne in Clarín?
Natürlich, natürlich. Ich wollte Sie fragen — warum hängt in Ihrem Büro ein Porträt von Capablanca an der Wand?
Weil er der Größte war, er und Bobby Fischer. Capablanca war ein Wunderkind, mit sechs Jahren war er kubanischer Meister, mit 13 war er US-Meister. Ein Genie, ein Supergenie.
Nationaler Meister bei den Erwachsenen?
Natürlich, ein Genie. Er hatte eine natürliche Begabung.
Kannten Sie ihn gut?
Ja, ich bin der einzige noch aktive Spieler, der gegen ihn gespielt hat. Er hatte einen außergewöhnlichen Blick für alles, er wusste, wie man spielt und wie man lebt.
Aber man sagt, dass...
Ja, ich weiß, und es stimmt, sein Lebenswandel hat im letztendlich geschadet, sein Boheme-Leben mit all seinen Nachteilen. Während seines Wettkampfs gegen Aljechin in Buenos Aires 1927 hat er gerne Poker im Jockey Club gespielt und bis in die frühen Morgenstunden puchero* im El Tropezón gegessen.
[* Ed.- Ein herzhafter argentinischer Eintopf aus Fleisch und Gemüse, der vor allem in der kalten Jahreszeit gegessen wird.]
Miguel Najdorf spielt Blitz gegen Mikhail Tal, Tigran Petrosian und Salo Flohr schauen zu
Was ist mit Aljechin?
Aljechin ist natürlich auch einer der Großen, er hatte ein phantastisches Gedächtnis. Er war Trinker und ist gerne ins Chantecler auf der Paraná gegangen und bis Ladenschluss geblieben. Später hat er sich aus Opportunismus den Nazis angedient. Als er gestorben ist, hat man ihn beim Turnier in Mar del Plata geehrt, und ich war der Einzige, der nicht aufgestanden ist. Ich konnte nicht.
Verraten Sie mir, sind alle Schachspieler Trinker und Frauenhelden?
Die meisten. Geistesarbeiter brauchen diese Zerstreuung.
Sie natürlich nicht.
Ich? Nein, natürlich nicht... heute.
Könnte jemand wie Capablanca heute Weltmeister sein?
Nein, alle Schachspieler sind Genies, und so gewinnt jetzt derjenige, der fokussierter ist, disziplinierter und in körperlich besserer Verfassung. Heutzutage ist das ein Full-Time-Job. Man kann Einstein nicht mit Aristoteles vergleichen, aber im Schach macht es einen Unterschied, ob man Profi ist. Wer nicht am Schach arbeitet und ein schlechtes Leben führt...
Schlecht?
Gut. Schlecht fürs Schach.
Nach dem Krieg bin ich in Argentinien geblieben. Ich habe auf Roberto Grau gehört. Er hat mir gesagt, "Miguelito, dieses Land ist ein Paradies". Ich habe hier einmal einen anderen Polen getroffen, und gefragt, wie es ihm geht. Er sagte, "Gut, puchereando". Ich habe nicht verstanden, was er meinte, aber als ich es herausgefunden habe, waren alle meine Zweifel verflogen. Ich habe mir gedacht, dies muss ein gutes Land sein, denn in Polen sagen wir, "Hier bin ich und verdiene mein Brot". Puchero ist sehr viel mehr als Brot. Ich bin geblieben.
Dies ist der erste Teil einer gekürzten Fassung des Interviews mit Najdorf, das 1988 in El Gráfico erschien.
Teil zwei folgt in Kürze
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