07.11.2016 – Was tun gegen 1.d4? Stefan Kindermann, Autor, Großmeister, Trainer, Coach und Mitgründer der Münchener Schachakademie und Münchener Schachstiftung weiß Rat: Er empfiehlt den "listigen Leningrader", eine universelle Waffe gegen 1.d4, 1.Sf3 und 1.c4. Ein Gastbeitrag von Christoph Eichler. Mehr...
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Stefan Kindermann: Der listige Leningrader Eine universelle Waffe gegen 1.d4, 1.Sf3 und 1.c4
Rezension von Christoph Eichler
Der Autor der DVD
Für die meisten Schachfreunde dürfte der Name Stefan Kindermann ein Begriff sein. Ein Höhepunkt in der Spielerkarriere des Münchener Großmeisters war sein Erstrundenerfolg bei der FIDE Weltmeisterschaft 1997/98, den er einem Schwarzsieg in der entscheidenden Tie-Break Partie verdankt. Raten Sie mit welcher Eröffnung! Daneben machte er sich als Mitgründer der Münchener Schachakademie und Münchener Schachstiftung, sowie als Koautor des "Königsplans" einen Namen als Trainer und über das Schachspiel hinaus als Coach.
Bereits 2002 schrieb er ein viel beachtetes Buch über das Leningrader System, das 2005 in einer überarbeiteten englischsprachigen Ausgabe erschien. In seiner Turnierpraxis wandte Kindermann diese Eröffnung jahrelang erfolgreich an. Unter anderem gegen Weltklassespieler wie Kortschnoi, Hübner, Gelfand, Jussupow, Beliavsky, Van Wely, Dreev und Milov.
Ich kenne Stefan seit über 15 Jahren persönlich und habe ihn als scharfsinnigen Kiebitz, fairen Gegner und loyalen Mannschaftskameraden kennen und schätzen gelernt. Wann immer ich die Gelegenheit hatte, mit ihm zu analysieren, profitierte ich von seinen klaren und verständlichen Einschätzungen.
Die Leningrader Variante der holländischen Verteidigung
Im Mittelpunkt des Repertoires steht die Hauptvariante, die z.B. nach den Zügen 1.d4 f5 2.g3 Sf6 3.Lg2 g6 4.Sf3 Lg7 5.0-0 0-0 6.c4 d6 7.Sc3 entsteht. Kindermann empfiehlt, von seinen bisherigen Publikationen abweichend, den Zug 7. ... c6.
Mit dem holländischen Eröffnungszug 1. ... f5 strebt der Nachziehende eine zweischneidige Partie an und ist bereit, dafür Risiken einzugehen. Einerseits leistet der Doppelschritt des schwarzen f-Bauern keinen Beitrag zur Figurenentwicklung und schwächt obendrein die Königsstellung. Wie Kindermann als Anekdote zum besten gibt, empfand Kortschnoi es deshalb quasi als persönliche Beleidigung, wenn sein Gegner diesen "minderwertigen" Zug wählte.
1. ... f5 bietet aber auch Chancen. Der f-Bauer kontrolliert das wichtige Zentralfeld e4, gewinnt Raum am Königsflügel und legt damit den Grundstein für einen eventuellen Angriff gegen den weißen Monarchen. Zudem tun sich viele Weißspieler gegen Holländisch/Leningrader schwer, weil der Anziehende in diesen Stellungen seinerseits energisch und kompromisslos vorgehen muss.
Um zu verdeutlichen, wie vielfältig und inhaltsreich die entstehenden Strukturen sind, hier noch drei weitere Beispielstellungen aus kritischen Varianten, die ebenfalls ausführlich besprochen werden:
Hauptvariante mit b4
Karlsbader Variante
Das ernst zu nehmende 2.Sc3
Aufbau und Inhalt der Videoserie
Nach einem Überblick über das empfohlene Repertoire - sehen Sie sich hierzu auch die Vorschau an - folgen noch vor dem Theorieteil nicht weniger als 22 kritische Stellungen aus Meisterpartien, anhand derer Kindermann typische Motive für Schwarz und Weiß erläutert. Mit einprägsamen Begriffen wie der "holländischen Lanze" oder dem "Berserkerangriff" und Merkregeln wie "ein Tausch auf e6, bei dem Weiß mit dem Bauern zurück schlagen muss, ist fast immer günstig für Schwarz" werden die Motive für den Lernenden greifbar. Um es mit den Worten des schottischen Großmeisters Rowson zu sagen, der den folgenden Satz aus seinen "Todsünden" in "Schach für Zebras" selbst zitiert: "Das Muster ... wird absorbiert und dem Betrachter vertraut, und irgendwann kann das Hauptmotiv des Musters auch in unbekannten Stellungen aufgespürt werden."
Kindermann folgt sowohl bei den Motiven, als auch im Theorieteil einem erfrischend menschlichen Ansatz und weicht regelmäßig von den Zugvorschlägen oder Bewertungen der Analyseprogramme ab. Er untermauert seine Einschätzungen mit spezifischen Merkmalen der Stellung oder möglichen Plänen. Folgt man den abweichenden Zügen der Engine, zeigt sich im weiteren Verlauf fast immer, wie zutreffend Kindermanns Bewertungen sind. Einzig bei den Weißmotiven 1 und 4 vermute ich, dass Kindermann je eine angeführte Untervariante nicht Computer geprüft hatte und im Nachhinein anders besprechen würde. Dies wohlgemerkt fernab der Repertoireempfehlungen.
Das Repertoire
Die zwischen drei und neun Minuten langen Theorieclips beginnen mit den Hauptvarianten und führen sukzessive zu den früheren Abweichungen des Anziehenden, bis hin zu den durchaus ernst zu nehmenden Versuchen 2.Sc3 und 2.Lg5. Ein detailliertes Inhaltsverzeichnis aller Videos können Sie im Shop einsehen.
Auch im Theorieteil legt Kindermann den Schwerpunkt auf allgemeines Stellungsverständnis und erläutert immer wieder Rezepte, wie man auf bestimmte Manöver reagieren sollte, oder welche Strukturen günstig bzw. ungünstig sind. Ergänzend dazu finden Sie in der mitgelieferten "Theorie" Datenbank weitere Varianten und vollständige Partieverläufe.
Im Leningrader kommt es verhältnismäßig selten auf konkretes Wissen an. Wo dies doch der Fall ist, etwa weil eine wichtige Ressource von den üblichen Mustern abweicht, weist Kindermann eindringlich darauf hin: "diesen Zug sollte man drauf haben". Er räumt ein, dass man in den ersten sechs Zügen einige konkrete Zugfolgen kennen sollte, denn es gibt trickreiche Versuche, die Schattenseiten der schwarzen Spielweise früh auszunutzen.
Gegen 1.d4 bietet die Videoserie ein umfassendes Repertoire an. Gegen die Reti-Eröffnung 1.Sf3, insbesondere mit der giftigen Zugfolge 1.... f5 2.d3, sowie gegen die englische Eröffnung 1.c4 gibt Kindermann Anregungen, möchte diese aber nicht vollständiges Repertoire verstanden wissen.
Die abschließenden neun Testaufgaben haben es in sich. Bitte nehmen Sie sich Zeit, selbst nach den besten Fortsetzungen zu suchen. Vielleicht sogar gemeinsam mit anderen Schachfreunden am Vereinsabend. Wenn Sie sich intensiv mit diesen Stellungen beschäftigen, können Sie Ihrem Verständnis für das Leningrader System den letzten Feinschliff verpassen.
Der Stresstest
Für einen Stresstest habe ich das 2012 erschienene "Kaufman-Repertoire" des gleichnamigen US-amerikanischen Großmeisters herangezogen. Folgt man den jeweiligen Empfehlungen entsteht nach den Zügen 1.d4 f5 2.Lg5 g6 3.Sc3 Lg7 4.h4 h6 5.Lf4 Sf6 6.e3 d6 7.Df3 0‑0 8.Lc4+ e6 9.Sge2 die folgende Stellung:
Kaufman urteilt, dass Weiß über aktivere Figuren verfügt und noch entscheiden kann, auf welche Seite er rochiert. In beiden Fällen stehe der weiße König sicherer. Diese Einschätzung erscheint auf den ersten Blick durchaus plausibel.
