von Dejan Bojkov
Erzählen Sie uns, wie es bei Ihnen mit dem Schach angefangen hat?
Als ich fünf Jahre alt war, brachte mir meine Großmutter bei, wie man
Schach spielt. Und ich komme aus einer Familie, in der alle Schach spielen.
Alle meine Brüder spielen Schach und mein jüngerer Bruder ist Großmeister –
er wurde Jugendweltmeister U-20 als er 17 war. Leider hörte er auf,
ernsthaft Schach zu spielen, er arbeitet jetzt als Anwalt. Wie auch immer,
ich wuchs in einem Umfeld auf, in dem alle Schach spielten und für mich war
es ganz natürlich, das Spiel zu mögen. Ich mag es auch jenseits des
Wettkampfsports, mir gefällt die Schönheit, die entsteht, wenn jemand gut
spielt. Außerdem stellt das Schach für mich eine Verbindung zu meiner
Großmutter her. Ich habe sie sehr bewundert. Sie war ein unglaublicher
Freigeist und unglaublich unabhängig, sowohl auf dem Schachbrett als auch im
Leben. Sie spielte immer Königsgambit und immer bedingungslos auf Gewinn.
Ich habe sie sehr geliebt und sie hat mir Schach gegeben. Ich hatte nie
einen Trainer oder so etwas, aber ich hatte meine Großmutter als
Inspiration. (Auch ohne Trainer wurde Lilja elf Mal isländische
Frauenmeisterin! D.B.)
Jetzt sind Sie Präsidentin des Isländischen Schachverbands?
Ja, vor vier Jahren wurde ich Präsidentin des Isländischen Schachverbands.
Zuvor war ich Vizepräsidentin und davor habe ich mich stark für das
Frauenschach engagiert, ohne jedoch direkt mit dem Isländischen
Schachverband verbunden zu sein. Ich habe das in Eigenregie gemacht.
Zusammen mit GM Helgi Olafsson rief ich in der Schachschule eine Gruppe für
Mädchen/Frauen ins Leben. Ich wollte, dass mehr Mädchen Schach spielen und
zwar besser als ich. Wir wollten sie motivieren, besser zu werden als wir,
und wir wollten dafür sorgen, dass man sich nicht über sie lustig macht oder
sie ignoriert. Ich glaube, man muss sich irgendwann entscheiden, ob man
hilft, die Schachwelt aufzubauen oder selber spielt. Ich habe mich für
Ersteres entschieden – unter anderem auch deshalb, weil ich den Eindruck
habe, die Schachwelt ist chauvinistisch und von Männern beherrscht und neigt
dazu, Frauen auf die eine oder andere Weise herabzusetzen, manchmal mit sehr
raffinierten Methoden, die schwer zu bekämpfen sind. Meine Großmutter hätte
das nicht akzeptiert und ich ebenso wenig! Aber der Weg ist noch weit und
wie immer braucht man viele Menschen, um die Dinge zu ändern, Männer und
Frauen, nicht nur eine einzelne Person. Wir haben Glück, hier in Island
Leute zu haben, die Schach fördern wollen.
Sie haben erzählt, Sie träumen davon, ein Frauenteam an der
Olympiade teilnehmen zu lassen?
Ich habe fast zehn Jahre im Ausland gelebt und war nie sicher, ob ich
wirklich einmal wieder nach Island zurückgehe. Aber ich habe immer davon
geträumt, dass wir ein Frauenteam zur Olympiade schicken. Direkt nach meinem
Abitur in Island bin ich in die USA gegangen, um in Harvard zu studieren, wo
ich einen BA in Geschichte und Politikwissenschaft gemacht habe.
