Felder der Erinnerungen: "Das Schachbrett" von Jean-Philippe Toussaint

von Johannes Fischer
28.05.2024 – Der belgische Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur und Fotograf Jean-Philippe Toussaint ist leidenschaftlicher Schachspieler, aber reiner Amateur: Er hat keine Elo-Zahl und war nie Mitglied eines Schachvereins, die Datenbanken enthalten keine Partien von ihm und sein vielleicht größter Erfolg war ein Beinahremis in einer Simultanpartie gegen Viktor Kortschnoi, die Toussaint am Ende jedoch, wie er selber sagt, noch "vergeigt" hat. Jetzt hat Toussaint mit "Das Schachbrett" ein wunderbares Buch vorgelegt, in dem das Schach eine große Rolle spielt. | Foto: Jean-Philippe Toussaint (links) und sein Übersetzer Joachim Unseld bei einer Lesung in Frankfurt am Main | Foto: Gerd Densing

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Begonnen hat er die Arbeit an diesem Buch während des Corona-Lockdowns, als er auch an einer Übersetzung von Stefan Zweigs "Schachnovelle" ins Französische gearbeitet hat. In "Das Schachbrett" hält Toussaint, vom Schach inspiriert, Rückschau auf 64 wichtige Momente seines Lebens.

Die Idee dazu kam ihm beim Besuch seiner alten Grundschule.

"Ich betrachtete diesen alten schwarzweißen Fliesenboden, der jetzt trocken und staubig war und auf dem sich langsam und träge sich bewegende Schatten überlagerten, die von Ästen der Kastanienbäume im Pausenhof oder von viel weiter her, aus den Abgründen der Vergangenheit stammten, und da wurde mir bewusst (…), dass der Boden der Eingangshalle meiner ehemaligen Schule aussah wie ein Schachbrett. Ich stand reglos vor dem Schachbrett meiner Erinnerung – und dort werde ich über die gesamte Länge dieses Buches stehen bleiben, das ist die Gegenwart dieses Buches, es ist seine unendliche Gegenwart." (S.7).

Mit Verweis auf das bekannte Problem, "für einen Springer auf einem Schachbrett eine Route zu finden, auf der dieser die 64 Felder durchläuft, ohne mehr als einmal auf demselben Feld zu verweilen", schreibt Toussaint:

"Ich beabsichtige selbst nicht eine derartige autobiographische Ausschließlichkeit. Nein. Ich werde mich allenfalls damit bescheiden, auf lässige Weise meinen Springer von Feld zu Feld wandern zu lassen, dem Lauf meiner Erinnerungen folgend, und versuchen, ein paar der flüchtigen und ergreifenden fragilen Schattenbilder, die mein Leben durchquert haben, wieder zum Leben zu erwecken." (S.7).

So erinnert er sich an seine Kindheit, an seine Schulzeit, an das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter, an den plötzlichen Tod zweier Schulfreunde, an die erste Begegnung mit seiner späteren Frau Madeleine und daran, wie, wann und vor allem wo er seine Bücher schrieb.

Schach spielt in Toussaints Erinnerungen eine große Rolle. So beschreibt er, wie er mit seinem Vater Yvon Toussaint, einem erfolgreichen und bekannten Journalisten, während eines Urlaubs in Portugal stundenlang Schach gespielt hat, aber keine einzige Partie gewinnen konnte. Der Vater will nicht, dass sein Sohn gegen ihn gewinnt, und als Toussaint Schachliteratur entdeckt und studiert und dadurch stärker wird als sein Vater, findet der immer wieder neue Ausreden, um nicht gegen seinen Sohn zu spielen.

Während er seine Erinnerungen schreibt, reflektiert Toussaint auch immer über das Schreiben selbst, darüber wie Erinnerung funktioniert und wie man durch Erinnerungen zu dem wird, der man ist.

"Das Schreiben von Romanen ist eine Methode der Selbsterkenntnis. Es genügt die Annahme, dass die Geschichten des Buches, das, was ein Buch beschwört, evoziert, zusammenbringt, was es erzählt, die Bilder, die es heimsuchen, die Wörter, aus denen es komponiert ist, nie aus Zufall entstehen, sondern immer ein Schicksal zum Ausdruck bringen, das über das Buch hinausweist: einen psychischen Konflikt, ein unbewusstes Verlangen oder einen verborgenen Knoten, den es zu lösen gilt. ... Das Buch, an dem ich schreibe, ist ein Buch des Ursprungs. Es ist die Geschichte einer Berufung, nicht wie ich Schachspieler geworden bin – nein, ich bin kein Schachspieler geworden –, sondern wie ich Schriftsteller geworden bin.

