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21. April bis 22. Mai (8. April bis 9. Mai gemäß julianischem Kalender)
Das St. Petersburger Turnier fand vom 21. April bis zum 21. April bis 22. Mai statt, endete also heute vor genau 100 Jahren. Während in den meisten Ländern seit dem 16 Jahrhundert der gregorianische Kalender gültig ist, rechnete man in Russland zu Zeiten des Turniers noch nach dem von Peter dem Großen eingeführten julianischen Kalender, der dem gregorianischen Kalender um 13 Tage nachfolgt. Nach diesem lauteten die Turnierdaten 8. April bis 9. Mai.
In der Hauptstadt des russischen Reiches herrschte einen Monat lang Ungezwungenheit beim Schach, aber unterdessen nahmen außerhalb die Spannungen in den Beziehungen der europäischen Staaten zu. In England, Frankreich, Deutschland und auch Russland schien man von einem bevorstehenden Krieg auszugehen und rüstete schon seit einiger Zeit auf auf. Die Regierungen der einzelnen Länder klären zudem mit verschiedenen diplomatischen Aktionen ihre Beziehungen zu Drittländern. So bemühte sich England um das mit Österreich-Ungarn verbündete Italien. Russland suchte das Gespräch mit Vertretern des Osmanischen Reiches. Die USA war mit sich selbst und einem Konflikt mit ihrem südlichen Nachbarn beschäftigt.
Das waren die politischen Nachrichten während des St. Petersburger Turniers:
US-Präsident Woodrow Wilson ordnete am 21. April als Antwort auf die Spannungen mit Mexiko die Besetzung der mexikanischen Hafenstadt Veracruz an. Am 29. April wurde dort eine US-amerikanische Zivilregierung eingesetzt und 5000 weitere US-Soldaten gingen an Land.
Am Donnerstag, den 23. April, traten in Russland in den Städten St. Petersburg, Riga und Moskau etwa 100.000 Arbeiter in den Streik, nachdem am Tag zuvor einige sozialistische Abgeordnete wegen Störungen aus dem Parlament ausgeschlossen worden waren. Am 1. Mai legten erneut 150.000 Arbeiter die Arbeit nieder und protestierten damit gegen die Unterdrückung der sozialistischen Abgeordneten. Der finnische Landtag in Helsinki hatte unterdessen in einer Petition (vom 28. April) von der russischen Regierung die Wahrung der finnischen Sprache im Amtsverkehr und das Recht auf Vereins- und Versammlungsfreiheit gefordert. Am 3. Mai wurden die sozialistischen Abgeordneten erneut aus dem Parlament ausgeschlossen, bevor dieses in seiner Sitzung eine Anhebung des russischen Militärbudgets um 5% beschloss. Am 11. Mai empfing Zar Nikolaus II auf seinem Sommersitz in Liwadia (Krim) eine Delegation des Osmanischen Reiches.
Zar Nikolaus II (Foto: Wikipedia)
An dem Treffen waren der russische Außenminister Sergei Sasonow und der osmanische Innenminister Talaat Bey beteiligt. In Berlin betrachtete man die Annäherung zwischen Russland und dem Osmanischen Reich mit Argwohn. Der russische Reichsrat bewilligte zehn Millionen Rubel (21,6 Millionen Mark) für eine Kampagne zur Bekämpfung der Trunksucht im Land. Der Ausschank von Alkohol in öffentlichen Einrichtungen sollte von nun an untersagt werden.
Im Deutschen Reich bezeichnet der Industrielle Alfred von Hugenberg (Friedrich Krupp AG) in einer Rede von Arbeitern in Essen (25. April) den aus seiner Sicht bevorstehenden Krieg als eine ""befreiende Kraftprobe" für das Deutsche Reich. Am 29. April demonstrieren in Berlin mehrere jüdische Verbände gegen zunehmende antisemitische Tendenzen in der deutschen Jugendbewegung. Am 3. Mai stach in Cuxhaven das Passagierschiff "Vaterland", das größte Schiff der Welt (54 282 Bruttoregistertonnen), zu einer eintägigen Probefahrt in See. Bei der zweiten Lesung des Militärhaushalts im Berliner Reichstag wies der preußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn darauf hin, dass beim kommenden Haushaltsplan die schon im Juni 1913 beschlossene Aufrüstung im Vordergrund stehen werde. In der Sitzung vom 11. Mai kritisierte der sozialdemokratische Abgeordnete Karl Liebknecht die Kriegsvorbereitungen der deutschen Regierung, wobei aus seiner Sicht die treibende Kraft dahinter die Rüstungsindustrie sei. Am 14. Mai fordert der deutsche Generalstabschef Helmuth von Moltke in einer Denkschrift Maßnahmen zur Förderung der wirtschaftlichen Kriegsbereitschaft im Deutschen Reich.