Anschließend bin ich nach Berlin gegangen und in den Jahren darauf habe ich
in diversen Städten in Europa gelebt und gearbeitet. Ich habe meinen
Magister in politischer Philosophie an der Cambridge University in England
gemacht und eigentlich nicht geglaubt, dass ich wieder in Island leben
würde; eigentlich wollte ich in London bleiben, wo es mir wirklich gut
gefiel. Aber ich bin dann nach Reykjavik zurückgekehrt, um Geld für das
isländische Frauenteam aufzutreiben und dafür zu sorgen, dass diesmal
wirklich eine Frauenmannschaft zur Olympiade geschickt wird. 16 Jahre lang
hatte Island keine Frauenmannschaft zur Olympiade geschickt und meiner
Meinung nach war es wichtig, ein Team zur Olympiade zu schicken, um Mädchen
zu motivieren, Schach zu spielen. Ich meine, wie können Leute, die
behaupten, eine Schachnation zu sein, das Thema Frauenschach vollkommen
vernachlässigen? Natürlich gibt jetzt jeder vor, an diesem Problem
interessiert gewesen zu sein, aber das stimmt einfach nicht – die Frauen,
die früher zur Olympiade gefahren sind, wurden oft verspottet und es
herrschte ein völliger Mangel an Verständnis. Aber schließlich wurde wieder
ein Team geschickt, weil wir darum gekämpft hatten und an der Spitze Leute
hatten, die engagiert waren. Und auch wenn es hier noch enorm viel zu tun
gibt, so hat Island jetzt doch mehr viel versprechende junge
Schachspielerinnen als je zuvor. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns und
sind noch weit zurück, aber haben Fortschritte erzielt. Meiner Meinung nach
sollte die ganze Schachwelt, Männer wie Frauen, begreifen, wie wichtig es
für den Fortschritt und die Verbreitung des Schachs ist, dass mehr Frauen
dabei sind – Frauen die Schach spielen, aber auch für eine bessere
Schachumgebung sorgen. Langfristig gesehen kommt das allen zugute, auch den
Männern (und sogar den Chauvinisten!); davon bin ich fest überzeugt.
Dieses Jahr findet die Europäische Einzelmeisterschaft vom 20.
April bis zum 3. Mai in Plovdiv, in Bulgarien, statt. Werden wir dort
Vertreter Islands sehen?
Mit Sicherheit. Traditionell haben wir meist nur einen Spieler im Namen
Islands geschickt und weitere isländische Spieler, die teilnehmen wollten,
mussten das zumindest teilweise in Eigenregie machen. Dieses Mal schicken
wir jedoch zwei unserer stärksten aktiven Großmeister, Hannes Hlifar
Stefansson und Hedinn Steingrimsson. Sagen wir einmal, wir schicken sie
nicht nur, weil wir fest an sie glauben, sondern auch, weil wir wissen, wie
gut man sie in Bulgarien behandeln wird ...
Premier Geir Haarde, Lilja Gretarsdottir, Dejan Bojkov
Wie entscheiden Sie, wer geschickt wird?
Sie wurden ausgewählt, weil sie zwei unserer stärksten aktiven Großmeister
sind und beide ihr Schach sehr ernst nehmen.
Erwartet man eine bestimmte Platzierung von ihnen?
So gut abschneiden, wie es nur geht, das ist ihre Aufgabe! Vielmehr können
wir nicht verlangen und außerdem muss sich der jeweilige Spieler immer
selbst ein Ziel setzen. Ehrgeiz und Zielstrebigkeit ist am Ende immer eine
Sache des Einzelnen.
Bei der Europäischen Mannschaftsmeisterschaft 2003 in Plovdiv waren
auch Mannschaften aus Island dabei. Welche Erinnerungen haben Sie an
Bulgarien?
Leider war ich in Plovdiv 2003 nicht dabei. Allerdings habe ich vor vielen
Jahren bei den Jugendweltmeisterschaften in Varna gespielt – was, ehrlich
gesagt, schon viel weiter zurückliegt, als mir lieb ist. Aber ich weiß noch,
dass ich Bulgarien wunderbar fand und gerne wieder hinfahren würde. Laden
Sie mich ein!
Sie sind immer eingeladen! Die Schachwelt weiß, dass Ihr Land und Ihr
Verband Bobby Fischer in einem sehr schwierigen Moment in seinem Leben
geholfen hat. Können Sie uns mehr darüber verraten?
Ja, der Isländische Schachverband hat sofort auf Fischers Verhaftung
reagiert. Ich war Präsidentin des Verbands und der damalige Vizepräsident
und ich sind mit einem scharfen Protestschreiben an George W. Bush sofort
zur US-Botschaft gegangen und haben Bobbys Freilassung verlangt.
