„Staaten kommen und gehen, das Schach bleibt!“
Interview mit Fernschachpapst Fritz Baumbauch zum 75.
Geburtstag
Von Dagobert Kohlmeyer
Er ist die Fernschachlegende schlechthin,
seine Meriten in dieser Disziplin sehr eindrucksvoll: Fritz Baumbach wurde u.a.
Weltmeister, Vizeweltmeister und zweimal Olympiasieger. Zudem ist der Berliner
seit 1993 Präsident des Deutschen Fernschachbundes. Der promovierte Chemiker,
Schachkolumnist und Buchautor arbeitet noch immer in seinem Beruf als
Patentanwalt. Baumbach war 1970 auch DDR-Meister im Nahschach und vertrat sein
Land damals bei der Schacholympiade in Siegen. Unser Berlin-Reporter Dagobert
Kohlmeyer sprach mit dem Jubilar, der heute 75 Jahre alt wird.
Was ist der Vorteil am Fernschach?
Man hat genügend Zeit, eine Stellung auf dem
Brett gründlich, fast wissenschaftlich zu untersuchen.
Lange gab es die Postkarte, heute
werden die Züge gemailt. Wurde die Bedenkzeit geändert?
Ja. Früher hatte man im Schnitt drei Tage
pro Zug. Heute sind es fünf, weil die Übertragung so schnell geht. Es gibt jetzt
keine Postlaufzeit mehr, die wir auch zum Nachdenken über das Spiel nutzen
konnten.
Welche Bedeutung hatte das Nahschach
in deiner Karriere?
Um das Jahr 1970 herum spielte es die erste
Geige. Ich wurde damals DDR-Meister und spielte wenige Monate darauf auch bei
der Schacholympiade in Siegen. Meine besten Ergebnisse aber hatte ich im
Fernschach.
Was waren deine größten Erfolge?
Ganz oben steht der WM-Titel im Einzel 1988.
Dann kommen die Olympiamedaillen: zweimal Gold und einmal Bronze. Bei der 13.
Fernschacholympiade, wo Deutschland gewann, habe ich am ersten Brett das beste
Resultat erzielt.
Deine längste Partie dauerte…?
Fünf Jahre und elf Tage. Mein Gegner war der
Argentinier Pablo Buj. Zum Schluss ordnete der Schiedsrichter an, die Züge per
Telegramm zu übermitteln. Nachdem das Spiel remis endete, war ich 11.
Fernschachweltmeister.
Welches war dein wichtigstes Spiel?
Im gleichen WM-Turnier gegen Gennadi Nesis
(UdSSR). Ich gewann und verwies ihn dadurch auf Rang 2. Diese Partie verursachte
mir jedoch eine Menge Aufregung.
Was war der Grund?
Ich warf meine Antwortkarte mit dem 13. Zug
in den Briefkasten, aber nachts kamen mir Zweifel, weil ich ein mögliches
Figurenopfer meines Gegners nicht berechnet hatte. Was passiert, wenn mein
Gegner jetzt seinen Springer für zwei Bauern gibt? Morgens passte ich den
Briefträger ab und bat ihn, mir die Karte nochmal herauszugeben. Er war so nett
tat es (ohne „Bestechung“, die ich anzubieten bereit war), und ich konnte meinen
Zug nochmal überdenken.
Ändertest du deine Meinung?
Nein, der Bauernvorstoß 13. e5 erwies sich
als richtig. Ich blieb dabei, die Karte ging nur ein paar Tage später auf die
Reise.
Welches war dein kuriosestes Erlebnis
beim Fernschach?
Im Jahre 1995 erhielt die DDR-Mannschaft
Bronze für eine Olympiade, die acht Jahre zuvor begonnen hatte! Schuld waren die
langen Postlaufzeiten, vor allem mit den Russen. Sieger wurde die Sowjetunion
vor England und uns. Die CSSR war Vierter. Drei dieser Länder existierten zu dem
Zeitpunkt ja gar nicht mehr. Das war schon ein Kuriosum der Sportgeschichte. Ich
sage gern dazu: „Staaten kommen und gehen, aber das Schach bleibt.“
Diese Medaille wurde ja sogar eine
Zeitlang in einem Museum gezeigt…
Vor der Schacholympiade in Dresden kam man
auf die Idee, diese letzte Medaille des DDR-Sports sei ein tolles
Ausstellungsstück. Und so hat das Postmuseum der Elbestadt die Plakette bei mir
ausgeliehen. Ich habe sie gern zur Verfügung gestellt. Fernschach und Post haben
ja eine direkte Verbindung.
Du bist jetzt 75 Jahre und noch immer
nicht schachmüde?
Nein. Natürlich wäre ich gern etwas jünger.
Aber solange ich schachliche Erfolge habe, ist es okay. Ich spiele jetzt weniger
Turniere, doch immer noch auf höchstem Niveau. Derzeit läuft das Finale der 16.
Fernschacholympiade. Dort bin ich wieder das Spitzenbrett. DSB-Präsident Robert
von Weizsäcker ist auch in unserem Team.
Seit Jahren bist du auch Präsident des
Deutschen Fernschachbundes. Wie lange noch?
Bis zum Ende der Wahlperiode. Sie endet
2012. Dann lege ich das Amt, welches auch viel Zeit kostet, in jüngere Hände.
Wie viele Fernschachspieler gibt es in
Deutschland?
Nur etwa 2 500. Ihre Zahl geht leider
zurück, weil im Computerzeitalter die meisten elektronische Schachprogramme
nutzen. Aber viele Fernschachspieler wollen nicht gegen einen Rechner spielen.
Das Duell Mann gegen Mann war schon etwas anderes.
Trauerst du den Zeiten der
Schneckenpost hinterher?
In gewisser Weise, weil man interessante
Kontakte knüpfen konnte. Wir sahen die Karte, die Handschrift und in welcher
Stadt der Mensch wohnt. Bei einer E-Mail erkennt man es nicht mehr. Die Sache
ist unpersönlicher, doch auf der anderen Seite bequemer. Ein Mausklick, und der
Zug geht auf die Reise.
Du arbeitest auch immer noch als
Patentanwalt. Warum?
Weil es mir große Freude macht. In nächster
Zeit will ich mein Arbeitspensum aber schrittweise reduzieren und langsam
abtrainieren wie ein Leistungssportler. Ganz aufgeben möchte ich diese
interessante Tätigkeit jedoch nicht.
Was rätst du der jüngeren Generation?
Will man Erfolg haben, sollte man so früh
wie möglich mit dem Schach zu beginnen. Im Nahschach gibt es heute schon
13-jährige Großmeister. In dem Alter habe ich erst angefangen zu spielen. Das
war für das harte Wettkampfschach zu spät. Für das Fernschach aber früh genug,
wie meine Erfolge zeigen. Da steigen die meisten Leute im Schnitt erst mit etwa
20 Jahren ein. Auch dort muss man viel lernen, vor allem sind Geduld, gründliche
Analyse und Präzision gefragt.
Wie viele Partien hast du im Leben
gespielt?
Grob geschätzt etwa 1.000 Fernpartien und
2.000 Nahschachpartien. Leider sind jedoch nicht alle erhalten geblieben.
Wie wird der Geburtstag gefeiert?
Vormittags mit meinen Kollegen im Büro, wo
ich ja noch arbeite. Am Abend mit meiner großen Familie. Zwei meiner fünf
Kinder, die außerhalb Berlins wohnen, kommen erst am Samstag.
Alles Gute zum Jubiläum und weitere
Schacherfolge, lieber Fritz!
Der wichtigste Sieg
Die im Interview erwähnte Partie gegen den
Leningrader Gennadi Nesis war die wichtigste in Fritz Baumbachs Laufbahn, denn
dieser wertvolle Punkt sicherte ihm den WM-Titel 1988.
F. Baumbach – G. Nesis
11. Fernschach-WM
Grünfeld-Indisch D86
Anmerkungen: Fritz Baumbach
1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 d5 4.cxd5 Sxd5 5.e4 Sxc3 6.bxc3 Lg7
7.Lc4 0–0 8.Se2 Dd7 Eine Spezialität von Nesis. Er
will auch den weißfeldrigen Läufer fianchettieren, ohne einen Angriff am
Königsflügel befürchten zu müssen. Sofort 8. … b6 würde sehr stark mit 9. h4!
beantwortet. Jetzt ist das wegen 9. … Dg4 nicht spielbar.
9.0-0 b6 10.Le3 Lb7 11.f3 Sc6 12.Lb5 Dd6 (damals
eine Neuerung) 13.e5
Hier warf ich meine Antwort in den Briefkasten, ohne das mögliche
Opfer 13. … Sxe5 berücksichtig zu haben, das auf den ersten Blick sehr gut
aussieht. Später stellte sich heraus, dass der Partiezug doch gut ist. Nesis
verzichtete auf das Opfer.
13. ... Dd5 14.Tb1 e6 15.Dd2 Sa5 16.Lg5!
Ungeheuer stark. Es droht nicht nur 17. Sf4 mit Damengewinn
mitten auf dem Brett, sondern auch 17. Df4 mit vollständiger Lähmung des
Königsflügels auf den schwarzen Feldern. Die folgenden Züge sind erzwungen.
16. ... c6 17.Ld3 f6 18.exf6 Lxf6 19.Lxf6 Txf6 20.Sg3 Taf8
21.Tfe1 c5 22.Se4 Tf5 23.dxc5 Dd8 24.cxb6 Lxe4 25.fxe4 Tf2 26.Te2 T2f7 27.De3
8Natürlich nicht 27. bxa7?? wegen 27. … Db6+!)
27. … axb6 28.Tee1 Td7 29.Le2 Td6 30.Ted1 Txd1+ 31.Txd1 Dc7
32.Tb1 Tb8 33.Tb5 Sc4 34.Dd4 Td8 35.Df6 Te8 36.h3 Se3 37.De5! Endlich kann
Weiß den Damentausch erreichen und in ein günstiges Endspiel einlenken.
37. … Dd8 38.Dd4 Dxd4 39.cxd4 Sc2 40.Txb6 Sxd4
41.La6!
Sperrt die c-Linie für den schwarzen Turm und ist viel besser als
41. Lc4 Tc8! 42. Lxe6+ Sxe6 43. Txe6 Ta8, wonach Schwarz Remischancen hat.
41. ... Kg7 42.a4 Kf6 43.Lb7 Te7 44.a5 Tc7
45.a6 Tc1+ 46.Kf2 Ta1 47.Ke3 Ke5 48.Kd3 Ta4 49.Kc3 Se2+ 50.Kb3 Ta1 51.Tb4 Sd4+
52.Kc3 Ta3+ 53.Kc4 Sc2
Auch auf der fünften Reihe ließ sich keine Sperre errichten: 53.
… Ta5 54. Tb2, und Schwarz befindet sich im Zugzwang. 54.Tb3 Kd6 55.Txa3
Sxa3+ 56.Kb4
Schwarz gab auf wegen 56. … Sc2+ 57. Kb3! Sd4+ 58. Kc4. Im Sommer
1987, nach fast viereinhalb Jahren Spielzeit, hatte ich diesen wichtigen Punkt
auf dem Konto.
Die beste Partie
Hier das schöne Spiel von Fritz Baumbach
gegen den Österreicher Peter Valent. „Vielleicht die beste Partie in meiner
Karriere, weil dort strategische und taktische Motive auf glückliche Weise
miteinander verbunden sind“, sagt der Jubilar.
F. Baumbach – P. Valent
13. Fernschacholympiade
Damenindisch E12
Anmerkungen: Fritz Baumbach
1.d4 Sf6
2.c4 e6 3.Sf3 b6 4.Sc3 Lb7 5.a3 d5 6.cxd5 Sxd5 7.Dc2 Sxc3 8.bxc3 Le7 9.e4 0–0
10.Ld3 c5 11.0-0 Dc8 12.De2 La6 13.Td1 Lxd3 14.Txd3 Sd7 15.e5 cxd4
In der Partie Radjabow - Anand (Linares 2003) folgte 15. ... Dc6
16. Lg5 Tfe8 17. Lxe7 Txe7 18. Sg5 cxd4 19. cxd4 f6 20. exf6 Sxf6 mit späterem
Remis. 16. cxd4 Te8 17. Lg5
17. … Da6?!
Mit diesem Zug geht Schwarz eigene Wege. Üblich sind
an dieser Stelle 17. ... Sf8 oder 17. ... Lf8. Nach dem Textzug ist die Dame zu
weit vom Kampfgeschehen entfernt. Mein Gegner räumte den Fehler nach der Partie
ein.
18. Lxe7 Txe7 19. Tad1 Sf8
Ich habe diese Stellung einige Wochen lang analysiert. Es ist
offensichtlich, dass Weiß am Königsflügel angreifen muss, aber wie soll es
weiter gehen? Auf meiner Postkarte hatte ich schon 20. h4 notiert, aber dann
gefiel mir die Antwort nicht wegen der Variante 20. h4 Td8
(20. ... Tc8 21.
Sg5 Tec7 22. Se4)
21. De3 Ted7 22. h5 h6! (Wenn der weiße
h-Bauer einen Schritt weiter nach vorn kommt, ist Schwarz ernsthaft in Gefahr).
Später prüfte ich 20. De3. Nach 20. … Tc8 21. Sg5 Tec7
22. Se4 Tc1 hat Schwarz sein Ziel erreicht und kann einen Turm tauschen. Meine
dritte Analyse schließlich erbrachte den stärksten Zug, ein Springermanöver.
20. Sg5! Tc7 21. Df3 Td8 22. h4 h6 23. Se4 Sg6 24. h5
Se7
25. g4!
Weiß startet den entscheidenden Angriff.
25. ... Db7 26. g5 hxg5
Hier war es
extrem schwer, sich zwischen den beiden guten Zügen d5 und Dg4 zu entscheiden.
Es kribbelte mir in den Fingern, 27. d5 auszuführen, weil der d-Bauer nur durch
den Springer geschlagen werden kann: 27. d5 Sxd5
(27. ... Txd5
28. Sxg5;
27. ...
exd5 28. Sd6)
28. Sxg5 Dc6 29. De4 Dc4 30. Dh7+ Kf8 31. Se4 Ke7 32. Tf3 Sf4 33.
Te1 (33.
Txd8? Df1+! und Matt.)
33. ... Se2+ 34. Kg2 Tf8 35. Te3 Tcc8 36. Sd6, und Weiß gewinnt.
Weil ich einige Konterchancen für meinen Gegner entdeckt hatte, wählte ich die
sichere Fortsetzung.
27. Dg4 Tc4 Die beste Antwort. Schwarz gibt die Qualität und stellt seine
Figuren auf aktive Positionen. Hier war es überhaupt noch nicht abzusehen, dass
Weiß in nur zehn Zügen auf der Gewinnerstraße sein wird.
28. Sd6 Txd6
29. exd6 Sf5 30. Dxg5 Dd7 Jetzt gibt es für Weiß zwei
fundamentale Wege: 31. Df4 oder 31. Tc1. Das sind menschliche Züge. Der Computer
hingegen empfahl einen anderen, und für diesen entschied ich mich.
31. h6 f6 32. Dg6 Sxh6 33. Th3 Sf7 Mit
großer Freude fischte ich die Karte mit dieser Antwort aus dem Briefkasten, weil
die nächsten zehn Züge bereits in meinem Analysebuch standen. Die Alternative
war 33. … Sf5. Danach plante ich 34. d5 e5 35. Dh7+ Kf7 36. Kh2 mit dem
praktisch unparierbaren 37. Tg1, zum Beispiel 36. … Tf4 37. Tc1 Sxd6 38. Thc3
Se8 39. Dh5+ Ke7 40. Tc8 oder 36. … e4 37. Dh5+ Kf8 38. Tg1 Sxd6 39. Thg3, und
Weiß gewinnt in beiden Fällen.
34. Dh7+ Kf8
35. Tg3 Sg5 36. Dd3 b5 37. f4 Sf7 38. Dh7 g5 39. fxg5 Dxd6 40. Tg4 Dxa3 41. g6
De3+ 42. Kh1 Df4 (Auf 42. ... Df3+ folgt 43. Tg2 Dxd1+
44. Kh2; Oder 42. ... Dh6+ 43. Th4 Dxh7 44. gxh7.) 43. Dxf7 matt.