Helmuth von Moltke
Am 20 Mai erläutert Generalstabschef Helmuth von Moltke Außenminister Gottlieb von Jagow in einem Gespräch die aus einer Sicht bestehende Notwendigkeit eines Angriffskrieges gegen Russland.
Am 1. Mai kam es in der österreichisch-ungarischen Stadt Triest zu Auseinandersetzungen zwischen Slowenen und Italienern. Die Italiener fordern den Anschluss Triests an Italien. Am 7. Mai gingen die Anhänger des Anschlusses an Italien erneut auf die Straße. Am 12. Mai kommt es auch in Venedig und Rom zu Demonstrationen gegen den Bündnispartner Italiens, Österreich-Ungarn.
Am 28. April besichtigte der französische Generalstab mit 25 Generälen und 230 Offizieren die Befestigungsanlagen zwischen Paris und der belgischen Grenze. Die französische Armeeführung erwartete im Falle eines möglichen Krieges mit dem Deutschen Reich in diesem Gebiet Konfrontationen mit deutschen Truppen. Als Sieger aus den französischen Parlamentswahlen am 10. Mai gehen die Sozialisten mit einem Zugewinn von 29 Sitzen und 102 Sitzen insgesamt. Thema des Wahlkampfes waren die dreijährige Wehrdienstzeit in Frankreich und die progressive Einkommenssteuer.
Der britische Außenminister Sir Edward Grey erklärte am 6. Mai im Unterhaus die Flottenpolitik der britischen Regierung. Die Aktivitäten anderer europäischer Regierungen, so Grey, im Besonderen des Deutschen Reiches, böten keinen Anlass die Aufrüstungsanstrengungen zu reduzieren. Am gleichen Tag lehnte das Oberhaus den Antrag auf Einführung des Frauenstimmrechts bei Parlamentswahlen mit 140 zu 60 Stimmen ab.
Vor der russischen Duma in Petersburg heute Leningrad erklärt Russlands Außenminister Sergei Sasonow, dass es keinen Anlass für engere militärische Absprachen innerhalb der Tripelentente (Russland, Frankreich, Großbritannien) gäbe und forderte eine Beruhigung der seit Anfang März erneut gestörten russisch-deutschen Beziehungen.
Das St. Petersburger Turnier wurde anlässlich seines zehnjährigen Bestehens der St. Petersburger Schachgesellschaft durchgeführt. Eingeladen werden sollten die 20 besten Spieler der Welt, allesamt "Großmeister". Nach der Definition der Organisatoren waren dies Spieler, die zuvor schon mindestens ein Turnier gewonnen hatten:
Auf der Einladungsliste standen:
Aus Russland: Ossip Bernstein, Akiba Rubinstein und Simon Winawer
Aus Deutschland: Emanuel Lasker, Siegbert Tarrasch, Richard Teichmann
Aus Böhmen: Oldřich Duras, Milan Vidmar
Aus Österreich: Carl Schlechter, Miksa Weiß, Rudolf Spielmann und Savielly Tartakower, der in Wien studierte.
Aus Ungarn: Géza Maróczy
Aus Frankreich: Dawid Markelowiecz Janowski
Aus England: Joseph Henry Blackburne, Amos Burn, Isodor Gunsberg
Aus den USA: Frank James Marshall
Aus Kuba: José Raúl Capablanca
Außerdem wurden die beiden Sieger des allrussischen Meisterturniers zugelassen: Aaron Nimzowitsch und Alexander Aljechin
Nicht alle eingeladenen Spieler wollten oder konnten dem Ruf Folge leisten. Die Spieler aus Österreich-Ungarn, Schlechter, Weiß, Duras, Vidmar, Maróczy und Tartakower blieben wegen der politischen Spannungen zwischen den Ländern Österreich-Ungarn und Russland allesamt fern. Richard Teichmann konnte die Einladung aus Krankheitsgründen nicht annehmen. Der 75-jährige Winawer nahm die Einladung wegen seines hohen Alters nicht wahr. Amos Burn reiste zwar zum Turnier an, beschränkte sich aber auf die Berichterstattung für "The Field". Schließlich wurde das das Turnier mit elf Spielern begonnen.
Fünf Meister: Lasker, Tarrasch (beide sitzend), Aljechin, Capablanca, Marshall
Für Emanuel Lasker war es das erste Turnier nach einer fünfjährigen Turnierpause. Der Weltmeister hatte eine Antrittprämie in Höhe von 4500 Euro ausgehandelt (zur Umrechunng in Euro s. unten). Auch Capablanca, der durch seinen Überraschungssieg beim Turnier von San Sebastian 1912 auf einen Schlag bekannt geworden war und manchen als zukünftiger Weltmeister galt, soll ein ordentliches Antrittsgeld erhalten haben. Alle Spieler erhielten zudem ihre Unkosten, insbesondere ihre Reisekosten großzügig erstattet. Für die Durchführung des Turniers hatte das St. Petersburger Organisations- Komitee unter der Leitung von Peter Alexandrovich Saburov insgesamt 19.000 Rubel zur Verfügung. Davon hatte Zar Nikolaus II. 1000 Rubel gespendet. Gespielt wurde im Vereinslokal der St. Petersburger Schachgesellschaft im Liteini prospekt 10.