Amerikanische Bekannte haben sehr verärgert reagiert und gemeint, Fischer
würde diese Behandlung verdienen. Wir waren absolut anderer Meinung und
wahrscheinlich kennen Sie den Rest der Geschichte, über die ja schon so viel
geschrieben wurde. Das RJF-Komitee wurde später gegründet und viele
engagierte und motivierte Leute haben geholfen, Fischer Freilassung
durchzusetzen. Der damalige Außenminister David Oddsson hat eine Menge
Bürokraten äußerst nervös gemacht, aber er ist nicht eingeknickt und hat
Bobbys Freilassung verlangt. Am Ende hat das isländische Parlament fast
einstimmig dafür gestimmt, Fischer die isländische Staatsbürgerschaft zu
verleihen. Ich kann nur sagen, ich bin stolz, dass mein kleines Land den Mut
hatte, gegen Bobbys Verhaftung zu protestieren, als niemand sonst gewagt
hat, etwas zu unternehmen und Bobby Fischer zu helfen, als er es am
Nötigsten hatte.
Nahm Fischer am Schachleben Islands teil, nachdem er nach Island
gekommen war? Hat der isländische Schachverband den Kontakt zu ihm gehalten?
Nein, Fischer hat überhaupt nicht am öffentlichen Schachleben teilgenommen.
Ich habe auch nie erwartet, dass er das tut und habe es auch nie von ihm
verlangt. Ich wollte nur, dass er ein freier Mann ist und tun konnte, was
immer er auch tun wollte. Alle wussten, dass Bobby sich öffentlich vom
klassischen Schach abgewandt hatte und für mich war es nie Thema, dass er
für Island spielt – nicht in einer Million Jahren. Er sollte einfach ein
freier Mann sein, der die Möglichkeit hat, sein Leben in Ruhe und Frieden zu
leben, so wie er es viele Jahre gewollt hatte – aber nicht im Gefängnis.
In den Medien erschienen verschiedene Berichte über seinen Tod. In
einem war zu lesen, dass nur sehr wenige Leute an seiner Beerdigung
teilgenommen haben. Stimmt das?
Ja, das stimmt, es waren nur wenige Leute bei seiner Beerdigung und das
passt ja auch zu Fischer. Wie jeder weiß, lebte Fischer sehr zurückgezogen
und er hat eine sehr stille Beerdigung verdient. Es hätte seinem Geist
vollkommen widersprochen, eine große Menge oder zahllose Medien dabei zu
haben. Ich bin froh, dass er in Ruhe und Frieden begraben werden konnte.
Schach ist sehr beliebt in Island. Warum? Und wann hat das
angefangen?
Natürlich gibt es viele und unterschiedliche Gründe, warum Schach in Island
so beliebt ist. Aber zuerst einmal würde ich auf die phantastische Karriere
des ersten isländischen Großmeisters, Fridrik Olafsson, hinweisen. Fridrik
spielte damals Weltklasseschach und das war kurz nachdem Island ein
eigenständiger Staat geworden war und sich von der dänischen Herrschaft
gelöst hatte. Eine Zeit, in der das Gefühl aufkam, eigenständig und
selbstbewusst zu sein und mit seinen internationalen Erfolgen war Fridrik
ein Symbol dafür, wie Isländer eigenständig in der Welt erfolgreich sein
konnten. Wenn Fridrik an internationalen Turnieren teilnahm, wusste
praktisch jeder, ob er verloren oder gewonnen hatte und in manchen Kinos
wurden sogar die Filme unterbrochen, um zu melden, wie seine Partie
ausgegangen war! Und dann kam natürlich der Wettkampf des Jahrhunderts 1972.
Wahrscheinlich muss ich nicht im Einzelnen aufführen, welch enorme Wirkung
dieser Wettkampf auf die Leute hier hatte; es war wirklich ein spektakulärer
Wettkampf, aus einer ganzen Reihe von Gründen. Dieser Wettkampf ist einer
der vielen Gründe, warum die Leute hier Fischer schützen möchten und Risiken
auf sich nehmen, um ihn vor dem Gefängnis zu bewahren. Die Leute hier haben
Fischer und Spassky aus dem Jahr 1972 noch in Erinnerung und hatten tief im
Inneren das Gefühl, es ist absolut verkehrt, dass er ins Gefängnis gesteckt
werden sollte – weil er Schach gespielt hat.