In diesem Buch habe ich mir eine Sache klar gemacht: Mein Vater hat mir auf symbolische Weise verboten, ihn beim Schach zu schlagen, aber er hat mir stillschweigend (kursiv im Original) die Erlaubnis erteilt, Schriftsteller zu werden. Ich hatte keine Berufung, ich hatte die Erlaubnis." (S. 201-202)

Toussaint erinnert sich auch an sein erstes, Anfang der 80er Jahre geschriebenes, doch nie veröffentlichtes Buch, das von einer Schachweltmeisterschaft handelt, "die zehntausend Partien andauerte, die das ganze Leben lang dauerte, die das ganze Leben bestimmte". (S.25) Oder an den Film Berlin 10:46, den er zusammen mit dem deutschen Regisseur Torsten Fischer gemacht hat, und in dem sich in Berlin die Wege einer französischen Fotografin, eines Berliner Architekten, eines Auftragskillers und eines Schachgroßmeisters kreuzen.

Den Schachgroßmeister verkörpert Artur Jussupow, damals einer der besten Spieler der Welt. Im Film spielt er eine Partie gegen einen Großmeister namens Lanskoronkis, der von Toussaint gespielt wurde – und Lanskoronskis ist der Geburtsname von Toussaints Mutter, die litauische Vorfahren hat. Laut Drehbuch verliert Jussupow diese Partie, doch in einer originellen Volte schlug Jussupow während der Dreharbeiten vor, als Vorlage für die Partie, die er im Film verliert, die berühmteste Partie zu nehmen, die Jussupow im Laufe seiner Karriere gewonnen hat: seinen Sieg gegen Vasyl Ivanchuk im Tiebreak des Viertelfinales der Kandidatenwettkämpfe in Brüssel 1991.

Das Buch endet mit Toussaints Erinnerungen an den französischen Internationalen Meister Gilles Andruet, der zu den besten Spielern Frankreichs gehörte, als Toussaint ihn kennengelernt hatte. Toussaint traf sich damals mit anderen Schachenthusiasten regelmäßig in der Bibliothek des Centre Pompidou in Paris, die auch eine Abteilung mit Schachbüchern hatte, um zu blitzen, Partien nachzuspielen oder über Schach zu reden. Eines Tages kommt Andruet vorbei und erklärt, dass er die Schachspieler dort alle in einem Blindsimultan schlagen würde. Was er dann auch tat. Andruet und Toussaint freunden sich an, doch verlieren sich aus den Augen, als Toussaint sich seltener in Schachkreisen bewegt.

Jahre später liest er in einer Zeitungsmeldung schockiert, dass Andruet Opfer eines Verbrechens geworden ist. "Er war zu Tode geprügelt, mit einem Baseballschläger erschlagen worden. Man hatte seinen Leichnam am Ufer eines Flusses gefunden, in ein Bettlaken gewickelt, ein Arm ragte aus dem Plastiksack heraus. Er war siebenunddreißig Jahre alt." (S. 252)

Der Schlusssatz des Buches deutet an, welche Bedeutung Andruet für Toussaint hatte: "Ich ... dachte an Gilles Andruet, der mein Leben wie ein nächtlicher Meteorit durchquert hatte und eine unauslöschliche Spur seiner Bahn im verlorenen Himmel meiner Jugend hinterließ." (S. 253)

Die vielen Verweise auf das Schach machen "Das Schachbrett" für Schachspieler vielleicht besonders reizvoll, aber vor allem ist das Buch eine Rückschau auf das eigene Leben, eine Reflektion über Erinnerung und Identität. Fesselnd und angenehm melancholisch geschrieben ziehen Toussaints Erzählungen und Gedanken in ihren Bann, und wohl auch dann, wenn man die Namen Nimzowitsch, Jussupow, Kortschnoi oder Andruet noch nie gehört hat. Toussaints Erinnerungen lösen immer wieder neue Erinnerungen aus und laden ein, genau wie der Autor über das eigene Leben und die Frage nachzudenken, wie man die Person geworden ist, die man geworden ist. Das macht "Das Schachbrett" zu einem bewegenden Buch, das lange nachhallt.

Jean-Philippe Toussaint, Das Schachbrett, Frankfurter Verlagsanstalt 2024, 256 Seiten, 24,00 Euro

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Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".
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