Das Zuschauerinteresse war überwältigend und brachte dem St.Petersburger Schachklub zusätzliches Geld in die Kassen. Laut der Wiener Schachzeitung nahmen die Organisatoren schon am ersten Tag 800 Rubel ein. Die ersten drei Tage erbrachten 2000 Rubel. Allerdings seien die Eintrittspreise mit vier Mark auch sehr hoch gewesen. Wer ganz nah an die Großmeister heran wollte, musste sogar zehn Mark zahlen.
Die elf "Großmeister" traten zunächst in einer Vorrunde im Modus Jeder-gegen-jeden an. Als Bedenkzeit hatte man 30 Züge in zwei Stunden, gefolgt von 22 Zügen in 1,5 Stunden und 15 Züge in einer Stunde bis zum Ende der Partie festgelegt. Ursprünglich war vorgesehen, dass die vier besten Spieler der Vorrunde dann die Endrunde in einem Doppelrundenturnier bestreiten sollten. In Übereinstimmung mit den Spielern wurde das Format jedoch noch geändert und auch der fünfte Platz sollte noch zur Teilnahme an der Finalrunde berechtigen.
Vor der letzten Runde hatte nur Capablanca mit 7 Punkten auf seinem Konto den Finalplatz sicher. Um die übrigen vier Plätze stritten noch mit Marshall (6 Punkte), Lasker, Aljechin, Tarrasch (5,5) und Bernstein (5) fünf Spieler. Akiba Rubinstein, der vor dem Turnier vielen Schachfreunden als kommender Herausforderer des Weltmeisters Lasker galt, kam nur auf 4,5 Punkte und verpasste die Qualifikation für die Finalrunde. Pläne für einen Wettkampf zerschlugen sich.
Tarrasch und Lasker gewannen schließlich ihre Partien der Schlussrunde und qualifizierten ebenso für die Endrunde wie Aljechin, dem ein Remis gegen Janowski reichte. Marshall war in der Schlussrunde des Vorturniers spielfrei und konnte nicht eingreifen. Dem Amerikaner genügten aber seine 6 Punkte ebenfalls zum Einzug in die Endrunde.
Als Besonderheit nahmen die Spieler die gesammelten Punkte der Vorrunde mit in die Endrunde. Somit hatte Capablanca mit 1,5 Punkten Vorsprung nach der Vorrunde die besten Chancen, das Turnier für sich zu entscheiden.
In der Endrunde wuchs jedoch der amtierende Weltmeister Emanuel Lasker über sich hinaus und schloss es, beide Turnierteile zusammengerechnet, mit 13,5 Punkten ab. Dabei überflügelte er Capablanca um einen halben Punkt. Entscheidend dafür war Laskers Sieg gegen Capablanca im Zweiten Umgang der Finalrunde.
Capablanca und Lasker, hier bei ihrer Partie in der Vorrunde
Am folgenden Tag verlor der junge Kubaner erneut, diesmal gegen Tarrasch. Bei einer Abwicklung hatte er sich verrechnet, kämpfte dann aber noch mit einer Figur weniger lange um ein Remis.
Trotz der zwei Niederlagen von Capablanca musste Lasker in der Schlussrunde noch gegen Marshall gewinnen, um den alleinigen ersten Preis zu erlangen. Dies gelang dem Weltmeister in großem Stil.
Preisgelder:
Lasker: 1200 Rubel
Capablanca: 800 Rubel
Aljechin 500 Rubel
Tarrasch 300 Rubel
USA 250 Rubel
Schönheitspreise:
Capablanca 125 Rubel (Sieg über Bernstein)
Tarrasch 75 Rubel (Sieg über Nimzowitsch)
Blackburne 50 Rubel (Sieg über Nimzowitsch)
Umrechung in Euro:
1 Goldrubel = 3,22 Mark*
1 Papier - oder Silberrubel = 2,15 Mark
1 Mark von 1914 = ca. 5 Euro**
das heißt, 1200 Goldrubel entsprächen einem heutigen Wert von ca. 20.000 Euro
Im Anschluss an das Turnier wurde noch ein doppelrundiges Blitzturnier veranstaltet, das Capablanca ohne Verlustpunkt für sich entschied.
Alle Partien:
Quellen: Wiener Schachzeitung, Wikipedia
Levenfish on St Petersburg 1914...
St Petersburg 1914: The door to another age...
Edward Winter: The Saburovs....
*Der im Rahmen des Goldstandards festgelegte Wechselkurs gegenüber der Mark betrug 1912 0,303 pro Silberrubel bzw. 32,40 M für einen Imperial. 1932 gab es für einen sowjetischen Tscherwonez 21,60 Reichsmark. Wikipedia: Rubel...