Das Spanisch-Powerbook 2018 basiert ausschließlich auf Partien aus dem Maschinenraum von Schach.de. Die gewaltige Zahl von 1,8 Millionen Spanisch-Partien erlaubt aussagekräftige statistische Analysen selbst in den Nebenvarianten.
Der Marshall-Angriff ist eine der schärfsten und populärsten Varianten der Spanischen Partie. In meinem ersten Beitrag zu diesem Thema beschäftigte ich mich mit den drei Entwicklungsstufen dieses Gambits und betrachtete u. a. die Partie Battell - Marshall aus dem Jahre 1937, in welcher bereits die moderne Fortsetzung 11. ... c6! zur Diskussion stand. Diese Variante ist nach wie vor beliebt, und ihre Vitalität wurde seit mehr als 80 Jahren immer wieder eindrucksvoll bewiesen. Wir wollen uns daher einige Etappen dieser Entwicklung näher ansehen.
In Buenos Aires kam es am 25. August 1939 in einer Partie zwischen Alberto Ismodes Dulanto (Peru) und Conel Hughes Alexander (England) erstmals während einer Schacholympiade zum Marshall-Angriff in seiner modernen Form. Neun Tage später brach der Zweite Weltkrieg aus, und es sollte elf Jahre dauern, ehe die nächste Schacholympiade (1950 in Dubrovnik) organisiert werden konnte. Die Partie selbst ist interessant, wenn auch keineswegs fehlerfrei. Schwarz opfert sogar noch einen zweiten Bauern und bekommt dafür einen großen Entwicklungsvorsprung. In solchen Stellungen kann ein Verteidiger leicht fehlgreifen, wie auch diese Partie zeigt:
Bei der Schacholympiade 1930 in Hamburg wurden übrigens auch schon zwei Partien mit dem Marshall-Angriff gespielt, allerdings eine in der „Urform“ mit 9.exd5 e4 (Gosta Stoltz – Hermann Steiner) und die andere mit der zweitklassigen Fortsetzung 11. ... Sf4? (Aristide Gromer – Johannes van den Bosch). Beide Partien wurden von Weiß gewonnen und sind in der MEGA Database von ChessBase zu finden.
Warum sich die moderne Form des Marshall-Angriffs immer mehr durchsetzte, zeigt ein Blick in die Statistik. In der MEGA-Database von ChessBase fand ich aus dem Zeitraum von 1939 bis 1949 insgesamt 16 Partien mit 11. ... c6!. Davon wurden sieben von Schwarz gewonnen und nur vier von Weiß. Fünf Partien endeten unentschieden. Im
selben Zeitraum fand ich acht Partien mit der älteren, aus der Partie Capablanca - Marshall (New York 1918) bekannten Fortsetzung 11. ... Sf6. Hier dominierte Weiß mit
+ 5, - 2, = 1. Diese Tendenz setzte sich auch in den 50er und 60er Jahren weiter fort.
Ab ca. 1947 beschäftigten sich mit Juri Averbakh, Alexei Suetin, Vladimir Simagin und Alexey Sokolsky gleich vier sowjetische (Groß-)Meister mit dem Marshall-Angriff und probierten die neue Variante 11. ... c6 in ihren Partien aus. Dies führte naturgemäß zu einer gründlicheren theoretischen Erforschung des Gambits und zog auch Nachahmer an. Bekannte Großmeister, welche den Marshall-Angriff in seiner modernen Form anwandten, waren in den nächsten Jahrzehnten u. a. Jan Hein Donner, Nikolai Krogius, Fridrik Olafsson, Dr. Helmut Pfleger, Mihail Tal, Boris Spassky, Efim Geller, Andor Lilienthal, Vlastimil Hort, Leonid Stein und Gyula Sax.
Im WM-Kandidatenfinale 1965 Tal - Spassky kam der Marshall-Angriff gleich dreimal vor (Spassky jeweils mit Schwarz). Alle drei Partien endeten unentschieden, wobei Tal in zwei Fällen mit 14.Te3! stärker fortsetzte als Dulanto in Buenos Aires 1939:
Spassky gewann das Kandidatenfinale gegen Tal mit 7:4 und verlor den WM-Kampf 1966 gegen Petrosian nur knapp mit 11 1/2 : 12 1/2.
Bobby Fischer (Weltmeister von 1972 – 1975) spielte den Marshall-Angriff selber nicht, musste aber fünfmal mit Weiß dagegen antreten. Seine Bilanz: + 1 - 0 = 4. Wenn selbst ein Großmeister von der Klasse eines Bobby Fischer gegen den Marshall-Angriff nur eine von fünf Partien gewinnen kann, zeigt dies die Vitalität der Variante. In der Gewinnpartie wählte der holländische Großmeister Jan Hein Donner im 16. Zuge mit Schwarz eine weniger günstige Fortsetzung:
Trotz der Niederlage ließ sich Donner ein Jahr später gegen denselben Gegner nochmals auf diese Variante ein:
Hier sind die übrigen drei vergeblichen Versuche von Bobby Fischer, den Marshall-Angriff zu knacken, eine davon gegen seinen späteren WM-Gegner Boris Spassky:
Seit den 70er Jahren bis heute hat sich die moderne Form des Marshall-Angriffs als gut spielbare Alternative zur Hauptvariante des geschlossenen Spaniers endgültig durchgesetzt. Fast alle bekannten Großmeister, welche 1.e4 mit e5 beantworten, haben den Marshall-Angriff schon einmal angewandt. Unter ihnen sind mit Vladimir Kramnik, Viswanathan Anand und Magnus Carlsen auch die drei letzten Weltmeister.
Im WM-Kampf gegen den ungarischen Großmeister Peter Leko 2004 im schweizerischen Brissago musste Weltmeister Vladimir Kramnik die Gefährlichkeit des schwarzen Angriffs selbst schmerzlich erfahren. Während er mit Weiß seine Hoffnungen auf einen Freibauern am Damenflügel setzte, spielte Leko konsequent auf Matt:
Peter Leko führte in dem WM-Kampf gegen Kramnik vor der 14. und letzten Runde noch mit 2:1 bei 10 Remisen, verlor jedoch die entscheidende Partie mit den schwarzen Steinen in einer Caro-Kann-Verteidigung. Ob er wohl Weltmeister geworden wäre, wenn er noch einmal den Marshall-Angriff riskiert hätte?
Dieser bescheiden anmutende Bauernzug wird allmählich populär. Jedenfalls wurden mit dieser Variante in den letzten Jahren einige aufschlussreiche Partien gespielt. Bei der europäischen Mannschaftsmeisterschaft 2015 in Reykjavik gelang Peter Svidler mit Schwarz ein sehenswerter Sieg gegen Vassily Ivanchuk:
In Saint Louis 2015 gewann Wesley So mit Weiß gegen Alexander Onischuk. Er gab, ganz im Sinne der früheren Weltmeister Wilhelm Steinitz und Dr. Emanuel Lasker, den Gambitbauern zurück und machte auch im Folgenden keine Versuche, noch einen Bauern mitzunehmen. So erhielt er eine schöne Initiative, in deren Folge Schwarz fehlgriff:
Opening package: 1.b3 and Black Secrets in the Modern Italian
Wesley So hat bei ChessBase 2 Eröffnungs-DVD veröffentlicht: 1.b3, der so genannte Nimzowitsch-Larsen-Angriff, aus weißer Sicht und seine Geheimnisse im modernen Italienisch (mit c3 und d3) aus schwarzer Sicht.
Der Marshall-Angriff bietet Schwarz gute Gegenchancen, allerdings muss derjenige, welcher ihn anwendet, taktisch stark und bereit sein, ein bis zwei Bauern für eine gefährliche Initiative zu opfern. Mit Weiß andererseits sollte sich nur ein guter Verteidiger auf den Marshall-Angriff einlassen. Um ein eifriges Studium der wichtigsten Varianten führt für beide Seiten kein Weg vorbei.
Wer sich näher mit dem Marshall-Angriff beschäftigen möchte, sollte sich das neue Power-Book Spanisch von ChessBase besorgen. Es enthält den neuesten Stand der Theorie.
Wie der Marshall-Angriff in die Welt kam (I)