Kindermann untersucht die Stellung ausführlich und führt mögliche Fortsetzungen vor. Er zeigt auf, dass der weiße Angriff gefährlicher aussieht, als er in Wirklichkeit ist und oftmals ins Stocken gerät. Tatsächlich hat auch die Praxis gezeigt, dass Schwarz diese Stellung nicht fürchten muss.
Mein Fazit
Das didaktische Konzept dieser Videoserie begeistert mich! Wer sich konsequent an die Tipps im Video "zum Umgang mit dieser DVD" hält, hat allerbeste Aussichten auf einen fundierten Einstieg in die Welt des Leningraders. Die Serie ist für mich ein Musterbeispiel, wie man an das Studium einer (neuen) Eröffnung herangehen sollte und damit über das konkrete Thema hinaus lehrreich.
Wenn ich mir noch etwas hätte wünschen dürfen, dann vermutlich weitere (kommentierte) praktische Beispiele Kindermanns. Die Datenbank "Leningrader Praxis Kindermann" enthält nur zwei Partien und hätte damit auch Bestandsteil der 76 "Modellpartien" werden können, in der fünf weitere Partien des Autors zu finden sind. Zudem vielleicht noch ein zusätzliches Video, wie sich Schwarz gut aufstellt, falls der Anziehende sich schablonenartig nach dem Colle- oder Londoner System entwickelt. Diese Spielarten sind theoretisch unkritisch, dürften aber auf Vereinsniveau recht häufig vorkommen.
Für wen ist diese Videoserie geeignet? Wenn Sie über keine oder geringe Vorkenntnisse verfügen, meines Erachtens locker bis zu einer Spielstärke von 2400 Elo. Wenn Sie bereits erfahrener Leningrader Spieler sind, dann ist die Serie bis 2200 Elo ein Muss, aber auch darüber hinaus zu empfehlen. Eine Untergrenze sehe ich nur indirekt, was zur nächsten Frage führt:
Für wen ist Holländisch/Leningrader als Schwarzrepertoire geeignet? Wie Kindermann selbst zu bedenken gibt, ist die der Zug 1. ... f5 Anfängern nicht zu empfehlen. Falls Sie also noch am Anfang Ihrer Schachlaufbahn stehen, sollten Sie zunächst Erfahrungen mit klassischen Eröffnungen, wie zum Beispiel dem abgelehnten Damengambit sammeln. Wenn Sie dies bereits getan haben, eine kampfbetonte Eröffnung mit verwickelten Positionen suchen und bereit sind, dafür Risiken in Kauf zu nehmen, dann ist Ihnen Holländisch/Leningrader absolut zu empfehlen. Ich persönlich würde den Leningrader diesbezüglich der Königsindischen Verteidigung vorziehen, weil 1) die Weißspieler seltener dagegen spielen 2) die Theorie weniger erforscht ist und es 3) kaum Abspiele gibt, in denen der Anziehende ein "sicheres" Remis anstreben kann. Auch die Statistik drückt aus, dass der Leningrader sowohl auf Amateur-, als auch auf Profiniveau gut spielbar ist.
Sehr gut vorstellen kann ich mir den Leningrader auch als Zweitrepertoire zu einer bereits erlernten solideren Eröffnung. Je nach Spielstärkeunterschied, Turniersituation, Vorlieben des Gegners oder auch Stimmung können Sie auf diese Weise variieren und Ihre Gegner überraschen. In seinem frei verfügbaren Video "Carlsen Gives his Top 13 Chess Tips", rät der norwegische Weltmeister in Tipp Nummer fünf: "Erweitern Sie Ihren Horizont, probieren Sie verschiedene Eröffnungen aus (...) und erlangen Sie so ein breiteres Verständnis für das Spiel." Sie wissen, was Sie zu tun haben?
Beispielvideo:
Stefan Kindermann: Der listige Leningrader Eine universelle Waffe gegen 1.d4, 1.Sf3 und 1.c4
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