Eine Liebesgeschichte: Lev Polugaevskys "Aus dem Labor des Großmeisters"

von Johannes Fischer
30.08.2025 – Vor 30 Jahren, am 30. August 1995, starb der sowjetische Großmeister Lev Polugaevsky in Paris an den Folgen einer Krebserkrankung. Zur Erinnerung an den bekannten Theoretiker, der lange zu den besten Spielern der Welt gehörte, wirft Johannes Fischer einen Blick auf Polugaevskys Buch "Aus dem Labor des Großmeisters", in dem Polugaevsky über seine jahrzehntelange Leidenschaft für "seine" Variante spricht. | Foto: Anefo / Croes, R.C.

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Viele Schachspieler neigen bei der Eröffnungswahl zum Pragmatismus: wenig Theorie, keine komplizierten Varianten, klare Pläne, minimaler Aufwand. Lev Polugaevsky ging andere Wege: Er brannte für eine Eröffnungsvariante, in der jeder falsche Zug fatal sein konnte, in der man eine Unzahl von Varianten sehr genau kennen musste und die als theoretisch anrüchig galt: der nach ihm benannten Polugaevsky-Variante, einem der schärfsten Abspiele des an scharfen Abspielen nicht gerade armen Najdorf-Sizilianers. Sie entsteht nach den Zügen 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6 6.Lg5 e6 7.f4 b5!?. Anders als es zunächst scheinen mag, kann Weiß hier keine Figur gewinnen, da Schwarz nach 8.e5 dxe5 9.dxe5 Dc7 spielt, um nach 10.exf6 De5+ den ungedeckten Läufer auf g5 einzusammeln und Weiß an die Schwächen in seiner Stellung zu erinnern.

Polugaevsky wurde am 20. November 1934 in Mahiljou, im heutigen Belarus, geboren, und starb am 30. August 1995 in Paris an den Folgen einer Krebserkrankung. In den 70er Jahren gehörte er zu den besten Spielern der Welt und schaffte es zwei Mal (im Juli 1972 und im Januar 1976) auf Platz drei der Weltrangliste. Dreimal landete er bei sowjetischen Meisterschaften auf dem geteilten ersten Platz und dreimal qualifizierte er sich für die Kandidatenwettkämpfe, wo er allerdings einmal an Anatoli Karpow (1974 im Viertelfinale, Polugaevsky verlor klar mit 2,5-5,5) und zweimal an Viktor Kortschnoi scheiterte (1977 unterlag Polugaevsky im Halbfinale mit 4,5-8,5, drei Jahre später, im Halbfinale 1980, dann mit 6,5-7,5).

Polugaevsky galt als fleißig, diszipliniert und als hervorragender Theoretiker und Analytiker. Er arbeitete als Sekundant und Trainer von Karpow und trainierte nach seinem Umzug nach Paris 1989 auch eine Reihe französischer Talente, unter anderem Joel Lautier. Doch Polugaevskys bleibendes Vermächtnis ist sein Buch Aus dem Labor des Großmeisters, eines der interessantesten Eröffnungsbücher aller Zeiten. Dabei ist es kein klassisches Eröffnungsbuch, denn Polugaevsky empfiehlt kein Repertoire und liefert auch keinen Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten von Schwarz und Weiß und den aktuellen Stand der jeweiligen theoretischen Abspiele.

Stattdessen schildert er mit Hilfe detaillierter Analysen seine Jahrzehnte lange leidenschaftliche Liebe zur Polugaevsky-Variante und seine unermüdlichen Versuche die theoretische Korrektheit dieser Variante nachzuweisen. Polugaevskys Leidenschaft für dieses System begann zwischen 1956 und 1957, als er den Zug 7…b5 zusammen mit dem sowjetischen Meister Juri Schaposchnikow, der wie Polugaevsky in der russischen Stadt Kuibyschew wohnte, das erste Mal analysiert. Mit der Zeit begeisterte sich Polugaevsky immer mehr für die vielen Möglichkeiten des Schwarzen. "Im Laufe eines halben Jahres verbrachte ich täglich (!) [Ausrufezeichen im Original] mehrere Stunden am Brett mit Stellungen aus der Variante, und als ich spät abends einschlief, erschien mir die Variante im Traum. ... Sie war, bildlich ausgedrückt, eine Zeitlang mein ‚zweites Ich‘ geworden." (Lev Polugaevsky, Aus dem Labor des Großmeisters, Düsseldorf: Rau Verlag 1980, S. 28.)

Doch der Zug 7...b5 galt damals als theoretisch anrüchig und kaum spielbar. So zitiert Polugaevsky eine Reaktion Wassily Smyslows auf dieses Eröffnungsexperiment:

"Den nächsten Markstein in der Entwicklung der Variante stellt meine Partie gegen Bagirow dar, die im Januar 1960 bei der UdSSR-Meisterschaft in Leningrad ausgetragen wurde. Als ich meinen 15. Zug ausführte und mich vom Spieltisch erhob, kam Smyslow auf mich zu und sagte mit einer Stimme, in der Tadel ganz deutlich zu hören war: ‚Oh, Leo, Leo! Was erlauben Sie sich in Ihren jungen Jahren? Bei Ihnen stehen ja alle Figuren noch auf der letzten Reihe! Reicht Ihnen diese Variante in einer einzigen Partie pro Meisterschaft nicht aus? Schonen Sie lieber Ihre Nerven!’." (S. 54).

Aber Polugaevsky wollte weder sich noch seine Nerven schonen, sondern seiner Variante die Treue halten:

"In meinem Inneren war ich fest davon überzeugt, daß ich die Variante so lange spielen werde, bis ich auf ihre absolute Widerlegung stoße. Und dann... werde ich ihre Analyse fortsetzen. Ich werde eine Widerlegung der Widerlegung suchen." (S. 54).

Das tat er dann auch – bis zum Ende seines Lebens. Die letzte Partie Polugaevskys mit "seiner" Variante, die man in den Datenbanken findet, spielte er 1993, ein Jahr vor seinem Tod, beim PCA Turnier in Groningen. Er kam gegen den jungen amerikanischen Großmeister Wolff zu einem Remis. Aber in den über 30 Jahren, in denen Polugaevsky mit seiner Variante lebte, durchlitt er auch zahlreiche Krisen. Zur vielleicht größten kam es bei der 29. UdSSR-Meisterschaft 1961 in Baku.

"Kaum waren die ersten Runden der Meisterschaft vorbei, da übergab man mir einen Zettel von Judowitsch. ... Er enthielt eine exakte und ausführliche Analyse, aus der hervorging, daß Schwarz in [einer kritischen Variante des Systems] zwangsläufig verliert. ... Nach all dieser Mühe packte mich eine immer größer werdende Apathie, die Variante wurde mir mit jedem Tag gleichgültiger. ... So entschloß ich mich, von der Variante Abschied zu nehmen: ‚Mir genügt es! Die ewige Suche und die ständigen bitteren Enttäuschungen haben mich müde gemacht! ... Herzlichen Dank Dir für alles, liebe Variante! Nimm mir meine Untreue nicht übel! Auf Nimmerwiedersehen!" (S. 68-70)

Nach der Meisterschaft greift er noch in zwei Partien zu seiner Variante, doch von April 1962 bis Juni 1973 findet man in den Datenbanken keine einzige Partie Polugaevskys mit der Polugaevsky-Variante. Doch dann, als er irgendwann in seinen alten Notizen blättert, entdeckt er neue Möglichkeiten für Schwarz und nimmt die Variante wieder in sein Repertoire auf.

Es ist dieses fortgesetzte Ringen um die Spielbarkeit seiner Variante, die das Buch so faszinierend macht. Außerdem inspiriert Polugaevskys Leidenschaft, und man fragt sich beim Lesen, ob es nicht eine Eröffnungsvariante gibt, die man mit der gleichen Begeisterung und Leidenschaft studieren könnte? Zugleich drängt sich allerdings auch die ketzerische Frage auf, ob Polugaevsky sportlich nicht noch erfolgreicher gewesen wäre, wenn er gelegentlich zu Russisch oder Spanisch gegriffen hätte.

Aber Polugaevsky ging es eben nicht nur um Punkte. So schreibt er über eine 1959 gespielte Partie gegen Zagorovsky, die "Urquelle der Variante":

"Ich muß gestehen, daß ich in keiner anderen Partie so aufgeregt war, wie in dieser. ... Ich war sicher: eine neue Variante ... ist zur Welt gekommen. Es gibt im Leben Augenblicke, in denen sich der Mensch über sich selbst, über alles Kleinliche, Alltägliche erhebt. Solch einen Augenblick erlebte ich während der Partie gegen Zagorovsky und bin eben dafür (doch nicht für den Punkt in der Turniertabelle) der Variante zu ewigem Dank verpflichtet." (S.53)

Diesen Enthusiasmus merkt man der Partie und dem gesamten Buch auch Jahrzehnte nach seinem Erscheinen immer noch an.

Dieser Artikel erschien zuerst im Karl 2/2024. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.

Im ersten Teil der Videoreihe werden wir uns mit 6. Lg5, 6. Le3, 6. Le2 und 6. Lc4 die vier Hauptzüge von Weiß anschauen.

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Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".