Ist Schach im Fernsehen zu sehen oder im Radio zu hören?
Ja, wir tun alles, was wir können, um Schach im Fernsehen und im Radio zu
verbreiten. Natürlich gibt es Konkurrenz durch andere Sportarten, Kunst
usw., also ist das nicht leicht. Aber wir arbeiten hart daran und versuchen,
phantasievoll zu sein, Dinge zu machen, die großartiges und aufregendes
Schach bieten, aber auch etwas, dass die Aufmerksamkeit auf sich zieht und
das Interesse der Leute weckt. Wahrscheinlich stehen wir im Vergleich zu
anderen Ländern in dieser Hinsicht gut da, obwohl wir uns natürlich
wünschen, dass die Lage noch viel besser wäre.
Wie unterstützt Island seine besten Spieler?
Nun, wer einen GM-Titel hat, erhält ein monatliches Gehalt vom Staat.
Zugegebenermaßen ist das kein sehr hohes Gehalt und man muss im Gegenzug
dafür Schachunterricht erteilen, aber ich glaube, dies ist ein System, das
es sonst nirgendwo auf der Welt gibt. Die Idee dahinter ist, die Leute zu
unterstützen, die sich dem Spiel verschreiben wollen. Aber meiner Meinung
nach können wir noch sehr viel in Bezug auf die Entwicklung einer Kultur des
disziplinierten und methodischen Trainings tun und internationale Trainer
nach Island holen, damit sie hier unterrichten. Wir versuchen, mehr in diese
Richtung zu tun, aber müssen uns hier noch stark verbessern. In Island im
Schach gut zu werden liegt vor allem am Einzelnen und seiner Bereitschaft,
auf sich allein gestellt zu lernen. Wir brauchen eine stärkere
Trainerkultur. Aber hoffentlich kommt das in der Zukunft noch!
Wird Schach an Schulen unterrichtet?
Nicht an allen Schulen, ja, nicht einmal an annähernd allen und in keiner
Schule ist es Pflichtfach. Aber an manchen Schulen, die hier wunderbare
Arbeit leisten, ist Schach sehr lebendig. Dies ist meiner Meinung der
Schlüssel für eine lebendige Schachkultur – Schach in die Schulen bringen,
in jede Schule. Wir machen Fortschritte und an Fischers Geburtstag, dem 9.
März, hat die Stadt Reykjavik in Zusammenarbeit mit dem Schachverband
angekündigt, dass sie plant, in den kommenden Jahren alle Schulen in
Reykjavik zu „Schulen mit Schach“ zu machen. Noch ein weiter Weg!
Können Sie uns mehr über das größte Schachturnier in Island
erzählen, das Reykjavik Open: Organisation, Sponsoren, Etat, usw.?
Nun, Sie waren hier, Sie haben die Organisation gesehen! Wir im
Schachverband hatten wirklich irre viel zu tun, aber wir haben unser Bestes
gegeben, um ein schönes Turnier auf die Beine zu stellen, an das man sich
gerne erinnert. Irgendetwas kann man immer besser machen, aber wir geben uns
sehr viel Mühe – und schließlich besteht der Schachverband aus Freiwilligen.
Wir alle opfern und Zeit und Energie, um etwas für das Schach zu tun. Hier
gab es nicht nur das Reykjavik-Open, sondern an Bobby Fischers Geburtstag
auch Veranstaltungen, die an ihn erinnern sollten: ein Turnier mit ein paar
seiner Zeitgenossen, bei dem Spassky Schiedsrichter war und Lombardy
kommentiert hat und zum Abschluss des Schachfestivals gab es ein
Blitzturnier mit 128 Teilnehmern. Wir glauben an das Schach und möchten,
dass Schachturniere sorgfältig und mit Liebe veranstaltet werden, also geben
wir uns Mühe. Außerdem haben wir großartige Sponsoren. Unsere Hauptsponsoren
sind die Glitnir Bank und die Stadt Reykjavik. Ohne sie wäre all das nicht
möglich.
Haben Sie vor, weitere große Schachturniere in Ihrem Schachland zu
organisieren?
Ja, natürlich! Aber Sie müssen versprechen, darüber zu schreiben!
Versprochen!
Vielen Dank, Lilja!
Aus dem Fischer-Spasski-Museum Reykjavik: